Mitteleuropa zwischen NS-Vergleichen und Erinnerungslücken

An der südöstlichen Peripherie Europas wird zunehmend autoritäre, repressive und demokratieverachtende Politik betrieben. Gleichzeitig werden von dort überaus leichtfertig und unreflektiert NS-Vorwürfe gegen vergleichsweise weit entwickelte europäische Demokratien geschleudert.

Doch trotz der selbst attestierten vorbildlichen „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland und Österreich gibt es immer noch Erinnerungsdefizite, die längst ausgeräumt hätten werden müssen. Nach zahlreichen Menschen, die vor etwa acht Jahrzehnten in einem Naheverhältnis zum NS-Regime gestanden waren, sind heute immer noch Straßen in Wien, Salzburg, München und Hamburg sowie in zahlreichen weiteren Städten benannt. Einige dieser Straßen erhalten gegenwärtig erklärende Zusatztafeln, doch solche Geschichtskosmetik reicht nicht aus.

Viele renommierte Persönlichkeiten machten zur Zeit des Nationalsozialismus zum Teil glänzende Karrieren; in Wissenschaft und Kunst, in Wirtschaft und Politik. Den Jahren der nach Kriegsende nur zögerlichen Aufarbeitung der NS-Geschichte folgten Jahrzehnte der umfassenden Forschung und Dokumentation.

Erinnerungsdefizite bestehen jedoch heute immer noch im Umgang mit jenen Straßennamen, deren Namensgeber teils NSDAP-Mitglieder waren oder sich in NSDAP-Vorfeldorganisationen engagiert hatten, viele sympathisierten offen mit der rassistischen NS-Diktatur, teils aus innerer Überzeugung, teils aus Karrierestreben, indem sie sich dem Regime geradezu andienten.

Auf der „falschen Seite der Geschichte“

Jenen, die damals auf der „falschen Seite der Geschichte“ standen, sollen ihre wissenschaftlichen, künstlerischen oder sonstigen Fähigkeiten und Leistungen keinesfalls abgesprochen oder weggenommen werden. Doch sie befanden sich nicht aufseiten der Millionen NS-Opfer, welche in den Konzentrationslagern jener Zeit ermordet, vergast, erschossen oder durch bewusste Unterernährung getötet wurden. Sie waren vielfach Mitläufer in einem Unrechtsregime, das Millionen Juden, hunderttausende Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, homosexuelle Männer und Frauen sowie politisch Andersdenkende auf industrielle Weise systematisch vernichtet hatte.

Doch Ehrungen, die Städte ausgewählten Persönlichkeiten durch die Benennung von Straßen und Plätzen zukommen lassen, meinen immer den ganzen Menschen und sein Leben.

Nicht jeder eignet sich zum Helden, die Zwänge des NS-Alltags waren schrecklich; doch letztlich konnte in einem gewissen, minimalen Freiraum fast jeder Mensch eine Entscheidung treffen: die Entscheidung des eigenen Verhaltens zu diesem unmenschlichen, mörderischen Regime.

Geschichtskosmetik reicht nicht

Wo sind die vielen Straßen, die der Opfer der NS-Diktatur gedenken? Etwa der jüdischen Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Künstlerinnen und Künstler und Persönlichkeiten, die Wien in der Ersten Republik mitprägten? Die zur kulturellen Identität Wiens beitrugen und zwischen 1938 und 1945 verfolgt, deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet wurden? Einstweilen behalten die NS-Mitläufer ihre Straßennamen und Politiker enthüllen gegenwärtig zumeist nur Zusatztafeln.

Indes machen die Opfer der NS-Diktatur das, was sie seit nunmehr etwa 80 Jahren tun: sie „stören“ die Kontinuität dieses kommunalpolitischen Ablaufs nicht. Sie werden sich auch weiterhin dazu ruhig verhalten, dass Straßen nicht nach ihnen, sondern nach „den Anderen“ benannt sind. Sie werden auch künftig nicht persönlich ihr Recht einmahnen können, dass ihrer gedacht werde. Sie werden nicht aufbegehren, sich nicht in Gegenrede üben, dass so viele von denen, die in der NS-Zeit geschickt glänzende Karrieren machten, die Namensgeber bleiben. Nicht einmal dagegen, dass einige von diesen erst in den 1990er- und 2000er-Jahren (!) Straßennamen neu verliehen bekamen.

Dreifach vergessen

Wo sind die Straßen in Wien, die nach Helene Taussig (Malerin), Adele Jellinek (Schriftstellerin), Ilse Pisk (Fotografin), Friedl Dicker-Brandeis (Architektin), Malva Schalek (Malerin), Ruth Maier (Schriftstellerin), Paula Heller-Santa (Opernsängerin) oder Martha Geiringer und Leonore Brecher (Wissenschafterinnen) benannt sind? Sie alle hatten in dieser Stadt ursprünglich eine Zukunft, die sie mitgestalten und nicht nur „ableben“ wollten. Nicht nur wie eine „Schraube von einer Maschine abfallen“, wie Ruth Maier dies formulierte. Dass sie mit Zügen aus der Stadt deportiert werden würden, um in Konzentrationslagern ermordet zu werden, hätten alle diese Frauen für ihr Leben kategorisch ausgeschlossen. Dennoch war das ihr Schicksal.

Und heute? Nur wenig erinnert an sie. Sie bleiben dreifach vergessen: als NS-Opfer, als Künstlerinnen und Wissenschafterinnen und auch als Frauen. Die ehemaligen NSDAP-Mitglieder und NS-Mitläufer und viele Karrieristen der Zeit jedoch bleiben in Straßennamen präsent und geehrt. Welches Narrativ erzeugen wir damit heute, im Zeitalter des aufkeimenden Populismus und der zunehmenden Intoleranz?

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Die Malerin Konstanze Sailer gründete 2015 die digitale Kunstinitiative Memory Gaps ::: Erinnerungslücken, die in monatlichen Ausstellungen sämtlicher NS-Opfergruppen, insbesondere ermordeter jüdischer Künstlerinnen, gedenkt.

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Matt Elger

Matt Elger bewertete diesen Eintrag 20.03.2017 19:01:09

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