Als würde die Zeit still stehen - und doch: Kulturelle Lehrer*innen-Bildung im Schatten des bayrisch-kathjolischen Weltkulturerbes

Waren Sie schon einmal in Bamberg? Die Stadt Reise wert; vor allem für diejenigen, die einen unmittelbaren Eindruck von der historisch gewachsenen Ausdruckskraft des bayrischen Katholizismus bekommen möchten. Alte Kirchen und Residenzen scheinbar überall; auf allen sieben Hügeln (nicht nur in Rom!) architektonische Repräsentationen einer engen Verknüpfung von geistiger und weltlicher Macht, die die Besucher*innen von allen Seiten umstellen. Ihre scheinbar Gott gegebene äußerlichen Erscheinungsformen (die Kirchen sind in Form eines, die ganze Stadt übergreifenden Christuskreuzes angeordnet) machen die menschliche Nichtigkeit nur zu deutlich bewusst: Da ist etwas Größeres in Stein gemeißelt, das bereits viele vor Dir überdauert hat und sich wohl auch noch über viele nach Dir erheben wird.

Dass das so bleibt, wurden weite Teile der Stadt 1993 zum Weltkulturerbe erklärt (https://welterbe.bamberg.de/de/) Damit soll der „außergewöhnliche und universelle Wert“ dieses städtischen Ensembles zu schützen. Beim Spaziergang zwischen den dräuenden Mauern überkommt mich das Gefühl der Ambivalenz, wenn diese Form der Stilllegung von Zeit für den Tagestouristen durchaus faszinierend wirkt; die architektonische Repräsentation dieser bayrisch-katholischen Version eines „universellen Werteverständnisses“ ist in der Tat beeindruckend. Aber einlassen auf diese Form der Musealisierung göttlichen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis kann ich mich vor allem deshalb, weil ich am nächsten Tag wieder in ein anderes architektonisches Ambiente zurückkehren kann, dass nicht nur ewige Vergangenheit sondern auch Ansprüche an die Zukunft auszustrahlen vermag. Was aber passiert mit den Menschen, die in Bamberg leben und unter dem Dauereindruck einer solchen architektonischen Mächtigkeit stehen, gegen die sie sich nicht zu verwehren vermögen?

Kulturelle Erbe-Zuschreibungen als Verfestigung eines konservativen Herrschaftsanspruchs?

Und also hadere ich einmal mehr mit diesen kulturellen Welterbe-Zuschreibungen, die nicht nur die Bausubstanz schützen sondern mindestens ebenso sehr eine politische Haltung, angesichts dessen jeglicher politischer Veränderungswille auf Granit beißt. Dass die Stadt traditionell von der CSU dominiert wird, versteht sich in diesem Zusammenhang fast schon von selbst.

Im Schatten dieses Ambientes der Vergegenwärtigung von Vergangenheit hat sich die Universität der Stadt eingefügt. Es ist sicher kein Zufall, dass die theologischen Fakultäten traditionell einen besonders großen Raum einnehmen. Um deren zentralen Anliegen haben sich aber auch anverwandte Gebiete der Human- und Geisteswissenschaften, etwa der Erziehungswissenschaften, etablieren können, die offenbar die in einem solchen Milieu gut gedeihen können.

Kulturelle Lehrer*innen-Bildung als Thema der Erziehungswissenschaften

Im Zentrum für Lehrerinnen-Bildung des Instituts für Erziehungswissenschaften konnte zuletzt ein Projekt der kulturellen Lehrer*innen-Bildung auf den Weg gebracht werden (https://www.uni-bamberg.de/kulturlebi/), das sich in besonderer Weise mit der Multiplikator*innen-Rolle von Lehrer*innen beschäftigen möchte. Dazu fand Mitte März eine Tagung (https://www.uni-bamberg.de/kllb/programm/) statt, die sich zum Ziel gesetzt hat, den aktuellen Forschungsstand zum Profil von Lehrer*innen als „Akteure bei der Vermittlung von kulturellem Wissen und der Ermöglichung kultureller Teilhabe“ zu erheben und über die etablierten Fachgrenzen hinweg zu diskutieren. Dabei war der Termin möglicher Weise nicht optimal abgestimmt, wenn zur selben Zeit der Rat für kulturelle Bildung in Münster eine Tagung zum Stand der Forschung im Bereich der kulturellen Bildung (https://www.uni-muenster.de/Rektorat/exec/termine.php?layout=standard-detail&id=27293) ausrichtete und damit eine ganz ähnliche Zielgruppe ansprach.

Die ersten Beiträge der Tagung, die ich als Referent besuchen konnte, vermittelten mir den Eindruck, dass Kulturelle Bildung als ein „Containerbegriff“ nach wie vor wenig inhaltliche Orientierung bietet. Die Kolleg*innen präsentierten weitgehend unvermittelt ihre je spezifischen fachdidaktischen Zugänge, ob im Bereich der Musik, der visuellen Künste oder der Literatur und versuchten, diese kulturwissenschaftlich zu begründen und zu legitimieren. Gerade bei letzteren Versuchen fiel mir auf, wie sehr sich die wesentlichen Argumentationslinien ungebrochen auf die Exegese kanonisierter Texte mitteleuropäischer Provenienz beschränkten. Auf diese Weise blieben all die kulturtheoretischen Konzepte, deren lebensweltliche Aspekte in den parallel aber unvermittelt daneben stattfindenden Panels zu Inter- und Transkultur verhandelt wurden, weitgehend ausgeklammert. Besonders ärgerlich fand ich die fast schon stolz vor sich hergetragene Weigerung einzelner Sprecher*innen, sich auf ihr Publikum einzulassen. Bar jeder pädagogischen Vermittlungskompetenz legten sie ein Maß an Selbstdarstellung an den Tag, die jede inhaltliche Auseinandersetzung bei den Zuhörer*innen verunmöglichte. Was da vermittelt wurde, war keine Kulturelle Bildung als neue Qualität der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden; statt dessen zeigten sich nochmals die Umrisse einer Einbahnstraße ins nahe Nürnberg, wo angeblich die Trichter-Pädagogik erfunden worden ist. Da half es wenig, wenn die Vorträge das Wort „Humor“ im Titel führten.

Insgesamt kam mir der Verdacht, der Terminus Kulturelle Bildung würde in diesen Settings in erster Linie als eine künstliche Klammer verhandelt, um im aktuellen deutschen Hype leichter Projektmittel zu akquirieren, ansonsten aber die traditionellen Disziplinengrenzen aufrecht zu erhalten. Vor diesem Hintergrund blieben alle Ansätze, die Kulturelle Bildung als ein neues Bildungskonzept im Rahmen der aktuellen Schulentwicklung bzw. als eine zeitgenmäße schülerzentrierten pädagogische Haltung weitgehend undiskutiert. Die Chancen der schulischen Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur als eine zentrale Querschnittsmaterie (Stichworte „kulturelles Schulprofil“ oder „Kulturschule“) zumindest wurden in diesen Settings bestenfalls peripher einer kritischen Untersuchung unterzogen.

Auch am Wiener Institut für Lehrerinnen-Bildung wird Kulturelle Bildung Thema

Erfreulich für mich war die Begegnung mit Kollegin Julia Köhler, die am Wiener Institut für Lehrerinnen-Bildung Lehrveranstaltungen zur Praxisforschung im Bereich der kulturellen Bildung anbietet (https://lehrerinnenbildung.univie.ac.at/arbeitsbereiche/bildungswissenschaften/team/koehler-julia/) und dabei auf der Suche nach zeitgemäßen Lehrerinnen-Profilen die engen Fach- aber auch künstlerischen Genre-Grenzen durchbricht.

Im Gegensatz zu den Rechtfertigungsversuchen der traditionellen Fachvertretungen fand ich die integrativen Ausführungen von Johannes Bilstein, Erziehungswissenschafter an der Folkwang Universität der Künste und Mitglied des Rates für Kulturelle Bildung sehr erhellend und motivierend. Nicht nur, dass er sich nochmals dran machte, in anregender Weise einen für Schule ergiebigen Kultur-Begriff herzuleiten. Es gelang ihm auch, ein Konzept der kulturellen Bildung jenseits der engen Fachdisziplinen zu entwerfen.

Kulturelle Bildung als Versöhnungsangebot zwischen musischer Bildung und ästhetischer Erziehung

Ein wichtiges Argument war ihm dabei die Aufhebung des traditionellen Widerspruches zwischen musischer und ästhetischer Erziehung. Gerade in der Weltkulturerbe-Stadt Bamberg scheint es naheliegend, noch einmal auf die Tradition der musischen Bildung als Versuch der Wiedergewinnung einer vermeintlich besseren, auf Ganzheitlichkeit und Einheitlichkeit gerichteten Vergangenheit zu verweisen. Gegen eine solche Form der vergangenheitsverklärenden „Bestätigungspädagogik“ hätten sich seit den 1960er Jahren explizit auf Zeitgenossenschaft gerichtete Konzepte der visuellen Kommunikation gewandt. Ihren Repräsentant*innen sei es ein Anliegen gewesen, vor allem den politisch-utopischen Gehalt ästhetischer Erziehung in den Vordergrund zu rücken. Daraus habe sich eine Art Ideal-Konkurrenz zwischen einer eher traditionalistisch-kulturkritisch ausgerichteten musischen Erziehung auf der einen Seite und einer emanzipatorischen, an Fortschritt und Modernisierung orientierten ästhetischen Erziehung auf der anderen Seite ergeben. Diese bislang weitgehend unversöhnlichen Gegensätze – so die These Bilsteins – konnten unter dem Dach einer freilich nur schwach spezifizierten kulturellen Bildung ihren Frieden schließen. Auf der Grundlage eines „weiten Kulturbegriffs“ sei es möglich geworden, sich auf einen Minimalkonsens zu einigen, der darin besteht, „Kinder und Jugendliche bei der Ausbildung von im weitesten Sinn künstlerischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten zu unterstützen“.

Was Kulturelle Bildung zu leisten vermag

In einem abschließenden Kapitel machte sich Bilstein noch auf die Suche nach Begründungsmustern zugunsten Kultureller Bildung, wonach Schüler*innen „etwas“ lernen würden, es ihnen dabei besser ginge, sie Freude empfinden können und sie dazu noch „durchgerüttelt“ werden. Gerade letzteres wäre für ihn eine entscheidende Voraussetzung, um den zunehmend rasanten Veränderungen standhalten, begreifen und konstruktiv mitgestalten zu können.

Zugleich warnte er vor eine „utopischen Überfrachtung“ eines kulturellen Bildungsangebotes, deren Vertreter*innen sich nach wie vor am Rande der traditionellen Schulcurricula wüssten und mit dem Versprechen eines kompensatorischen Angebotes hofften, ihre Bedeutung erhöhen zu können. Gegen eine solch überzogene Hoffnungsproduktion plädierte er vehement für den Ausbau mannigfacher Kooperationsformen sowohl innerhalb der Schule als auch im Zusammenwirken mit außerschulischen Bildungspartnern. Diese werden – und Evaluierungen von EDUCULT bestätigen das – nur allzu oft als Zumutungen erfahren und am Ende doch als eine wesentliche Bereicherung der gemeinsamen pädagogischen Bemühungen erfahren.

Der Weg von Kultureller zu Interkultureller Bildung ist noch weit

Es versteht sich fast von selbst, dass auch bei dieser Tagung der wachsenden ethnisch-kulturellen Heterogenität ein besonderer Stellenwert eingeräumt wurde. Und doch fiel auf, dass diese Thematik bei der Behandlung der einzelnen fachdidaktischen Zugänge keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Eine wohltuende Ausnahme bildete Judith Leiß von der Universität zu Köln, die sich mit der Suche nach „Balance zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung als Orientierungsnorm für die Inszenierung kulturellen Lernens im inklusiven Literaturunterrichts“ beschäftigte. Die Quintessenz ihrer Erfahrungen bestand darin, aus pädagogischer Sicht auf immer wieder neue Weise zu entscheiden, ob Aspekte von Diversität im Klassenzimmer „dramatisiert“ werden sollen (etwa, weil sie gemeinsame Lernprozesse stören) oder gerade nicht. Dabei würden sich klug ausgewählte literarische Texte eignen, die Ebenen der Auseinandersetzungen zu verschieben und so auf anschauliche Weise handhabbar zu machen. Umgekehrt könne Literatur aber auch dazu „benutzt“ werden, zur „Entdramatisierung“ beizutragen, wenn es darum geht, Unterschiedlichkeit als Normalfall zu behandeln.

Antirassistische, interkulturelle oder Migrationspädagogik und die Gefahr der Maskierung sozialer Differenzen

Um Fragen der Diversität ging es auch im Beitrag von Mishela Ivanova von der Universität Innsbruck. Sie stellte in ihrer Präsentation unterschiedliche Formen der interkulturellen Pädagogik zur Diskussion. Ausgehend von ihrer Publikation „Umgang der Migrationsanderen mit rassistischen Zugehörigkeitsordnungen - Strategien, Wirkungsweisen und Implikationen für die Bildungsarbeit“ versuchte sie Antworten auf die Frage: „Wie gehen Menschen, die aufgrund natio-ethno-kultureller Zuordnungen eine Markierung als „Andere“ erfahren, mit der rassistischen Verortung um?“

Sie versuchte dabei eine Kategorisierung unterschiedlicher pädagogischer Zugänge, die für sie von antirassistischer Pädagogik über interkulturelle Pädagogik bis zur Migrationspädagogik reichen. Auffallend war im Verlauf der Diskussion vor allem der Umstand, dass die Vertreter*innen kunstpädagogischer Fächer der Thematik ein ganz anderes Selbstverständnis gegenüberbringen als Migrationsforscher*innen: Nicht nur Migrante sondern auch „die“ aus der Kunstecke – so der Tenor - reden „anders“, war eine der zentralen Schlussfolgerungen.

Faszinierend aber war es, das zuvor erwähnte pädagogische Modell der „Dramatisierung“ und „Entdramatisierung“ auf die Frage des Umgangs mit kultureller Heterogenität zu übertragen. Immerhin zeigen sich in Bezug auf unterschiedliche soziale Zugehörigkeiten unterschiedlich große Bedürfnisse, Heterogenität zu „dramatisieren“ oder eben nicht. So haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von Eliteschulen etabliert (viele von ihnen privat betrieben), die kulturelle Diversität im Anspruch von Internationalität als Teil ihres Profils verkaufen und wenig Bedarf sehen, diese zu problematisieren. Umgekehrt sind es vor allem Schulen in sozialen Brennpunkten und „mit einem hohen Ausländeranteil“, in denen kulturelle Diversität als zentrales Hindernis für einen guten Unterricht angesehen werden.

Mit diesen unterschiedlichen schulischen Zugängen wird jedenfalls für mich unmittelbar deutlich, wie sehr sich mittlerweile ethnisch-kulturelle und soziale Zugehörigkeiten überlagern bzw. Zuschreibungen kultureller Differenzen dafür herhalten müssen, um soziale Differenzen zu maskieren bzw. als natürlich erscheinen zu lassen. Und wir drohen einmal mehr, den Populisten auf den Leim zu gehen, an Schulen, die vorrangig von sozial Schwachen frequentiert werden, das Thema Migration zu dramatisieren, während der Einbezug kultureller Unterschiede in Schulen an „guten Standorten“ als Normalfall entdramatisiert werden kann.

Und was bewirken Selbst- und/oder Fremdzuschreibungen von Andersartigkeit im Bamberger Alltag?

Bei meinem anschließenden Spaziergang durch Bambergs Altstadt habe ich in den alten Fachwerkhäusern jede Menge an Kebab-Lokalen, darüber hinaus griechische, italienische oder asiatische Lokale gefunden. Diese Version von Vielfalt hätten sich kulturell-homogenen Bauherren in der Gründungszeit wohl nicht träumen lassen. Gerne hätte ich mehr über ihre Betreiber*innen erfahren, warum sie ausgerechnet in diese Stadt gekommen sind, wie sie von der lokalen Bevölkerung aufgenommen wurden, welche Erfahrungen ihre Kinder in der Schule machen und welche Zukunftserwartungen sie antreibt. Jedenfalls haben sie mir deutlich gemacht, dass hinter den Mauern des ur-bayrisch-katholischen Weltkulturerbes noch ganz andere Lebensentwürfe existieren, viele von ihnen weitab der Erfahrungshorizonte derer, die kulturelle Lehrer*innen-Bildung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Im Sinne dessen, was Johannes Bilstein als Ziele ästhetischer Erziehung in einem Ambiente einer in Stein gefassten musischen Bildung skizziert hat, werden ihre Zukunftsaussichten wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, neue Kooperationsformen mit diesen Inseln des Neuen in einem steinernen Meer des Akten zu entwickeln.

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