„Bildung ist gut, aber keine Lösung“ – Gedanken zu Aladin El-Mafaalanis Streitschrift „Mythos Bildung“

Man kann die Geschichte der letzten 40 Jahre aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen. Unter dem Eindruck zunehmender Zukunftsskepsis dominiert zur Zeit ein Erklärungsmuster rund um eine neoliberale Verfallsgeschichte. Mit dem Überhandnehmen des Finanzkapitalismus seien die Menschen dem Markt preisgegeben worden, der drauf und dran ist, die Idee des Gemeinwesens zu unterminieren. Damit wurden zentrale politische Ziele, die darauf gerichtet waren, möglichst viele Menschen an integrativen sozialstaatlichen Errungenschaften teilhaben zu lassen, geopfert. Politik sollte sich auf die Funktion beschränken, die Gesellschaft unter verschärften Wettbewerbsbedingungen zu organisieren, ungeachtet der damit verbundenen wachsenden sozialen Ungleichheit.

Man kann aber auch der Erzählung des deutschen Erziehungswissenschaftlers Aladin E-Mafaalani folgen, der den umfassenden Transformationsprozess der letzten Jahre als historisch einzigartige Erfolgsgeschichte interpretiert. Für ihn hätte die „Bildungsrevolution“ seit den 1970er Jahren im Zusammenwirken mit vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen dazu geführt, die Herrschaft einer kleinen selbstreferentiellen Elite zu brechen, um sukzessive immer mehr Menschen die Teilhabe am Tisch der Entscheidungen zu ermöglichen. Wir befänden uns am Ausgang eines umfassenden Emanzipationsprozesses, der so viele Menschen wie nie aus ihren bislang unverrückbar erscheinenden Zuschreibungen befreit hat.

Die Krux der Geschichte: Diese im Prinzip so positive Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten und führt zu einer Vielzahl neuer Konflikte. In dem Maß, in dem immer mehr Menschen den Aufstieg geschafft haben und am Verhandlungstisch mitreden wollen, wird es schwieriger, einen für allen nachvollziehbaren Konsens über politische Ziele herzustellen. Politik fühle sich zunehmend überfordert im Versuch, die weit auseinanderdriftenden Interessen zu bündeln und Kompromisse auszuhandeln. Entsprechend geschwächt erscheint ihm das politische Establishment („Altparteien“), das von neuen politischen Bewegungen mit zum Teil völlig konträren Interessenslagen herausgefordert wird. Es bedürfte also neuer Aushandlungsprozesse, auf die ein vielfach fragmentiertes Nebeneinander von Singularitäten (Andreas Reckwitz) nur schlecht vorbereitet erscheint.

Rund um den Tisch der Entscheidungen haben sich nicht nur die Menschen, sondern auch das, was sie dort machen, quasi die Verhandlungs- und Entscheidungsformen selbst, haben sich nachhaltig verändert. Sowohl formal als auch inhaltlich sind die vielen bislang als sakrosankt geltenden Verbindlichkeiten zusammengebrochen. Die Social Media stehen paradigmatisch dafür, dass über alles geredet werden kann, und das zu jeder Zeit. Wie schwer es ist, diese Form einer umfassenden Liberalisierung zu stoppen zeigt sich in den Versuchen, mit dem Anspruch der „Political Correctness“ die bislang geltenden Tabus einer aufgeklärten Gesellschaft der Wenigen (die freilich gerne für alle reden wollten) außer Streit zu stellen. Während es großer Mühen bedarf, mit Hilfe neuer Rechtsvorschriften gegen „Hass im Netz“ zumindest minimale Standards im Umgang miteinander aufrechtzuerhalten, mutieren fortschrittliche Kräfte zu Spiegelbildern eines antiliberalen Populismus, der den Menschen noch einmal vorschreiben möchte, was unter welchen Umständen gesagt und in der Folge auch getan werden darf. Und damit zunehmend in die Defensive gerät.

Der hierarchisch geprägte Zusammenhalt wurde durch Konflikte ersetzt

Das Ergebnis: Es wird alles komplizierter. Die Errungenschaften der letzten Jahre führen zu neuen Konflikten, auf die die repräsentative Demokratie nicht vorbereitet zu sein scheint (die Herausbildung vielfältiger zeitgeistiger neuer Parteien ist davon Ausdruck. Sie passen nicht mehr in das traditionelle Links-Rechts-Schema, um stattdessen Partialinteressen zu artikulieren). Also treten unterschiedlichste Interessen und Meinungen, oft ganz unvermittelt auf die politische Bühne, auf der zu oft unmoderiert aneinander vorbeigeredet wird.

Freilich schaffen es auch in El-Mafaalanis Erzählung nicht alle an den Tisch, an dem sie ihre Stimme erheben können. Trotz der Bildungsexplosion der letzten Jahre (oder gerade deswegen) bleiben Abgehängte oder neu Hinzukommende am Boden sitzen, um dort einen permanenten Risikofaktor darzustellen. Dies auch deshalb, weil sie im Unterschied zur politischen Aufbruchsstimmung der 1970er und 80er Jahre nicht mehr als Opfer einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung verhandelt werden. Im neuen Setting erklärt sich die Mehrzahl derer, die es selbst nach oben geschafft haben, nicht mehr solidarisch mit den Zurückgebliebenen: Sie sind ab sofort selbst schuld an ihrer erniedrigenden Lage. Obwohl ihnen – so die Argumentation – die Türen offen gestanden wären, hätten sie sich einfach nicht ausreichend bemüht. Aus den „Erniedrigten und Ausgebeuteten“ von einst wurden die Verlierer*innen von heute.

„Es gibt nichts Schlimmeres als zuzusehen, wie es ein Großteil vom Boden an den Tisch schafft, aber man selbst bleibt unten hocken.“

Also finden sich an den Rändern Menschen, die von sich selbst sagen (und nur zu oft gesagt bekommen), dass sie keine Chance haben. Sie reagieren einerseits mit Gruppen-, allenfalls auch Bandenbildung, in der Hoffnung, damit noch einmal Haltegriffe in einem haltlosen Leben zu finden. Dies auch deshalb, weil sie von keiner organisierten Interessensvertretung mehr hinreichend repräsentiert werden. Also reagieren sie mit Aggression, um auf diese Weise ihrem Bedürfnis nach gemeinsam gelebter Stärke Ausdruck zu geben.

Geht es nach El-Mafaalani, dann erhält diese neue gesellschaftliche Bruchstelle zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen noch einmal eine ganz besondere Brisanz durch eine historisch einmalige Stimmungslage, die einer Elterngeneration zunehmend den Glauben nimmt, ihren Kindern würde es einmal besser gehen. Ganz im Gegenteil, sie gehen davon aus, dass es ihnen schlechter gehen könnte als ihnen selbst.

Aus dieser Sichtweise eines umfassenden Empowerments zur Überwindung überkommener Unterdrückungsverhältnisse lassen sich zumindest zwei sehr konträre politische Handlungsanleitungen ableiten. Die eine setzt auf eine neue Professionalisierung repräsentativer Politik, die es auf demokratischer Grundlage noch einmal schafft, aus der neuen vielstimmigen Gemengelage klare Mehrheiten zu destillieren, die auch ein künftiges Regieren erlauben (Dafür steht zur Zeit vor allem das Politikkonzept von Sebastian Kurz, der mit Hilfe von „Message Control“ versucht, sich Ruhe am Tisch der Vielen, die mitreden wollen, zu verschaffen). Bedenklicher agiert da schon die neue Garde autoritärer Führer, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken, wenn es darum geht, den Streit am Tisch zu beenden und ausschließlich die eigene Position für verbindlich zu erklären. Die Konsequenzen dieser politischen Versuche einer mehr oder weniger gewaltsamen Rehomogenisierung, die u.a. in der ungehemmten Bereicherung einer kleinen Clique bestehen, werden in Kauf genommen. Praktische Anwendungen kann man in u.a. Russland, den USA, Brasilien, Ungarn oder der Türkei studieren. In diesen Ländern kehren gerade viele wieder vom Tisch auf die Erde zurück, wo sie – in der Regel mit beträchtlichem sozialem und kulturellem Kapital ausgestattet- von Neuem beginnen müssen, von einer besseren Welt zu träumen. Und irgendwann zu versuchen, sie in die Tat umzusetzen.

Kann zivilgesellschaftliches Engagement an die Stelle repräsentativer Politik treten?

Insgesamt ist El-Mafaalani durchaus politikskeptisch. Er geht nicht mehr davon aus, dass auf Repräsentation beruhende politische Entscheidungsprozesse noch einmal in der Lage sein würden, die anstehenden Probleme befriedigend zu lösen. Er setzt auf eine neue Ära des zivilgesellschaftlichen Engagements, in der von vielen getragene partizipative Entscheidungsmodelle zumindest an die Seite repräsentativer Politik treten (Im Rahmen des Momentum-Kongresses gab es u.a. eine Präsentation zu einem, von der deutschen Bundesregierung beförderten „Hackatrons“, mit dem zumindest technikaffine Teile der Bevölkerung angesichts der Pandemie eingeladen waren, sich an komplexen Problemlösungsstrategien zu beteiligen.

In diese Richtung deuten übrigens auch aktuelle Versuche, Kulturpolitik neu zu fassen und vom traditionellen Top-down-Approach im Rahmen von Cultural Governance Strategien auf eine breitere Involvierung von Menschen ins kulturelle Geschehen zu setzen.

Gestoßen bin ich auf diese Interpretation der gesellschaftlichen Verfasstheit im Rahmen des jüngsten Momentum-Kongresses. Aladin El-Mafaalani stimmte die Teilnehmer*innen mit seiner Key Note auf eine Reihe von Präsentationen und Diskussionen ein, die sich allesamt um das Thema „Republik“ gerankt haben. Im Track zu Öffentlichen Gütern konnte ich selbst einen Beitrag zur aktuellen Krise der Kulturpolitik und was diese für den Kulturbetrieb bedeuten könnte, einbringen.

El-Mafaalani, der bereits 2016 mit seinem Band „Das Integrationsparadox“ für gehörigen Diskussionsstoff gesorgt hatte, hat zuletzt eine Streitschrift „Mythos Bildung – Die ungerechte Gesellschaft, ihre Bildungssystem und seine Zukunft“ herausgebracht, in dem obige Gesellschaftsanalyse die Grundlage bildet.

Bildung ist kein Allheilmittel – Sie löst keine gesellschaftlichen Probleme

Seine zentrale These ist ebenso denkanregend wie frustrierend: In seiner gegenwärtigen Ausgestaltung ist das Bildungssystem weitgehend ungeeignet, den bestehenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten wirksam Einhalt zu gebieten. Ihm zufolge ist „Bildung“ zu einem normativen Konstrukt verkommen, das immer wenig von dem einzulösen vermag, was es verspricht:

“Für welches gesellschaftliches Problem kann Bildung die Lösung sein? Mir fällt tatsächlich kein relevantes Problem ein, für das Bildung eine Lösung sein könnte. Aber erstaunlicher Weise wird Bildung als ein Allheilmittel gesehen. Bildung soll die Lösung für gesellschaftliche Orientierungsprobleme, soziale Spaltung, fehlenden sozialen Zusammenhalt und den Rechtsruck, für Digitalisierung, Armut und die Probleme des Sozialstaates sein und selbst gegen den Klimawandel soll Bildung helfen. So knüpfen sich an die vielfältig füllbare Worthülse “Bildung” unzählige Erwartungen und Anforderungen. Oder genauer ausgedrückt: Immer, wenn man nicht mehr weiter weiß, kommt Bildung ins Spiel. Sie ist Lückenbüßer und Allheilmittel. Und das ist völlig absurd.”

Wenig verwunderlich, dass dieser Befund fürs Erste großes Kopfschütteln hervorrufen muss. Dies betrifft vor allem diejenigen, die z.B. als Lehrer*innen angetreten sind, mit ihrem Engagement für eine bestmögliche Bildung die Lebensaussichten der ihnen anvertrauten jungen Menschen zum Besseren zu wenden. Mansur Seddiqzai steht mit seiner Kritik in der Zeit dafür beispielhaft.

Und eigentlich widerspricht sich El-Mafaalani in seiner Gesellschaftsanalyse ja selbst, wenn er die Emanzipationsgeschichte all derer, die heute (noch) mit am Entscheidungstisch sitzen ausgerechnet mit der Bildungsexplosion der letzten 40 Jahre erklärt. Und doch kann er anhand einer Reihe von Paradoxa deutlich machen, dass es in der Bildungsdiskussion eine Reihe von blinden Flecken gibt, die unsere Ergebniserwartungen schon einmal in eine ganz falsche Richtung zu lenken vermögen.

Schulen bilden die bestehenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten weit mehr ab als dass sie diese zu konterkarieren vermöchten

Fast alle seine Einschätzungen in diesem Buch kreisen um die allerorten konstatierbare Verschärfung sozialer Ungerechtigkeit. Wir erfahren, dass ein sogenannter „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck) zwar die Bildungschancen insgesamt hat steigen lassen. Trotzdem hätte vor allem eine wachsende Mittelschicht daraus Nutzen gezogen, während andere mangels entsprechender Schwerpunktsetzungen nicht nur nicht gewonnen, sondern noch einmal deutlich an Boden verloren hätten. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses dadurch gewonnene Mehr an Bildung bei den Vielen zu einem Wertverlust der dadurch erworbenen Zertifizierungen geführt hat. Die Gründe einer dadurch verursachten Bildungsinflation liegen u.a. darin, dass der Erfolg von Bildung zunehmend in Abschlüsse gegossen wird, die den Zugang zum Arbeitsmarkt regulieren. Es braucht wenig Phantasie, um nachzuvollziehen, dass ein vermehrtes Angebot an Abschlüssen zu deren Entwertung führen muss. Anders gesagt: Junge Menschen brauchen immer höhere Abschlüsse, um den im zumindest selben Maß gestiegenen Qualifikationserfordernissen zu entsprechen. Also fallen immer mehr irgendwo dazwischen von der Leiter.

Das Paradox liegt nun darin, dass in der gegenwärtigen Verfassung mit der Ausweitung der Bildungschancen bestehende Ungleichheiten nicht beseitigt, sondern sogar noch einmal verschärft werden. Damit haben wir es mit einer Jugend zu tun, die insgesamt besser gebildet ist als jemals zuvor und gleichzeitig unter einer wachsenden Bildungsungleichheit zu leiden hat.

Dies hängt in erste Linie damit zusammen, dass Bildung nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einer Gesellschaft, für die soziale Ungleichheit konstitutiv ist. Und bereits Sigfried in einer Studie „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ aus 1925 wusste, dass Schule den gesellschaftlichen Verhältnissen eher hinterherhinkt als dass sie diese wirksam zu beeinflussen vermochte. Dazu kommt heute, dass Bildungseinrichtungen mittlerweile die letzten verbliebenen Institutionen, die aufgrund ihres gesamtgesellschaftlichen Zuschnitts in der Lage wären, darauf zu reagieren. Statt ihre Aufgabe aber darin zu sehen, bestehende soziale Ungleichheit zu verringern, fungieren diese als ein Verstärker, die den jungen Menschen in zunehmend unwiderruflicher Weise ihre Stellung in der Gesellschaft zuweisen.

Die Gründe liegen einerseits im Umstand, dass Bildungseinrichtungen ungebrochen mittelständisch verfasst sind und keine adäquate Haltung gegenüber denen zu entwickeln vermögen, die nicht oder noch nicht in der Mitte angelangt sind. Dies zeigt sich u.a. in der ungebrochenen Rekrutierung von Lehrkräften aus dem Mittelstand, die zumeist keinerlei Ahnung haben über die Lebensverhältnisse in anderen sozialen Milieus. Dementsprechend „fremd“ bleiben ihnen die ihnen anvertrauten jungen Menschen, die sie in aller Regel schlechter bewerten als diejenigen, die aus dem eigenen Milieu kommen.

Dazu kommt eine grassierende Schwächung des Leistungsgedankens (Meritokratie), nach dem sich eine durch Bildung erworbene Leistungsfähigkeit positiv auf das Standing in der Gesellschaft auswirken würde. An seine Stelle ist „Erfolg“ (Sighard Neckel) als einzig bestimmendes Kriterium getreten. Demensprechend schwerer fällt es Schulen, den jungen Menschen eine Karotte vorzuhalten, wonach sich ihre Bildungsambitionen früher oder später im Aufstieg auf der gesellschaftlichen Leiter niederschlagen würde. Stattdessen ist der Eindruck bei denen, „die ohnehin keine Chance haben“, leistungsfremde Kriterien würden immer wichtiger und über Art und Ausmaß sozialer Ungleichheit entscheiden.

„Der Herkunftseffekt bleibt ein Leben lang hängen“

Ein besonderes Anliegen ist El-Mafaalani eine stärkere Berücksichtigung des Habitus, dessen Veränderbarkeit er als entscheidend ansieht bei der Wahrnehmung von Bildungsangeboten. Der Autor versteht unter Habitus eine “dauerhaft verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln”. In wenigen einschlägigen Texten habe ich bisher so anschaulich gelesen, wie unendlich schwer es für jungen Menschen mit einem „falschen“ Habitus ist, in ein neues, in unserem Fall bildungsaffines Milieu hineinzuwachsen.

Es ist der Habitus und damit das von klein auf im unmittelbaren familiären Umfeld erworbene „kulturelle Kapital“, das über Bildungskarrieren entscheidet. Bereits Melisa Erkurt als bosnisches Flüchtlingskind in ihrer jüngsten Veröffentlichung bestätigt, dass „der Herkunftseffekt lebenslänglich am Menschen kleben bleibt“.

Soziale Benachteiligung wirkt stärker als der migrantische Hintergrund

Dies zeigt sich auf allen Bildungsniveaus, wenn der Selektionsprozess auf immer neue Weise vorrangig diejenigen trifft, deren Habitus keinen einfachen Durchmarsch durch die Bildungsinstitutionen verspricht. Als jemand, der sich als Bildungswissenschafter auch intensiv mit Integrationsfragen beschäftigt hat, kommt El-Mafaalani zum Schluss, dass der ethnisch-kulturelle Hintergrund zwar Einfluss auf geknickte Bildungskarrieren zu haben vermag, den überwiegenden Faktor aber sieht er in der sozialen Ungleichheit, die alle davon Betroffenen in gleichem Maße trifft (allenfalls erschwerend kommt für migrantische Jugendliche dazu, dass bei ihnen Reproduktions- und Loyalitätserwartungen gegenüber der eigenen sozialen Gruppe mit gleichzeitig artikulierten Erfolgserwartungen in ein besonderes Spannungsverhältnis treten).

Ganz offensichtlich bestimmt die individuelle Verfügbarkeit materiellen ebenso wie symbolischen (kulturellen) Kapitals wesentlich über den Bildungserfolg. Es gibt aber auch wesentliche externe Effekte, etwa wenn der Staat diejenigen Bildungseinrichtungen (Kindergarten und Primarschule), in denen Vergemeinschaftung über die sozialen Grenzen hinweg in besonderer Weise eingeübt werden können, tendenziell unterfinanziert, während er Höhere Schulen, die nur denjenigen zugänglich sind, die bereits vielfältige Selektionsprozesse durchlaufen haben, überfinanziert. Das aber führt notwendig dazu, dass nicht diejenigen, die es besonders brauchen, in besonderer Weise gefördert werden, sondern gerade umgekehrt, diejenigen weiter privilegiert werden, die bereits alle Vorteile aus ihrer Herkunft ziehen.

Das betrifft übrigens auch die räumliche Ausstattung der schulischen Infrastruktur. Nicht ohne Grund hat die Sozialdemokratie der 1970er Jahre ein besonderes Augenmerk auf den Bau höherer Schulen gelegt, um jungen Menschen, wo immer sie wohnen, diese gut erreichbar zu machen. Und doch sind bis heute eklatante infrastrukturelle Disparitäten geblieben: Das lässt sich anhand eines Vergleichs von Wien Favoriten und Linz gut nachvollziehen. In beiden Fällen handelt es sich um rund 200 000 Einwohner*innen (die Anzahl junge Menschen ist freilich in Favoriten wesentlich größer). Umso mehr erstaunt die Gegenüberstellung der Anzahl höherer Bildungseinrichtungen: In Linz gibt es 16 Gymnasien und 10 Höhere berufsbildene Schulen, in Favoriten sind es ganze 3 (das ist weniger als im 1. Bezirk, das mit 16 000 Einwohner*innen über 5 Gymnasien verfügt). Ja und dann gibt es in Favoriten noch 4 Höhere Berufsbildende Schulen.

Der völlig schiefe Vergleich verschärft sich nochmals mit Blick auf die ungleiche Verteilung universitärer Standorte, nicht zu reden von der kulturellen Infrastruktur. Da ist die Einrichtung der “Stadtlabore” zur dezentralen Kulturarbeit in den sogenannten “Flächenbezirken” ein gut gemeinter Versuch, an den extrem ungleichen Lebensbedingungen ändern sie fast gar nichts und stellen – für sich genommen – bestenfalls ein billiges Alibi dar.

Lernen, mit Paradoxien umzugehen

Auch bei der Präsentation seiner Lösungsvorschläge kommt El-Mafaalani um die Vermittlung paradoxer Entwicklungen nicht herum. Entsprechend muss er konstatieren, dass sich in den letzten Jahren im Bildungssystem zwar „unheimlich viel verändert hätte“, zugleich sich die „Strukturen und Institutionen der organisierten Bildung“ sich weithin als unwandelbar erwiesen hätten. Noch weiß sich das eherne Gebäude fest in seinem Fundament verankert, da mag sich die Welt außerhalb seiner Mauern noch so dramatisch verändern.

Ganz pragmatisch schlägt der Autor vor, sich endlich mit der Beseitigung von sozialen Ungerechtigkeiten zu kümmern, dabei die Lehrer*innen zu entlasten, nicht zu große Hoffnungen auf die Eltern zu legen und einem mittlerweile völlig zersplitterten Bildungssystem wieder mehr Struktur und Klarheit zu geben. Besonders gut gefallen hat mir dabei der Vorschlag, den Kampf gegen soziale Verungleichung nicht ausschließlich den damit überforderten Lehrkräften zu überlassen. Ihnen sollten Teams aus den Bereichen Soziale Arbeit, Förderpädagogik, Psychologie und Medizin, aber auch Hausmeister und Verwaltungsfachkräfte zur Seite stehen, um die starre Logik des Apparats sukzessive zu durchbrechen. So ließe sich je nach Bedarf einzelfall-, gruppen, eltern- und sozialraumorientiert lernen und Schule sich zu einem offenen Zentrum des Gemeinwesens weiterentwickeln. Externen Personen wie Künstler*innen und Vermittler*innen könnte dabei die Aufgabe zukommen, den Schüler*innen nicht nur neue sinnlich-ästhetische Welten zu eröffnen, sondern sie auch mit einem Habitus vertraut zu machen, der nicht dem eigenen entspricht und doch in einem Prozess des gemeinsamen Gestaltens erstrebenswert erscheint.

Nach der Lektüre von „Mythos Bildung“ liegt El-Mafaalanis Wahrheit wohl in erster Linie darin, aufzuhören„ Bildung“ als vorrangiges Mittel zum Abbau sozialer Ungleichheit nicht über zu bewerten (diesbezügliche Einschätzungen lassen sich unschwer auf den Kulturbereich übertragen, der institutionell noch wesentlich schwächer ausgestattet und noch wesentlich ungeeigneter erscheint, die Verhältnisse zu einem wie immer gearteten Besseren zu wenden). Für sich allein gestellt, mutiert Bildung nur zu schnell zu einem Alibi für Versäumnisse, die in anderen Politikfeldern wie Wohnen, Stadtteilentwicklung, Arbeitsmarkt, Soziales oder Gesundheit auf Grund ihrer Mächtigkeit die Ungerechtigkeitsverhältnisse wesentlich wirksamer zu beeinflussen vermögen.

Die Welt verbessern oder die eigene Situation, das ist die Frage

Mit der Behandlung einer Reihe von Paradoxien hat mich der Umstand fasziniert, wie sehr ich als bildungsaffiner Leser geneigt bin, meinen idealistischen Vorstellungen gerade in diesem Bereich auf den Leim zu gehen. Dazu gehört auch der Befund, das kaum zu erwarten ist, dass gesellschaftliche Veränderung von den am Boden sitzenden strukturell Benachteiligten zu erwarten ist. Stattdessen kann auch El-Mafaalani nicht umhin zu vermuten, dass es ein gewisses Maß an Bildung (und damit an Abstraktions- und Vorstellungsvermögen) bedarf, um gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg zu bringen. Der Autor macht das anhand des schichtspezifischen Engagements zugunsten friday for future Bewegung deutlich, die stark mittelständisch geprägt sei, während sozial Benachteiligte weniger die Rettung des Planeten, sondern die Besserstellung innerhalb der bestehenden Welt im Sinn hätten. Dafür aber bräuchte es eine politische Vertretung, die es schafft, die Solidarität zwischen denen, die es an den Tisch geschafft haben und den am Boden Verbliebenen wieder her zu stellen (ursprünglich die zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie). Eine solche hätte dann auch dafür zu sorgen, dass ihre Klientel nicht nur gleichbehandelt, sondern aufgrund ihrer benachteiligten Lage (durch Familie und Umfeld und damit verbundene strukturelle Diskriminierung) auch im Bildungsbereich eine besondere Förderung erfährt.

Nichts spricht dagegen, dass ein*e engagierte*r Lehrer*in wie Mansur Seddiqzai seinem Anspruch, das Leben der ihm Anvertrauten zu verbessern, auch weiterhin nachkommt. Individuelle soziale Grenzüberschreitungen unter Anleitung einer vertrauten Bezugsperson, die über die notwendigen Kompetenzen verfügt und dafür das notwendige Vertrauen schafft, können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nach der Lektüre von „Mythos Bildung“ aber können wir noch einmal darüber überdenken, ob sich daraus notwendig auch schon Rückschlüsse auf strukturelle Änderungen zum Besseren ableiten lassen.

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