Aktivismus im Spannungsverhältnis zu demokratisch legitimierter Entscheidungsfindung anhand der Lektüre von Knut Cordsens Essay: „Die Weltverbesserer – Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft“

Was für ein medialer Erfolg. Seit Tagen dominieren Initiativen der „Letzten Generation“ die nationalen und internationalen Medien. Die öffentliche Erregung über diverse Aktionen des Festklebens und Anschüttens auf den Straßen ebenso wie in Museen rund um den Globus könnte nicht größer sein. Zuletzt haben sich auch in Wien Klima-Aktivistinnen am Sockel eines Dinosaurier-Exponat festgeklebt und ein Bild von Gustav Klimt begossen, um ihren Forderungen nach unmittelbarer Durchsetzung einer „Überlebenspolitik“ Nachdruck zu verleihen. Das Nachrichtenmagazin profil widmet ihnen eine Titelgeschichte; sein Chefredakteur Christian Rainer verfasst dazu einen Leitartikel, in dem er die Aktivist*innen als Warner*innen vor dem völligen Kollaps gegen die herrschende Lethargie in Stellung bringt.

Ein besonderer Aufmerksamkeitswert kommt dabei „Artivisten“ zu, die versuchen, museale Kunstwerke zum Ausgangspunkt ihrer Öffentlichkeitsarbeit zu machen und damit für eine kontroversielle Diskussion weit über die traditionellen Museumsbesucher*innen hinaus zu sorgen.

Ganz offensichtlich haben wir es angesichts der drohenden Erderwärmung mit einer Neuauflage aktivistischer Inszenierungen zu tun, deren Betreiber*innen den Glauben an mühsame Rituale etablierter Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse verloren haben. Sie möchte stattdessen das Geschehen möglichst direkt und unmittelbar zu beeinflussen und damit rasche Wirkungen zu erzielen.

Dort, wo Aktivist*innen antreten, um das gesellschaftliche Bewusstsein wachzurütteln, kommt es notwendig zu einer Polarisierung: Während die einen (in der Regel von den geforderten Veränderungen weniger Betroffenen) Verständnis für ihre Anliegen zeigen, sehen die anderen, die sich in der Ausübung ihrer Freiheiten zumindest behindert fühlen, einen Bruch der gesellschaftlichen Ordnung, der staatlich mit voller Härte sanktioniert werden muss.

Aktivismus als Zeichen des Versagens repräsentativer Demokratie

Viel spricht für die Vermutung, dass aktivistische Initiativen auf ein zumindest partielles Versagen demokratisch legitimierter Verfahren hinweisen, von denen sich Aktivist*innen entweder ausgeschlossen fühlen oder die sie angesichts der Dringlichkeit ihrer Anliegen als zu wenig effizient begreifen. Erster Antrieb ist die Frustration besorgter Menschen, die angesichts apokalyptischer Aussichten die Hoffnung aufgegeben haben, die Gesellschaft wäre im Rahmen des geltenden Regelwerks noch in der Lage, notwendige bzw. überfällige Verbesserungen zu erreichen. Sie treibt ein Gefühl der Unbedingtheit, um hier und jetzt – und sei es gegen die Bequemlichkeit und Inflexibilität bestehende Mehrheiten – die überfälligen Veränderungen herbeizuführen.

Was aber kennzeichnet aktivistische Praktiken? Auf welche Grundlage finden sie statt? Und was können Sie bewirken? In der Rezeption der aktuellen Protestmaßnahmen bin ich mit einem ziemlich schwammigen Container-Begriff konfrontiert, in den je nach Sprecher*in ganz unterschiedliche Erwartungen, Hoffnungen, aber auch Ängste, Bedrohungen und Abwehrverhalten gepackt werden.

Also mache ich mich auf die Suche nach einer auch nur halbwegs klaren Bestimmung des Begriffs „Aktivismus“ im Rahmen demokratisch verfasster Gesellschaften. Mein erster Interpretationsversuch bezieht sich auf konkrete Handlungen im öffentlichen Raum (Aufrufe, Boykotte, Beschädigungen bis hin zu Gewalthandlungen und Zerstörungen), die mit bestimmten (gesellschafts-)politischen Zielen verbunden werden. Anhand von möglichst spektakulären Handlungen soll die Öffentlichkeit soweit aufgerüttelt werden, dass sie nicht mehr anders kann als sich über Veränderungsprozesse zu verständigen, die sie ohne diese Aktionsformen nicht in Gang gesetzt hätten.

Es liegt auf der Hand, dass dies Provokationen die beabsichtigten Wirkungen nicht auch schon garantiert; vielmehr kann auch das Gegenteil eintreten und damit die bestehenden Beharrungskräfte erst so richtig auf den Plan rufen, die das Gegenteil der gewünschten Absichten bewirken. Schließlich muss ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass Aktivist*innen per se erwünschte politische Ziele verfolgen; die Geschichte ist voll von Beispielen, bei denen aktivistische Protestformen die Schwächung demokratischer Verfahren des Interessensausgleichs und damit nachhaltige Beschädigungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewirkt haben.

Aktivismus als Wille zur Weltverbesserung

Auf der Suche nach etwas mehr Klarheit für das, was alles unter Aktivismus verhandelt wird, bin ich auf Knut Cordsens Essay: „Die Weltverbesserer – Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft“ gestoßen. Aus dem Text geht nicht explizit hervor, ob der deutsche Kulturredakteur Anleihen aus dem Theaterstück von Thomas Bernhard aus dem Ende der 1970er Jahre „Der Weltverbesserer“ bezogen hat. Der Plot von Bernhard, in dem der Weltverbesserer von seinem hohen Sessel aus die Welt in Person einer ihm nahestehenden Frau beschimpft und für seinen „Traktat zur Verbesserung der Welt“ zwar geehrt, von den Honoratioren in keiner Weise verstanden wird, lässt sich unschwer auf die Erzählung anwenden, die Cordsen den Leser*innen in gut aufbereiteten Häppchen zu bieten versucht.

Cordsen ebenso wie Bernhard haben keine hohe Meinung über die selbsternannten Weltverbesser*innen. Immerhin konzediert Cordsen der Szene, die Nachfolge einer zunehmend inhaltsentleerten Politik angetreten zu haben. Diese – so sein Befund – wäre in keiner Weise mehr in der Lage, im Modus permanenten Krisenmanagements noch einmal glaubwürdig positive Zukunftsentwürfe zu formulieren oder gar durchzusetzen. Geht es nach ihm, dann lassen sich Aktivist*innen als Ausdruck wachsender Einflusslosigkeit intellektueller Milieus auf das gesellschaftliche Geschehen lesen. Als solche verfügten sie spätestens seit dem Beginn der 2000er Jahre über ein enormes aufmerksamkeits-ökonomisches Kapital, das sie zu „Bewusstseinsgroßindustriellen unserer Tage“ gemacht hätte. Dabei könne man ihren Vertreter*innen zu Gute halten, dass sie sich nicht mit den hegemonial gewordenen Haltungen, die die weitgehende Alternativlosigkeit des Bestehenden behaupten, zufriedengeben und stattdessen zeigen wollen, dass es auch anders geht (bzw. gehen kann, ja gehen muss).

Die Ursprünge des Aktivismus liegen in der Ablehnung der Demokratie

Für ein besseres Verständnis des Begriffs macht es Sinn, darauf hinzuweisen, dass „Aktivismus“ kein neues Phänomen ist. Es begleitet vielmehr die politische Geschichte zumindest der letzten hundert Jahre. Nahezu jede institutionalisierte Partei, die heute den Parlamentarismus repräsentiert, hat als aktivistische Gruppierung des sozialen Ungehorsams begonnen. Und selbst nach deren Institutionalisierung konnte so mancher Wahlerfolg dieser Parteien nur im Zusammenwirken mit aktivistischen Gruppen erzielt werden (siehe dazu den Erfolg der deutschen Grünen 2019, der sich wesentlich auf einer Allianz mit aktivistischen Szenen von „Fridays for Future“ begründet)

Als philosophische Idee lässt sich der Aktivismus bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Der Philosoph Rudolf Eucken war einer der ersten, der 1907 in seinen „Grundlinien einer neuen Lebensanschauung“ einen „schöpferischen Aktivismus“ vertreten hat. Eine besondere Bedeutung kommt dem Schriftsteller Kurt Hiller zu, der den „Aktivismus“ zu einer literarischen Strömung verdichtet hat, die er in Abgrenzung zum Expressionismus sah. Sein bedeutendster Vertreter in Österreich war Robert Müller. Beide sahen im Expressionismus eine spezifische Art des künstlerischen Ausdrucks, während der „Aktivismus“ wesentlich größer gefasst für eine Gesinnung stehen sollte, die die Tat ins Zentrum politischen Handelns stellen wollte. Und dieses sollte alles anders als demokratisch gefasst sein.

Geht es nach diesen ersten ideologischen Begründungen, dann zeigt sich unschwer der zumindest doppelbödige Charakter aktivistischer Bewegungen. Dafür spricht, dass sich bereits die frühen Nationalsozialisten als aktivistische Bewegung verstanden, deren Aufgabe es wäre – notfalls mit Gewalt – die demokratische Verfassung der Weimarer Republik zu stürzen. Aber auch mit dem Erringen der Herrschaft blieb der Aktivismus ein zentrales Element nationalsozialistischer Ideologiebildung. Zu ihrer Durchsetzung installierte der Reichspropagandaminister Josef Goebbels in seinem Haus eine „Zentralstelle für geistigen Aktivismus“.

Die Nutzung des Aktivismus zur Herrschaftssicherung errtrifft auch auf die Ideologen des frühen DDR-Regimes zu. Auch sie rühmten die Bevölkerung als Volk von Aktivisten, die sich für eine gemeinnutzen- und neuerungsorientierte Einstellung zur Arbeit einzusetzen hatten. Ja es gab sogar offiziell den „Tag der Aktivisten“ der ab 1949 jeweils am 13. Oktober mit einer Sonderschicht begangen wurde. Vorbild für den sozialistischen Begriff des Aktivisten war das russische Wort „уда́рник“ (aktivist), das deren Angehörige als Teil eines systemerhaltenden Kollektivs bezeichnete, damit eine nach sowjetischem Vorbild geschaffene Bezeichnung für eine Arbeitsgruppe.

Die Beispiele zeigen, dass sich der Aktivismus durchaus zur Legitimation autoritärer Herrschaft eignet. Was bei Cordsen schon einmal zu einer irritierenden Lesart führen kann, wenn er die aktivistischen Bezüge zum DDR-Regime herstellt, die Widerstandskräfte in der Zivilgesellschaft, die 1989 den Fall der Berliner Mauer herbeigeführt haben aber mit keinem Wort erwähnt, Und doch waren es deren politischen Artikulationsformen (Leipziger Montagsdemonstrationen), die aus demokratischer Perspektive weit eher mit Aktivismus assoziiert werden können als die offiziellen Zuschreibungen der DDR-Nomenklatura.

Aktivismus als außerparlamentarische Form der Selbstermächtigung

Immerhin verhandelt er die 68er (eigentlich 67er) Bewegung als eine aktivistische Bewegung, die sich am bestehenden Gefüge der repräsentativen Demokratie abzuarbeiten versuchte. Als eine Form der außerparlamentarischen Selbstermächtigung verwies sie bereits damals auf die Grenzen demokratischer Integrationsleistungen. Die politische Strategie ihrer Führer lief darauf hinaus, die Interessensartikulation einer jungen Generation vom Parlament auf die Straße zu verlagern. Geht es nach Cordsen, dann hat diese Form des Aktivismus mittlerweile die Mitte der Gesellschaft erreicht. Als Maßstab für seine Beurteilung dient ihm dabei der Umstand, dass zumindest einige Vertreter*innen aktivistischer Bewegungen 2019 in den deutschen Bundestag eingezogen sind.

Cordsen geht es nicht um eine Gesamtschau dessen, was alles Aktivismus umfasst. Stattdessen stellt er darauf ab, das eine oder andere Detail im historischen Verlauf des Phänomens „Aktivismus“ beizubringen. Eine strukturelle Einordnung und damit eine Funktionszuschreibung aktivistischer Praxen im Rahmen unterschiedlicher politischen Herrschaftsformen aber bleibt er schuldig. Und so werden ihm alle Formen gesellschaftlicher Konfliktaustragung, die das politische Geschehen im 20. Jahrhundert beeinflusst haben zur aktivistischen Inszenierung (Feminismus, Anti-Kolonialismus, Umweltbewegung, ….) während die Protestformen, von den Bauernaufständen bis zur Französischen Revolution, die davor die politische Geschichte ganz wesentlich mitbestimmt haben, ausgeklammert bleiben. Und mir als Leser ist irgendwann nicht mehr klar, was denn den Aktivismus von anderen Widerstandsformen bis hin zu gewaltsam ausgetragenen Revolutionen unterscheidet. Immerhin sind sie allesamt vom Ziel getragen, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht nur durch das Erstellen neuer politischer Konzepte, sondern durch das Schaffen neuer Tatsachen in Frage zu stellen.

Mit der selektiven Auswahl seiner Kronzeugen wird deutlich, dass es Cordsen eigentlich um eine kritische Infragestellung aktivistischer Praxen geht. Seiner Aktivismus-Erzählung haftet zumeist der Geschmack des Alibihaften an. Dies führe nur zu leicht zum Gegenteil der propagierten Ziele, wenn Aktivismus suggeriert, dass „mühsame Bohren harter Bretter“ (Max Weber) in den Arenen des Politischen mithilfe symbolischer Taten vermeiden zu können.

Der Journalismus bestimmt wesentlich darüber, wie Aktivismus wahrgenommen wird

Im Verlauf seines Essays überprüft Cordsen eine Reihe von Handlungsfeldern auf ihre aktivistischen Potentiale. Einen großen Stellenwert nimmt dabei der Journalismus ein und damit die mediale Vermittlung dessen, was als Aktivismus wahrgenommen wird – und was nicht. Nicht zu Unrecht weist der Kulturjournalist seinen Kolleg*innen eine überdurchschnittlich große Macht zu, wenn es um die Einschätzung aktivistischer Praxen geht; eine Zuschreibung, die sich in diesen Tagen mehr als bestätigt. Anhand einiger anekdotischer Schmankerl macht der Autor deutlich, dass bereits Karl Kraus, Robert Musik, Erwin Kisch und mit ihnen viele andere um eine hinreichende Klärung des Begriffs bemüht hätten, aber im Rahmen zum Teil heftiger Kontroversen nicht sehr weit gekommen wären.

„Artivismus“ als neue Kunstform oder als Profilierungsmittel

Recht punktuell bleibt Cordsen bei der Behandlung des Artivismus als besondere Ausdrucksform interventionistischer Kunst. Begonnen hat wahrscheinlich alles mit dem „Bed-in“ von John Lennon und Yoko Ono 1969 als Form des Widerstands gegen den Vietnam-Krieg. Als anderer wichtiger Begründer dieser Kunstrichtung wird Joseph Beuys ins Treffen geführt, der bei der documenta 7 1982 die Aktion „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ kreiert hat. Dazu ließ er 7000 Eichen in Kassel pflanzen. In seinem Geist wird mittlerweile Artivismus als eine „Verbindung von politischem Aktivismus mit den Mitteln der Kunst“ (Pete Weibel) verhandelt. Geht es nach Weibel, dann handelt es sich dabei um „die erste wirklich neue Kunstrichtung des 21. Jahrhunderts“, die in der Lage wäre, postmoderne Beliebigkeiten im Kunstfeld zu überwinden. Cordsen steuert dazu einige Beispiele bei, etwa das „Array Collective“, eine artivistische Gruppe aus Belfast, die mit spezifisch künstlerischen Mitteln den Nordirland-Konflikt zu einem Ende bringen möchte. Dazu erwähnt der Autor das kubanische Künstlerkollektiv „Hannah Arendt Institut für Artivismus“ (INSTAR) mit seiner Gründerin Tania Bruguera, das sich u.a. für den Aufbau er Demokratie in Kuba einsetzt und dabei der Künstlerin zu weltweiter Bekanntheit verholfen hat.

Nicht fehlen darf bei dieser Gelegenheit natürlich die jüngste Ausgabe der documenta 15, kuratiert von vom indonesischen Künstlerinnen-Kollektiv ruangrupa, das mit Blick auf die mediale Berichterstattung alles falsch gemacht hat, was man nur falsch machen kann. Und auch das Aktionskünstler-Kollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) kommt ganz schlecht weg, wenn ihm unterstellt wird, politische Fehlentwicklungen zur Schaffung von Aufmerksamkeit am Ende ausschließlich für das eigene Projekt zu nutzen ohne die geringste Aussicht, damit die politischen Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Ein Vorwurf, den sich eine ganze Generation junger Künstler*innen, die sich als Aktivist*innen begreifen, zu kämpfen haben werden. In ein ganz ähnliches Horn stößt übrigens auch Philipp Bovermann in der Süddeutschen Zeitung. In seinem Kommentar „Echtes Blut – Alle reden über Klimaaktivismus, keiner redet über das Klima“ den Vertreter*innen der Initiative „Letzte Generation“ mit der Beschädigung von Artefakten bloß vordergründige Profilierung unterstellt, die als „Störfaktor einer zynischen, von den Lebensgrundlagen entfremdeten Welt, nichts Substanzielles zu sagen“ hätte. 

Aktivismus ist, wenn Wissenschaft zur Anwaltschaft wird

Cordsen kommt im Lauf seiner Ausführungen auch den*die engagierte*n Wissenschaftler*in zu sprechen. Der „Gelehrte als Gefährte“ sei heute besonders versucht, im Milieu aktivistischer Szenen seinen neutralen Beobachter-Status (als einer heraussagenden Errungenschaft europäischer Aufklärung) aufzugeben. Zu groß die Versuchung, sich zum Wortführer aktivistischer Interessen hochzustilisieren. Aufgrund dieser Haltungsänderung konstatiert er einen Neofundamentalismus im Wissenschaftsbereich. So würde die „Critical Race Theory“ zum einzigen Weg in eine diskriminierungsfreie Welt erklärt, der sich demnach auch wissenschaftliche Erkenntnis unter zu ordnen habe. Eine solche Form der „Re-Konfessionalisierung von Wissen“ erweist sich spätestens dort als verhängnisvoll, wo unerwünschte Positionen vom wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Auf diese Art entsteht der Eindruck, dass einige wenige Mächtige des Wissenschaftsbetriebes es erlauben können, über die „Wahrheit zu verfügen, ohne sich an „unerwünschten“ Positionen mehr abarbeiten zu müssen. Es bleibt abzuwarten, ob die Arbeit des „Instituts für Protest- und Bewegungsforschung“ noch einmal den Horizont zu erweitern vermag.

Die Folgen lassen sich auch an der Marginalität des kulturpolitischen Diskurses ablesen, der schon immer von einem starken „Advocacy Approach“ (inklusive ungeprüfter Vorannahmen des Guten und des Richtigen) gekennzeichnet war. Teilnehmen sollten immer nur die Akteursgruppen, die bereit waren, bestimmte Vorannahmen (wie zur Bedeutung der Kunst in der Gesellschaft, zur Sonderstellung des künstlerischen Personals oder zum Kulturauftrag des Staates) zu teilen. Dass der Kulturbetrieb samt seinen kulturpolitischen Implikationen vom großen Rest der Gesellschaft damit nur sehr bedingt ernst genommen wurde, nahm man, wenn auch schmollend, in Kauf.

Aktivismus im Netz ist billig – und oft konsequenzlos

Ausführlicher widmet sich Cordsen auch einzelnen (schein-)aktivistischer Praxen in den sozialen Medien. Auch hier fällt sein Befund alles andere als positiv aus. Zusammen mit Peter Sloterdijk konstatiert er in den Tiefen der neuen medialen Kulturräume eine Tendenz zur „Erregbarkeit als erste Bürgerpflicht“. Das Ergebnis sei ein „Armchair Activism“ bzw. „Slacktivism“, der sich per Click auf „Je suis Charlie“ mit den Opfern der Terroranschläge in Paris solidarisieren lässt, ohne selbst die geringsten Konsequenzen fürchten zu müssen.

Wirkungsvoller erscheint ihm da schon ein „Hacktivism“ (Eugen Morozov), der in der Lage sein, auf einen Schlag ganze Rechnernetze lahmzulegen (und wieder bleibt Cordsen eine politische Interpretation schuldig, wenn „hacktivistische“ Initiativen nicht nur von Teilen einer technikaffinen Zivilgesellschaft vorgetragen werden, sondern mittlerweile ein zunehmend mächtiges, zumindest parakriegerisches Instrument im weltweiten Kampf der Herrschenden um Macht und Einfluss darstellen.

Cordsen unternimmt auch einen Ausflug in die internationalen Aktienmärkte, auf denen er – schon auf Grund sinkender Beherrschbarkeit – zunehmend aktivistische Tendenzen ortet (der aktuelle Zusammenbruch der Kryptobörse FTX gibt eine Ahnung von den Wirkungen). Positiver ist da schon sein Besuch bei Tadzio Müller, einem US-amerikanischer Antiglobalisten der ersten Stunde. Müller möchte den Aktivismus von seinem fundamentalistischen Image befreien und ihm einen neuen, lustvollen Spin geben: Er versteht sich nicht als „Superior Activist“, der sich mit seiner Bereitschaft, sein Leben zu ändern über der ignoranten Mehrheit erhaben weiß, sondern begeistert sich an den „Ermächtigungspotentialen“, der das Leben feiern möchte. Und doch ist auch er nicht frei von apokalyptischen Vorstellungen, die mit der anhaltenden Verweigerung demokratisch verfasster Gesellschaften, die überfälligen Schritte zugunsten eines nachhaltigen Klimaschutzes zu setzen, das Heraufkommen einer „grünen RAF“ androht.

Nach der Lektüre von „Die Weltverbesserer“ kann ich die aktuellen Formen des Aktivismus politisch nicht wirklich besser einschätzen. Immerhin wurde mir bewusst, dass Aktivismus nicht per se mit bestimmten politischen Inhalten identifiziert werden kann; je nach politischem Spin der handelnden Akteur*innen wird er im linken ebenso wie im rechten Spektrum eingesetzt. Dabei können ganz unterschiedliche, zum Teil ganz entgegengesetzte politische Ziele verfolgt werden (für mich immer wieder faszinierend, wie es den rechten Identitären gelungen ist, fast nahtlos aktivistische Praktiken der linken außerparlamentarischen Opposition der späten 60er Jahre zu übernehmen).

Vieles spricht dafür, dass Aktivismus ganz generell auf eine Politikmüdigkeit verweist. Als ein Indiz für ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Handlungsfähigkeit repräsentativer Demokratie weist er über spezifische inhaltliche Anliegen hinaus. Bereits Karl Popper hat in seiner Studie „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ darauf hingewiesen, dass „ein Element blanker Verzweiflung unverkennbar in dem „grimmigen“ Aktivismus (steckt), der denen bleibt, die die Zukunft voraussehen und die sich als Werkzeuge ihrer Ankunft fühlen“. Und versuchen die einen mit aktivistischen Mitteln (neo-)autoritären Lösungen durchzusetzen, wonach ein starker Führer erklären soll, wie es weiter geht, während die anderen die direkte Aktion dafür nutzen, um einen Weg an den komplizierten und langwierigen politischen Aushandlungsprozessen vorbei zu finden.

Viele junge Menschen fühlen sich heute zurecht verzweifelt, nicht nur im Hinblick auf die zu erwartende Klimaerwärmung. Die junge Aktivistin Carla Roven hat dieses defizitäre Lebensgefühl bei Markus Lanz ebenso eindrücklich wie exemplarisch deutlich gemacht. Sie fühlen sich schlecht regiert von einem politischen Establishment, die ihre Interessen auf eine lebenswerte Zukunft strukturell negiert. Erwachsene Zyniker wie Peter Sloterdijk beschränken sich in ihren Reaktionen auf das aktuelle aktivistische Aufbegehren mit Aussagen, wonach junge Aktivist*innen halt weiterhin im großen Drama leben wollen und sich hierfür die notwendige Inszenierung schaffen.

Cordsen liefert mit dem Begriff einer „präfigurative Politik“ auch eine positive Interpretation: Junge Aktivist*innen wollten selbst vorleben, wofür sie kämpfen. Und sich dabei solidarisch unterstützen in einer Welt, die zunehmend auf Konflikt und Polarisierung ausgerichtet scheint.

Zu Ende seines Essays zitiert der Autor Carl von Ossietzky, der bereits 1918 das immer wieder neu entstehende Spannungsverhältnis zwischen der Macht der Tat und die Mühen (demokratischer) Konfliktaustragung zum Ausdruck gebracht hat. Und kommt dabei zu einem wenig erfreulichen Schluss, jedenfalls was die Zukunft demokratischer Entscheidungsfindung betrifft: Als Aktivist „schreibt (man) sich entweder mit dem Meißel ein oder gar nicht; der Gänsekiel des gelehrten Skribenten zerbricht daran beim ersten Buchstaben“.

Angesichts dieser Prophetie könnten wir beginnen zu überlegen, welcher spezifischen Weiterentwicklungen des demokratischen Systems es bedarf, um seine Konfliktlösungskompetenz zu erhöhen bzw. an die aktuellen Gegebenheiten und Herausforderungen anzupassen.

Die Erregung über etwas Tomatensuppe auf ein Bild Vincent van Goghs wird nicht reichen.

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