Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

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Über ein mögliches neues Verhältnis von Künstler*innen und Publikum nach dem Ende der Pandemie

Der Kulturbetrieb leidet, Hilferuf folgt auf Hilferuf. Und kein Ende der Sorgen in Sicht. Mit dem Regierungsbeschluss, der bis auf weiteres alle öffentlichen Veranstaltungen untersagt, wurde vor allem kleineren künstlerischen Initiativen von einem Tag zum anderen der Boden weggezogen. Und mit einem Schlag wurde die zentrale Bedeutung eines (zahlenden) Publikums deutlich, ohne dass der Betrieb ganz rasch seine Existenzberechtigung verliert.

Die betroffenen Künstler*innen versuchen, ihre Kunst in neuen digitalen Formaten an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Und auch größere Kultureinrichtungen forcieren ihre virtuellen Auftritte, in der Hoffnung, damit ihr Publikum an der Stange zu halten. Während sich allerorten die Hoffnungen auf eine weitere Virtualisierung des Kulturangebotes breitmachen, denken andere bereits darüber nach, welchen Verlust für die Kultur ein solches, plötzlich über uns hereinbrechende Überangebot haben könnte.

Gleichzeitig wird der Ruf nach staatlichen Hilfsprogrammen immer lauter. Sie sollen dafür sorgen, dass sich die Künstler*innen über den aktuellen Ausnahmezustand hinüberretten zu können. Nach dem Ende der Pandemie – so die Erwartung – würden sie wieder in einen Normalbetrieb zurückkehren können. Möglicher Weise aber steht mehr auf dem Spiel. Zur Disposition steht das künftige Verhältnis zwischen Kunstproduzent*innen und Kunstrezipient*innen, vulgo Publikum, das mit der Stilllegung des Betriebs neu verhandelt werden will.

Noch überwiegt eine Logik, die zwar den Verlust des Publikums in den etablierten Räumen beklagt und sich doch darauf beschränkt, dieses in bewährter Manier und unter Zuhilfenahme digitaler Kanäle doch noch irgendwie zu erreichen. Mit dem Angebot, die Kunst nach Hause zu bringen, soll das Publikum bei Laune gehalten werden, auf dass danach jeder/jede in sein/ihr gewohntes kulturelles Verhalten (in erster Linie in der Eigenschaft als zahlende/r Besucher*in) zurückkehrt.

Hinter dieser Hoffnung aber verbirgt sich eine prinzipielle Schieflage, die den Künstler*innen und ihrem Publikum innerhalb des Kulturbetriebs völlig unterschiedliche Wertigkeiten zuweist. In uns allen ist eingeschrieben: Auf der Bühne wird die Kunst verhandelt, um die geht es. Das Publikum ist dazu nur ein (zahlendes) Beiwerk, dem, jedenfalls in Bezug auf das Kunst-Machen keinerlei tiefere Bedeutung zukommt. Im Gegenteil: Kunst wird FÜR das Publikum produziert und nicht MIT ihm.

Und plötzlich fällt das Publikum weg und die die Kunst-Macher*innen kommen um die Tatsache nicht mehr herum, dass ohne Publikum das Machen rasch an ein Ende kommt. Eine Weile noch kann staatliche Förderung die Illusion einer publikumslosen Kunst zwar aufrechterhalten. Mit der Kunstproduktion auf Halde aber wird irgendwann Schluss sein, wenn der Weg zum Publikum für längere Zeit versperrt ist.

Die unterschiedliche Wertigkeit zeigt sich u.a. daran, dass dem Publikum aus Künstler*innen-Sicht ein prinzipiell defizitärer Charakter zugesprochen wird. Als solches ist es einem permanenten Lernanspruch ausgesetzt: Die Eltern sollen ihre Kinder von klein auf kulturelles Verhalten beibringen, die Schule soll die notwendigen kulturellen Kompetenzen vermitteln. Und auch danach soll im Rahmen von vielfältigen Kunst- und Kulturvermittlungsprogrammen weiter gelernt werden, um möglichst viel über die Kunst und die Kunstschaffenden zu wissen, um so irgendwann würdig zu werden, ihre Kunst adäquat erfahren zu dürfen. Weil sich aber das Kunstschaffen permanent weiter entwickelt, muss sich das Publikum permanent weiter bilden, um nicht in den Geruch der Ignoranz zu geraten. Nur so ist es möglich, sich sukzessive in die privilegierte Gruppe derer einreihen zu dürfen, die mit dem Label eines kundigen und zugleich dankbaren Publikums ausgezeichnet wird. Es erweist sich also für ein Publikum als konstitutiv, sich für Künstler*innen und ihre Hervorbringungen möglichst umfassend zu interessieren. Als solches ist es einem permanenten Lernprozess unterworfen(was durchaus lustvoll sein kann), um das adäquat wahrnehmen und erfahren zu können, was vom Betrieb gerade als kunstrelevant verhandelt wird.

Ganz anderes bei den Künstler*innen. Ihr erster Auftrag ist es nicht, sich für ihr Publikum zu interessieren und dabei möglichst viel und immer wieder neu zu lernen. Ihre Aufgabe besteht in erster Linie in der Fähigkeit, Kunst zu machen. Ihr Lernen bezieht sich auf den Erwerb spezifischer künstlerischer Techniken. Darüber hinaus wenden sie sich auf der Suche nach den in ihnen künstlerischen Potentialen nach innen, beschäftigten sich mit sich selbst bzw. arbeiten sich an ihresgleichen ab, in der Hoffnung, damit ein unverwechselbares künstlerisches Profil zu gewinnen. Dass sie mit ihren höchsten individuellen Ambitionen immer schon ein Produkt von außen kommender gesellschaftlicher Erwartungen sind, kann da zur zu leicht ausgeblendet werden. Und so auch die Verfasstheit des Publikums und damit derjenigen, für die sie Kunst machen. Das alles spielt bei ihren künstlerischen Ambitionen in aller Regel keine oder wenn ja nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ganz im Gegenteil, dieses würde ja nur bei der mühsamen Suche der eigenen künstlerischen Identität ablenken bzw. dieses korrumpieren.

Das aber bedeutet, dass Künstler*innen in der Regel von ihrem Publikum nichts wissen, mehr, nichts wissen wollen oder gar wissen dürfen und so in Bezug auf ihre Adressat*innen nur über wenig Lernerfahrung verfügen. Mit dem Publikum soll sich der nicht künstlerische Teil des Betriebs beschäftigen, z.B. die Marketingabteilungen, deren Aufgabe darauf reduziert wird, die Häuser irgendwie voll zu bekommen (und sei es durch die Akquisition von „sozial benachteiligten“ Menschen, wenn es denn sein muss) . Das Kunst-Machen sollte davon möglichst unbeeinflusst bleiben.

Und so wird auch nach der Schließung des physischen Betriebs Kunst einfach weiter produziert und per Internet in die virtuelle Welt versandt. Es werden sich schon Menschen finden, die sich das anhören oder anschauen wollen. Aus marktwirtschaftlicher Sicht aber entsteht hier ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage: Da folgt ein Angebot weitgehend seiner eigenen Logik. Es wird geschaffen, ob es dafür Nachfrage gibt oder nicht, die als solche gar nicht im Detail erhoben, geschweige denn analysiert wir. Die daraus resultierende Unwissenheit paart sich gerne mit einem gerüttelten Maß an Überheblichkeit, wonach die alleinige Schuld fehlender Nachfrage bei den (potentiellen) Nachfragern selbst läge. Ihnen wird zu wenig Interesse am bestehenden Angebot attestiert, um auf diese Weise wenn schon nicht eine moralische („ihr lasst die Künstler*innen im Stich) so doch kulturelle Abwertung erfahren (dazugehörige Zuschreibungen changieren zwischen „kulturlos“, „bildungsfern“ und „ignorant“).

Sich gegenseitig als relevant zu erkennen

Der wachsende Sektor der Kunst- und Kulturvermittlung hat diese strukturelle Schieflage zuletzt in Frage gestellt. Für ihre Vertreter*innen stellt Kunst-Machen eine Form der sozialen Praxis dar, die allen Beteiligten, damit den Produzent*innen ebenso wie den Rezipient*innen eine aktive Rolle beim Kunst-Machen zuweist. In ihren Formaten scheint zumindest in Ansätzen der traditionelle Gegensatz zwischen dem Kunst-Anspruch der Künstler*innen auf der einen Seite und dem Subjekt-Anspruch der am künstlerischen Prozess Beteiligten auf der anderen Seite zumindest relativiert. Entsprechend scheel angesehen werden sie von den „wirklichen“ Künstler*innen, für die ausschließlich „ihre“ Kunst im Zentrum steht, während jeder Versuch der Vermittlung rasch in den Geruch einer parasitären Schwächung dessen, um was es eigentlich geht, interpretiert wird.

Und doch sind es gerade ausgewählte Formate der Kunst- und Kulturvermittlung, die auch und gerade den beteiligten Nicht-Künstler*innen Potentiale zuschreiben, die sie nicht nur als empfangende Objekte sondern als selbst (mit-)handelnde Subjekte ausweisen. Als solche werden sie Teil eines Prozesses des gemeinsamen Kunst-Machens als eine spezifische Form der menschlichen Kommunikation, die alle zu aktiv Mitwirkenden macht und sie in neue Lernerfahrungen involviert.

Die meisten Künstler*innen sind auf diese Herausforderungen nicht vorbereitet. Schon in ihrer Ausbildung werden ungebrochen überkommene Berufsbilder verhandelt, in dem ausschließlich dem Ausbildungsbetrieb immanente künstlerische Qualitätsstandards den Maßstab bilden. Von denen, die als Publikum diesen Standards folgen sollen, erfahren die jungen Künstler*innen bis auf wenige Ausnahmen – nichts. In diesem Selbstverständnis werden selbst Äußerungen der Kunstkritik als öffentliche Anwälte des Publikums als entbehrlich angesehen, würden die meisten ihrer Vertreter*innen von Kunst ja ohnehin nichts verstehen (um wieviel weniger dann erst das Publikum).

Obwohl diverse Avantgarde-Strömungen des 20.Jahrhunderts immer wieder Brückenschläge zwischen Kunst und Leben und damit zwischen Macher*innen und Nutzer*innen versucht haben, sind diese bis heute im Mainstream nicht angekommen. Selbst Begrifflichkeiten wie „Kulturelle Teilhabe“, „Community Arts“ oder „Artistic Citizenship“ (für beide gibt es bis heute nicht einmal handhabbare deutsche Begriffe) bleiben selbst für die junge Künstler*innen-Generation zumeist Fremdwörter, geschweige denn, dass sie willens oder in gar in der Lage wären, deren Anwendungsformen in der eigenen künstlerischen Praxis erproben (zu groß ist offenbar nach wie vor der Druck ihrer Ausbildner*innen, die selbst noch im Geist eines künstlerischen Elitismus erzogen wurden). Also kann es auch zu keiner nennenswerten Weiterentwicklung künstlerischer Qualitätsstandards kommen. Ein solcher würde sich nicht ausschließlich auf die Bewertung der künstlerischen Artefakte beschränken sondern die Qualität der Kommunikation derer, die sich gemeinsam auf einen künstlerischen Prozess einlassen, zumindest mitberücksichtigen.

In ihren gegenwärtigen verzweifelten Versuchen, mit ihrer Kunst noch einmal „ihr“ Publikum zumindest im digitalen Raum zu erreichen, geben Künstler*innen ungewollt noch einmal ein deutliches Zeichen der eigenen Lernunwilligkeit. Während viele Menschen vor ihren Tablets gerade dabei sind, vielfältige Möglichkeiten der digitalen Kommunikation und Interaktion auszuprobieren, sich anzueignen und damit auch ihr kulturelles Verhalten nachhaltig zu verändern, meinen streamende Künstler*innen ungebrochen, mit dem temporären Switchen auf einen anderen Kanal, „ihre“ Kunst möglichst Eins zu Eins in ein anderes Medium und damit ihr traditionelles Verhältnis zu ihrem Publikum irgendwie perpetuieren zu können.

Die Chancen dafür sinken von Tag zu Tag. Auch die Welt der Kunst wird nach der Pandemie eine andere sein. Überleben werden wohl weniger die Künstler*innen, die dank staatlicher Hilfsprogramme meinen, so weiter tun zu können wie bisher. Bessere Überlebenschancen räume ich denjenigen von ihnen ein, die den kurzen Moment des gesellschaftlichen Stillstands dazu nutzen, sich intensiver mit denen auseinander zu setzen, von denen sie behaupten, ihre Kunst hätte ihnen etwas zu sagen. Die stereotypische Reaktion, damit ja doch nur Zugeständnisse an einen billigen Massengeschmack zu machen, sollte dabei rasch als das erkannt werden, was es ist: Der Freibrief dafür, keinerlei Neugierde samt Bereitschaft zu entsprechendem Erkenntnisgewinn in Bezug auf das Publikum aufbringen zu wollen und damit spiegelbildlich genau die Haltung einzunehmen, die sonst nur den unzuverlässigen Nutzer*innen unterstellt wird.

Wollen Künstler*innen weiterhin eine signifikante Funktion im öffentlichen Raum wahrnehmen, dann werden sie nicht umhin können, vom Sockel dröger Selbstdarstellung herunter zu steigen und sich selbst als permanent Lernende zu präsentieren. Das liefe auf eine künstlerische Haltung hinaus, die dem Publikum in ihrer Subjekthaftigkeit dieselbe Wertschätzung entgegenbringt wie sich selbst. Der Gewinn: Künstler*innen wären dann das, was sie vorgeben zu sein. Menschen, die sich im Vollsinn des Wortes auf die Unberechenbarkeit des Lebens einlassen, um ihm in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen eine mehr oder weniger relevante sinnlich-ästhetische Erfahrung abzutrotzen.

Dieser Zugang zur Welt steht aber allen Menschen prinzipiell offen. Also gehen Künstler*innen als Selbst-Lernende aus einer künstlerischen Begegnung mit ihrem Publikum ebenso verändert (und hoffentlich bereichert) heraus wie diejenigen, denen sie diese Lernerfahrung schon bisher völlig selbstverständlich zugemutet haben. Als positives Beispiel ließe sich in diesen Tagen die Performance des russisch-deutschen Pianisten Igor Levit anführen, der seine Zuhörer*innen täglich einlädt, ihn bei seiner Probenarbeit zu begleiten.

Das damit ein feudales Kunstverständnis mehr als hundert Jahre verspätet in demokratischen Verhältnissen ankäme, sollte in Zeiten des Wiedererwachens autoritärer Hoffnungen nicht unterschätzt werden.

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