Gedanken zu Robert Misiks Essay „Das große Beginnergefühl – Moderne, Zeitgeist, Revolution“

Bereits 2013 hat der Deutsche Rat für Kulturelle Bildung eine Denkschrift mit dem Titel „Alles immer gut“ herausgegeben. Er wollte damit die unstillbare Neigung vieler im Kulturbetrieb Agierenden hinterfragen, Kulturelle Bildung als eine Universalmedizin im Kampf gegen alle möglichen individuellen und kollektiven Problemlagen zu propagieren: Kulturelle Bildung fördere die individuelle Kreativität ebenso wie den sozialen Zusammenhalt, biete sich an als attraktives Vehikel zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt und bewirke wirtschaftliche Prosperität. Auch sensibilisiere sie für Umweltfragen und Klimaschutz. Eine bewährte Strategie für all diejenigen, die mit solchen Versprechungen daraufsetzen, ihre Wichtigkeit auch in Ermangelung entsprechender Evidenzen zu behaupten und ihre staatliche Privilegierung begründen zu können.

Knapp zehn Jahre später spricht wenig dafür, dass Kulturelle Bildung jedenfalls in ihrer derzeitigen institutionellen Verfassung einen wesentlichen strukturellen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben hat leisten können. Stattdessen verdunkeln pessimistische Sichtweisen wie soziale Ungleichheit, Kampf um Ressourcen, Wirtschaftskrise, Inflation, Klimawandel, Pandemie, Demokratiemüdigkeit die so dringlich erwarteten positiven Signale zugunsten einer besseren Zukunft. In ihrer scheinbaren Alternativlosigkeit stehen diese Angstmacher eher für eine wachsende gesellschaftliche Verunsicherung, die unter politischer Anleitung vor allem nach Lösungen in einer vermeintlich besseren Vergangenheit rufen lässt.

Kunst als Vademekum in einer sich verdunkelnden Zeit?

Nicht so den Journalisten und Autor Robert Misik, der mit seinem neuen Essay mit dem Titel „Das große Beginnergefühl – Moderne, Zeitgeist, Revolution“ einen ermutigenden Kontrapunkt setzen möchte. Und doch reibt man sich zuerst einmal die Augen: Wie? Was? Beginnergefühl? Das ist nicht eben ein Attribut, das man der Stimmungslage im Frühjahr 2022 zuschreiben würde.

Aber so meint es Misik auch gar nicht. Ihm geht es vielmehr um eine groß angelegte – ja fast schon –Apotheose für das, was er als moderne Kunst bezeichnet. Die Kunst der letzten zweihundert Jahre ist ihm als „radikales“ Unternehmen die notwendige Voraussetzung für jeglichen Fortschrittsanspruch. Künstler*innen wären es, die sich immer wieder in „unbekanntes Gewässer“ vorwagen würden, um die als ehern angesehenen Grenzen niederzureißen. Dies gälte auch – oder vielleicht ganz besonders – wenn der aktuelle Zeitgeist gerade nicht dazu tendiert, Ansprüche nach mehr Gerechtigkeit, Emanzipation und damit Humanität ganz oben auf der Tagesordnung zu verorten.

Anhand einer Reihe von ausgewählten Künstler*innen-Biographien der letzten zweihundert Jahre möchte Misik den Beweis antreten, dass Künstler*innen immer wieder als „Schrittmacher*innen des Fortschritts“ aufgetreten sind. Sie wären es gewesen, die – wenn schon die Politik versagt – gar nicht anders gekonnt hätten, als das Ruder nochmals herumzureißen und einem unbefriedigenden Hier und Heute ein besseres Morgen abzutrotzen. Immerhin konzediert Misik ein Wechselverhältnis, wonach der Zeitgeist von Künstler*innen ebenso bestimmen würde, wie der jeweiligen Epoche zugeschriebene „verdichtete Atmosphären bzw. gesellschaftliche Grundströmungen“ das künstlerische Handeln beeinflussen würden.

Misik versteht sein journalistisches Handwerk. Ihm gelingt es mit wenigen Strichen, die von ihm als Zeugen aufgerufenen Künstler*innen anschaulich zum Leben zu erwecken. Und damit zu suggerieren, ihr künstlerisches Tun habe nachhaltige politische und gesellschaftsverändernde Wirkungen hervorgerufen – selbst wenn das gar nicht ihre Intention war.

Kunst als neues Konjunkturprogramm für den gesellschaftlichen Fortschritt?

Wiederholt sich hier eine Konjunktur, die der Kulturellen Bildung für ein paar Jahre einen Hype beschert hat, um irgendwann zugeben zu müssen, dass sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine immer größere Kluft breitmacht? Soll mit moderner Kunstproduktion jetzt eine neue Hoffnungsproduktionsmaschine in Gang gesetzt werden, die uns glauben machen soll, wir müssten uns nur an die künstlerischen Avantgarden von heute halten, um der grassierenden Aussichtslosigkeit neue Perspektiven abzugewinnen?

Anders gefragt: Lässt sich mit dieser Schrift eine Renaissance von Kulturpolitik einleiten, einem Politikfeld, das in den letzten Jahren immer weiter an den Rand gedrängt worden ist? Bei einer

Reihe von Kulturpolitiker*innen kann man jedenfalls den Eindruck gewinnen, sie hätten auf eine solche Schrift wie einen Bissen Brot gewartet, um damit ihr Standing im Kampf der Interessen anderer Politikfelder zu verbessern.

Jünger, Karajan, Wessely, Böhm, Gründgens oder der frühe Mann – Wo sind sie geblieben?

Ich gebe zu, da bin ich nach einer ersten Lektüre dieses Essays noch etwas skeptisch. Da ist zum einen die selektive Auswahl der verhandelten Künstler*innen. Auch wenn Misik Säulenheilige der französischen Literatur wie Honoré de Balzac mit seiner Comédie Humaine als „Gegensatz eines sozialistischen Revolutionärs“ inkludiert, so haben wir es dennoch mit einer durchaus subjektiven Auswahl des Autors zu tun. Kein Zweifel, sein selektives Interesse ehrt den Autor, hat aber wenig von einer repräsentativen Darstellung des Kunstfeldes der jüngsten Geschichte: Alle Künstler*innen, die sich etwa explizit der politischen Reaktion – und das sind nicht wenige – verpflichtet gefühlt haben, bleiben weitgehend ausgeschlossen. Was ist mit all den Künstler*innen, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs in hemmungslose Kriegsbegeisterung als Möglichkeit der „gesellschaftlichen Reinigung“ verfallen sind? Weil Misik die fortschrittlichen Künstler*innen des Roten Wiens ganz besonders im Blick hat, muss die Frage gestellt werden: Was ist mit den Repräsentant*innen des „Black Vienna“, deren künstlerische Emanationen wesentlich zur Aufrechterhaltung einer katholisch-konservativen Hegemonie beigetragen haben, um so schließlich den austrofaschistischen Herrschaftsanspruch zu begründen? Was ist mit all den Künstler*innen, die es sich mit den Nationalsozialist*innen gerichtet haben, ja sich aktiv für ihre Propagandapolitik haben instrumentalisieren lassen? Und was ist mit dem Heer an Künstler*innen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wesentlich die austriakische Restauration (Gerhard Fritsch) mitbetrieben haben, die die konservativen Strukturen Österreichs bis heute ideologisch überhöht? Nicht zu reden von all den Künstler*innen, deren politisches Engagement sich darin erschöpft, sich über die Niederungen des Politischen erhaben zu wissen, um sich bei erster Gelegenheit haltlos den Politiker*innen anzudienen, die die meiste Förderung versprechen (wer erinnert sich nicht an all die fortschrittlichen Künstler*innen wie Noever, Turrini und Co, die sich im Wahlkampf haltlos dem konservativen niederösterreichischen Gutsherren Erwin Pröll als seine potentiellen Günstlinge an den Hals geworfen haben).

Das Ende der Bürgergesellschaft und doch kein Ende der offenbar unausrottbaren Figur des Künstler – Genies

Mit denen wollte sich Misik nicht so gern auseinandersetzen. Auffallend ist, dass der Text ungebrochen sich auf einen „genialen Künstler“-Typ bezieht, der in seiner Singularität in der Lage wäre, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Dieser Ausnahmeerscheinung wäre es bis heute auferlegt, das moderne Kunstgeschehen zu bestimmen. Zu Tage tritt hier – ungeachtet der jeweiligen ideologischen Selbst- bzw. Fremdzuschreibung der Einvernommenen – noch einmal ein ziemlich überkommenes Künstler-Bild, von dem sich unschwer sagen lässt, dass es – hundert Jahre nach dem Ende des Feudalismus – heute weitgehend an sein Ende gekommen ist.

Wenn Misik derart auf die anhaltende Bedeutung des bürgerlichen Künstlersubjekts als Betriebsmittel der Moderne besteht, so verfehlt er damit möglicherweise eine gesellschaftskritische Analyse. Zu viel spricht dafür, die Dominanzvorstellungen einer bürgerlichen Verfasstheit hinter uns zu lassen, um uns stattdessen mit der Tatsache einer umfassenden Diversifizierung des Zusammenlebens anzufreunden.

Gerade darin besteht doch aktuell die größte Herausforderung des Kunstbetriebs: anzuerkennen, sich in einer auf Vielfalt gerichteten Gesellschaft die traditionelle Rolle des Künstlers, wie er im Geist des 19. Jahrhunderts auf uns gekommen ist, zu verabschieden. Brutal gesagt: Mit Ausnahme einiger Krisengewinner*innen, die vermeintlich genialisch produzierten Artefakte als eine Kapitalanlage verstehen, brauchen immer weniger Menschen Kunst – zumindest als eine Repräsentationsform einiger weniger Auserwählter für den großen Rest der Gesellschaft. Das aber bedeutet, dass in dieser „Zeitenwende“ auch die Funktion von Künstler*innen, die sich als extraterritoriale Nachfolger*innen einer Priesterkaste sehen, ausgedient hat. An ihre Stelle tritt der Künstler*innen-Typ, der*die sich als Kommunikator*in versteht und zwischen Menschen mit durchaus avancierten ästhetischen Ansprüchen zu vermitteln versteht. Kurz: Es braucht immer weniger Kunst von Künstler*innen für Menschen und immer mehr Kunst mit Menschen.

Von der Kunst für Menschen zu Kunst mit Menschen, das nenne ich Fortschritt

Die aktuell nicht zufällig unter Dauerbeschuss stehende aktuelle Ausgabe der Documenta 15 dafür mehr als ein Indiz, wenn es gilt, der überkommenen Idee des Künstlergenies kooperative, kollaborative oder partizipative Settings entgegenzusetzen. Die Suche nach neuen Kooperationen, auf Interaktion und Mitwirkung setzende Settings und Formate erwähnt Misik nur ganz am Rande. Vielleicht aber ist das gerade das Radikale am aktuellen Kunstgeschehen: dass wir es mit geänderten Künstler*innen-Profilen zu tun haben, wie die gerade an den diversen Kunstuniversitäten verhandelt werden.

Sie sind es, die mit ihren neuen Kommunikations- und Interaktionsformen den größten Paradigmenwechsel in Bezug auf das, was Kunst in der heutigen Gesellschaft und was Künstler*innen bei der Stiftung heterogener Öffentlichkeiten beizutragen vermögen, bestimmen. Hundert Jahre nach der Implementierung demokratischer Verkehrsformen, die der Kulturbetrieb bislang nur sehr ungenügend antizipiert hat, deutet sich hier eine kooperative Neuausrichtung von Kunst an, die – endlich – nicht den*die Künstler*in, sondern die Menschen in den Blick rückt, denen eine aktive Rolle beim künstlerischen Tun zukommt.

In einem Kapitel über Duchamp befasst sich Misik mit Trends einer Anti-Kunst, die unser traditionelles Kunstverständnis seit nunmehr mehr als hundert Jahre in Frage stellt. In der Zwischenzeit wurden mannigfache Kunsttheorien (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk) verfasst, die allesamt darauf hinauslaufen, der Kunst ihre exklusive Nischenexistenz abzusprechen, um sie im Leben derer, die sie erfahren, zu verankern. In einem modernen Verständnis von Kunst sei immer weniger das Kunstwerk selbst, sondern der Kontext, in dem es verhandelt wird, entscheidend.

Alles kann Kunst sein – und Künstler*innen bestimmen immer weniger (alleine), was Kunst ist

Nicht erst mit dem durchaus missverständlichen Sager von Joseph Beuys, wonach jeder Mensch ein*e Künstler*in wäre, verlagert sich somit die Interpretationshoheit über das, was Kunst ist bzw. was das jeweilige Artefakt von der Produktions- auf die Rezeptionsseite bedeutet. Spätestens mit der Ansage: „Der Tod des Autors“ (Roland Barthes: Der Tod des Autors) müssen traditionell schaffende Künstler*innen mit der Frustration leben lernen, dass sie nur sehr bedingt, wenn überhaupt bestimmen können, in welcher Weise ihre Arbeiten rezipiert werden und damit, welche Wirkungen sie zu erzeugen vermögen.

Völlig unterbelichtet bleibt in Misiks Plädoyer die eminente gesellschaftspolitische Funktion des Kulturbetriebs. Und doch bestimmt er nicht nur wesentlich über die Auswahl des Gezeigten, sondern auch über die Rezeptionsweisen. In der Regel strukturkonservativ konstruiert, trägt die beherrschende kulturelle Infrastruktur wesentlich zur Musealisierung moderner Kunst bei, um ihr genau den Stachel zu nehmen, auf den sich Misik bezieht. Die Verwandlung der Wiener Gruppe von einer radikalen Form des ästhetischen Widerstands hin zum Ausstellungs-Highlight im New Yorker Moma samt Besuch des amtierenden österreichischen Bundeskanzlers sind dafür mehr als ein Indiz.

Wenn also Misik einen wechselseitig wirksamen Zusammenhang zwischen der Produktion moderner Kunst einerseits und der Reformdynamik gesellschaftlicher Entwicklungen andererseits herzustellen versucht, so begibt er sich sowohl theoretisch als auch praktisch in vielfacher Weise auf unsicheres Gelände. Immerhin kommen wir um die bittere Erkenntnis nicht herum – das muss gerade der Kulturbetrieb bitter lernen –, dass der jeweilige gesellschaftspolitische Kontext, in dem künstlerisches Tun stattfindet, wesentlich darüber entscheidet, wie dieses erfahren, interpretiert, genutzt oder verwertet wird. Und wohl auch Künstler*innen, denen mit der Veröffentlichung ihrer Werke die Interpretationshoheit aus der Hand geschlagen wird, müssen lernen damit umzugehen, dass außerkünstlerische Eliten die Deutungshoheit ihrer Werke übernehmen. Dieser Umstand wird in diversen Gesellschaften bestenfalls dadurch abgemildert, dass sich auch die meinungsbildenden Eliten ausdifferenziert haben und so Mehrfachinterpretationen möglich wurden. Und sich so ganz unterschiedliche Bilder von Artefakten zu Erscheinung und Wirkung für ganz unterschiedliche Zielgruppen nachzeichnen lassen.

In tendenziell autoritär-verfassten Verhältnissen bestimmt die Kulturpolitik, was gespielt wird. Und nicht umgekehrt

Diese unangenehme Wahrheit angewendet auf die Kulturpolitik Österreichs der Nachkriegszeit macht unmittelbar deutlich, dass der jeweils politisch oktroyierte Zeitgeist das Kunstschaffens mehr bestimmt hat als umgekehrt. Dazu gehört ebenso die Indienstnahme wesentlicher Teile des künstlerischen Personals nach 1945 für die Implementierung einer rückwärtsgewandten kulturellen Hegemonie (an der jeder avantgardistisch inspirierte Widerstand hoffnungslos abprallte). Wie die Einladung Bruno Kreiskys an Künstler*innen und Intellektuelle ab den 1970er Jahren, im Sinne einer „durchaus radikalen Kulturpolitik“ die Reformen der regierenden SPÖ zumindest „ein Stück des Weges“ zu begleiten. Und sie stimmt wohl auch für die Segnungen des Neoliberalismus, der spätestens in den 1990er Jahren in Österreich Fuß gefasst hat, um damit auch den Kulturbetrieb ökonomisch zu durchdringen. Im Rückblick erscheint diese Entwicklung fast schon exemplarisch für die Austreibung des Politischen aus dem Kulturbetrieb, der sich fortan als ein modernes Projekt damit begnügen muss, sich mit quantifizierbaren Erfolgszahlen herumzuschlagen, ohne noch irgendeinen glaubwürdigen Anspruch an der Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt entwickeln zu können.

Kann es sein, dass die globalen Digitalkonzerne den Fortschrittsbegriff gekapert haben – und der Kulturbetrieb als leere Hülle noch eine Weile hinter seinen eigenen Ansprüchen hinterherhinkt?

Im gleichen Ausmaß haben die großen Digitalkonzerne den Anspruch auf Fortschritt gekapert, kein Wunder, wenn ihre materiellen und immateriellen Ressourcen als ungleich größer und mächtiger eingeschätzt werden müssen als die eines traditionellen, für Misik noch immer maßstabgebenden Einmann- bzw. Einfrau-Betriebes von Künstler*innen (es ist in diesem Zusammenhang auffallend, dass Misik der massenhaften Ausweitung der digitalen Kulturräume, in denen kulturelles Verhalten – produzieren ebenso wie rezipieren – gerade neu ausverhandelt wird, keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Im persönlichen Kontakt hat er angekündigt, dies zu späterer Zeit in einem weiteren Essay nachzuholen).

Misik verwendet viel Kraft dafür, Kunst als ein zentrales Ingrediens eines linken Fortschritt-Projekts zu retten. Umso bedauerlicher, wenn der Autor selbst bei bestem Willen zurzeit kein solches zu identifizieren vermag, das heute als Unterfutter für ein fortschrittsorientiertes modernes Kunstschaffen dienen könnte. Das fast schon demonstrative Desinteresse der SPÖ an Fragen der Kulturpolitik sind dafür mehr als ein Indiz.

Mit den wenig erfreulichen Konsequenzen schlägt sich Misik im Schlusskapitel auseinander. Diese betreffen ebenso die zunehmende Marktförmigkeit von Kunst wie die Grenzen der Kritik als ungewollte Form der Systemstabilisierung. Es sind gerade die autoritären Tendenzen, die sich in immer mehr Ländern auch in Europa bemerkbar machen, die noch einmal auf eine herausragende Funktion moderner Kunst als ein Lackmus-Test für die Liberalität demokratischer Verfasstheit hinweisen. Immerhin müssen wir uns – ganz im Gegensatz zur vorgetragenen Indienstnahme von Kunst für den gesellschaftlichen Fortschritt – mit der Tatsache konfrontieren, dass Kunst als ein politisches Medium heute vor allem für eine neue Rechte zur Wiedergewinnung nationaler kultureller Hegemonie an Bedeutung gewinnt. Das wird besonders deutlich im Nachbarland Ungarn, nicht zu reden von Russland, wenn kritische Stimmen systematisch vernichtet werden, um so alle anderen auf politisch genehmen Kurs zu bringen.

Und was ist, wenn Kunst heute vor allem zur Inszenierung von politischem Rückschritt in den Dienst genommen wird? – Neue ästhetische Experimentierfelder als Reaktion

Selbst bei bestem Willen werden sich heute nur mehr wenig Befürworter*innen für die These finden lassen, Kunst wäre – wie das noch in den 1990er Jahren propagiert wurde – wenn schon nicht Antriebsmittel so doch Seismograph für die wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen. Und sei so als solche in der Lage, den Zeitgeist nachhaltig zu beeinflussen. Da haben die letzten 30 Jahre einer inspirationslosen Kulturpolitik, die den Kulturbetrieb weitgehend den Marktkräften ausgeliefert hat zu viel kaputt gemacht. Die Folgen lassen sich sowohl anhand der zunehmenden Randständigkeit des Publikums als auch anhand des massenhaften Ausbleibens des Publikums unschwer nachvollziehen.

Abseits eines ebenso nostalgischen wie defensiven Mainstreams aber deuten sich neue Suchbewegungen an, die am Ende Misiks These doch noch retten könnten. So fällt ein zunehmender Wille einer neuen Generation von Künstler*innen auf, neue Experimentierfelder aufzusuchen und damit aus der traditionellen Isolation herauszutreten. Sie sind drauf und dran, das traditionelle Bild vom ausgesetzten Künstler-Genie ad acta zu legen und neue Kooperationen und Allianzen sowohl untereinander als auch mit Vertreter*innen neuer sozialer Bewegungen einzugehen. Um sich gesellschaftlich einzumischen und Wirksamkeit zu entfalten. Dies betrifft Fragen der Menschenrechte und der Demokratieentwicklung ebenso wie des Gemeinwohls, von Klimawandel, Zukunft der Arbeitsgesellschaft, Energie- und Ressourcen-Nutzung, Konsumverhalten und Nachhaltigkeit, also all die Fragen, die breite Teile der Gesellschaft betreffen und beschäftigen. Künstler*innen kommt dabei nicht die Aufgabe eines neuen Fachexpert*innentums zu, sondern die Fähigkeit, mit ihrer ästhetischen Expertise konkrete Dienstleistungen zu erbringen, neue Öffentlichkeiten zu schaffen. Um damit zwischen den Akteur*innen zu vermitteln, um neue, unkonventionelle Lösungen zu motivieren.

Für diese vielfältigen, oft noch sehr ungesicherte künstlerische Praxis bräuchte es jede Menge von Advocacy. Und darüber würde ich gerne in einem der nächsten Texte von Robert Misik weiterlesen.

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