Ein paar Überlegungen zur Lektüre von Bruno Latours Manifest „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“

Zuletzt war in der veröffentlichten Meinung viel von „gespaltener Gesellschaft“ die Rede: Auseinandersetzungen rund um die Corona-Impfpflicht, Inflationsbekämpfung, Verschärfung der sozialen Ungleichheit oder um die Bekämpfung der Klimakrise dienten jeweils als Aufhänger, um das wachsende Auseinanderbrechen der Gesellschaft zu konstatieren.

Die Kassandra-Rufer*innen über ein drohendes Auseinanderbrechen vergaßen nur zu gerne, dass das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Interessen kein besonderes Phänomen der Gegenwart darstellt, sondern der Idee von „Gesellschaft“ von Anfang an eingeschrieben ist; wir also davon ausgehen müssen, dass die Unterschiedlichkeit von Haltungen, Interessen, Ansprüchen oder Erwartungen samt der daraus resultierenden Konflikte ihr Wesenselement darstellt.

Mit der „Erfindung“ der Demokratie wurde eine politische Arena geschaffen, um dieser Unterschiedlichkeit nicht nur gebührend Ausdruck zu verleihen, sondern Verfahren zu entwickeln, mit denen die Austragung konflikthafter Gegensätze zugunsten von Kompromissbildungen in geregelte Bahnen gebracht werden konnten. Dies erscheint bis heute der fundamentale Vorteil gegenüber autoritären Herrschaftsformen, die darauf abstellen, die Interessen nur einer sozialen Gruppe über die aller anderen zu stellen bzw. diese allen anderen – und sei es gewaltsam – zu oktroyieren.

Demokratie zwischen Interessenskonflikten und Hegemonieansprüchen

Im Rückblick war die Geschichte der Demokratie des 20. Jahrhunderts stark durch Blockbildungen gekennzeichnet. Die unterschiedlichen sozialen Gruppen formierten sich zu Klassen entlang der herrschenden Produktionsverhältnisse. Sie beschränkten sich nicht darauf, ihre Position im jeweils aktuellen gesellschaftlichen Gefüge zu verbessern. Auf der Grundlage theoretischer Konzepte (Ideologien) verstanden sie sich als Avantgarde einer künftigen besseren Welt für alle, in der sie als hegemonialer Akteur den Ton angeben würden. Dies galt in Österreich ebenso für den rückwärtsgewandten und katholisch durchdrungenen Nachkriegskonservativismus ebenso wie für die in den 70er und 80er Jahren dominierenden Sozialdemokratie, die jeweils davon ausgingen, die gegebenen Unterschiede früher oder später unter ein gemeinsames ideologisches Dach zu zwingen. Bis dahin sollte eine informell organisierte und doch höchst wirkungsvolle Sozialpartnerschaft dafür sorgen, den Klassenkampf nicht eskalieren zu lassen und mit dem Rückenwind eines Wachstumsglaubens den immer größeren Kuchen an materiellen und symbolischen Gütern halbwegs gerecht zu verteilen.

Von der Ideologie zur Identität

Es blieb den neoliberalen Kräften nach 1989 vorbehalten, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes das Klassenbewusstsein als zentrale gesellschaftliche Organisationsform zu unterminieren und an seine Stelle den Primat des Individualismus zu setzen. Seither können wir eine immer weitere Schwächung handlungsleitender Weltanschauungen, die sich aneinander reiben, beobachten. Auf der Grundlage der Entfesselung kapitalistischer Marktkräfte ist an ihre Stelle der Primat des individuellen Fortkommens getreten, das sich im Konkurrenzkampf jede*r gegen jede*n zu bewähren hat. In einer Gesellschaft der „Singularitäten“ (Andreas von Reckwitz) zählt seither nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer Klasse, sondern die Fähigkeit, sich auf eigene Faust in zunehmend unübersichtlichen Interessenskonstellationen zurecht zu finden bzw. sich im Anschluss an temporären, zunehmend losen Allianzen Vorteile zu verschaffen.

Die Konsequenzen zeigen sich einerseits in einer schleichenden Verunsicherung zumindest all derer, die sich von diesen Auflösungserscheinungen tendenziell bedroht fühlen. Sie beklagen ein mangelndes Gefühl der Zugehörigkeit, dem sie sich als Für-sich-Gestellte nicht gewachsen fühlen. Dieser Mangel geht einher mit dem Verlust Gemeinschaft stiftender Weltanschauungen, die bislang das Bedürfnis nach einer besseren Zukunft zu stillen vermocht haben. Das schafft in weiten Teilen der Bevölkerung einer Gefühl wachsender Politikmüdigkeit. Immer mehr nicht nur junge Menschen sehen sich politischen Parteien gegenüber, die sich im pragmatischen Handeln erschöpfen und keinerlei Zukunftsperspektive mehr anzubieten vermögen.

In dem Maß, in dem die traditionellen Weltanschauungsparteien sich nicht mehr in der Lage sehen, ein überzeugendes Angebot für ihre Wähler*innenschaft zu erstellen, nutzen rechtspopulistische Gruppierungen die Gunst die Stunde, um mit Identitätskonzepten noch einmal Stolz auf eine bessere Vergangenheit und damit exklusive Sicherheit in der Gegenwart zu vermitteln. Sie tun das in erster Linie in Abgrenzung zu all denjenigen, die sie als bedrohende Kräfte identifiziert haben. Nach innen sind das all diejenigen liberalen Kräfte, die für eine Gesellschaft der Singularitäten stehen, will heißen, für eine gesellschaftliche Verfasstheit der Diversität, in der unterschiedliche Lebens- und Arbeitsentwürfe gleichberichtigt nebeneinander existieren können und in demokratischen Aushandlungsprozessen auf Kompromisse verwiesen sind. Nach außen orten sie ihre Gegner in Asylant*innen und Zuwander*innen, von denen sie behaupten, sie würden die Unterschiedlichkeit der nationalen Gesellschaften noch weiter vorantreiben, allenfalls sogar die bestehenden Ungleichheitsverhältnisse in ihrem Sinn beeinflussen.

In der Konsequenz sind es die Rechtspopulist*innen, die zurzeit als einzige eine nachvollziehbare Weltanschauung, zumindest ex negativo, anbieten, der zufolge mit der Rückkehr in die engen Grenzen homogener Nationalstaatlichkeit die wachsenden Unterschiede eliminiert werden können. Ihr zentrales Betriebsmittel ist der Anspruch auf „Identität“ und damit die geschürte Angst, angesichts der neuen Unübersichtlichkeit eine vermeintlich bessere Vergangenheit zu verlieren.

Rechtspopulismus als Angriff auf die Demokratie zwischen Renationalisierung und Neo-autoritarismus

Sie spielen damit brillant auf der Klaviatur politischer Widersprüche, wenn sie einerseits – vorwiegend auf ethnischer Grundlage – das Geschäft der Renationalisierung betreiben. Und andererseits gerade dadurch neue gesellschaftliche Bruchlinien innerhalb der nationalen Grenzen erzeugen, wenn sie einen politischen Keil zwischen sich als selbsternannte Repräsentant*innen des Volksganzen („Wir sind das Volk!“) und den verbleibenden Kräften einer liberal verfassten Demokratie, die für sie unverbrüchlich auf den Grundlagen von Diversität und Pluralität ruht („Wider die liberalen Eliten“).

Wenn sich also der Eindruck von der „gespaltenen Gesellschaft“ verstärkt, so liegen die Gründe vorrangig darin, dass sich Vertreter*innen gesellschaftlicher Vielfalt und solcher gesellschaftlicher Einheitlichkeit zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen. Die Gefahr besteht demnach nicht in der schieren Existenz von unterschiedlichen Interessen, die in demokratischer Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden sollen, sondern in zunehmend totalitären Ansprüchen auf beiden Seiten, für die gesamte Gesellschaft zu sprechen und zu handeln – und damit im Verlust einer gemeinsamen Sprache, die eine neue Blockbildung überwinden helfen könnte.

Das aber bedeutet, dass nicht mehr verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Weltanschauungen in der politischen Arena um die Vorherrschaft kämpfen, sondern zwei prinzipiell unterschiedliche Zugänge zum Konzept von Gesellschaft, was den Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus (der in anderen europäischen Ländern längst ausgebrochen aber auch in Österreich mit dem System Kurz erstmals strategisch erprobt worden ist) immer wahrscheinlicher werden lässt.

Über den Zerfall der Gesellschaft in immer kleinere Teile und der Rekonstruktion einer neuen politischen Klasse

Diese demokratiepolitischen Überlegungen seien der Lektüre von Bruno Latours Memorandum „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ vorangeschickt. Zusammen mit Nikolaj Schulz hat sich der französische Soziologe kurz vor seinem Tod im Oktober 2022 noch einmal mit dem Aufkommen und politischem Wirksamwerden ökologischer Bewegungen auseinandergesetzt (Eine Kurzfassung mit dem Titel „Für die Bewohnbarkeit des Planeten: Wie die ökologische Klasse entsteht“ ist zuletzt in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschienen.

Wenn die Demokratieentwicklung vor allem der Zeit nach 1945 von der Klassen- zur Vielfaltsgesellschaft grundiert war durch die scheinbare Alternativlosigkeit kapitalistischer Wachstumsstrategien so deutet sich seit geraumer Zeit eine fundamentale Disruption an, anhand derer alle Gewissheiten eines unverbrüchlichen Modernisierungsglaubens brüchig werden. Mit dem Kürzel der drohenden „Klimakatastrophe“ verschwinden alle Hoffnungen einer besseren Zukunft in einem Meer der Unsicherheit und Angst.

Während eine kleine Schar junger Menschen sich dran macht, das öffentliche Bewusstsein mit spektakulären Aktionen zu sensibilisieren, verharrt die Gesellschaft als Ganzes in quälender Untätigkeit. Selbst ihre führenden Repräsentant*innen vermitteln die Botschaft, dass sie etwas tun sollten und doch nichts bzw. viel zu wenig können. Dies hinterlässt einen zunehmend desillusionierenden Eindruck des Politischen, von dem immer weniger Zukunftsfähigkeit auszugehen scheint. Stattdessen hat sich ein komplexes Gemisch aus Haltungen, Gewohnheiten, Affekten und Analysen zur möglichsten Aufrechterhaltung des Status quo in breiten Teilen der Bevölkerung breitgemacht, die sich in den Jahren abgenutzt und in Bezug auf Gestaltungsfähigkeit eine beträchtliche Entwertung erfahren hat.

Das Ergebnis ist eine allgemeine „Handlungslähmung“, für die die beiden Autoren zumindest partiell die ökologische Bewegung selbst verantwortlich machen. Diese würde sich allzu sehr auf die grünen Parlamentsparteien verlassen und – aus Gründen des Machterhalts bis auf wenige Ausnahmen – den Konflikt und die damit verbundenen Kulturkämpfe zu vermeiden suchen.

Als die Produktivkräfte zu Zerstörungskräften mutierten

Sich an marxistischen Theorien orientierend ist der Ausgangspunkt ihrer Analyse das Heraufkommen des „Anthropozäns“ (siehe u.a. Eva Horn und Hannes Bergthaller: „Anthropozän zur Einführung“), damit des Zeitalters, in der die Gattung Mensch die Herrschaft über die Natur so weit vorangetrieben hätte, dass diese mit unabsehbaren Folgen zurückschlagen würde.

Geht es nach Latour und Schultz, dann sei das herrschende Produktionssystem gerade dabei, sich in ein Zerstörungssystem zu verwandeln, dass die Existenzbedingungen der gesamten Menschheit infragestellt. Seine Analyse der bestehenden Beziehungen von Mensch und Natur läuft bereits jetzt auf die Bezeichnung „Kriegszustand“ hinaus. Innerhalb dieses ließen sich freilich eindeutige Grenzziehungen zwischen Freunden und Feinden nur schwer ziehen. Dies sei auch der Grund, warum sich klare Handlungsanweisungen politisch nur sehr schwer durchsetzen ließen. Der Widerspruch beträfe die Zeitgenossenschaft elementar: „Bei einer ganzen Menge von Themen sind wir selbst gespalten, sind wir zugleich Opfer und Komplizen.“

Ungeachtet der herrschenden Schizophrenie, der sich die globale Bevölkerung im Nachklang einer viele hundert Jahre eingeübten Unterwerfungsstrategie ausgesetzt fühlt, rufen Latour und Schultz eine sich gerade konstituierende neue “ökologische Klasse” auf die Barrikaden. Eine solche habe sich – wie ihre am Marxismus geschulten Vorgänger*innen – an einer Kritik der herrschenden Produktionsverhältnisse zu orientieren, deren negativen Folgen diesmal nicht nur die unmittelbar am Produktionsprozess Beteiligten betreffen, sondern alle Menschen, die die Erde bevölkern, wenn auch in ungleicher Weise. Im Zuge des Versuchs, „den Sinn der Geschichte neu zu schreiben“ sehen die Autoren einen neuen Klassenkonflikt heraufziehen, der die Beziehung zwischen dem Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen und einem Produktionssystem, das immer weniger Fortschritt und stattdessen immer mehr Zerstörung verspricht, zum Gegenstand hat.

Der Auftrag an die neue Klasse: Den Sinn von Geschichte neu schreiben!

Die zentrale Aufgabe, die Latour und Schultz der neuen Klasse mitgeben, laufe darauf hinaus, „die Welt, in der wir leben und die Welt, von der wir leben, in ein und demselben Raum miteinander zu verbinden.“ In dem Zusammenhang plädieren sie für eine Wiederaufnahme des „Prozesses der Zivilisation“ (Norbert Elias), der im Zuge wachsender Arbeitsteilung der Moderne zunehmend verraten worden sei: „Ähnlich wie die aufsteigende bürgerliche Klasse der Aristokratie deren allzu enge Wertvorstellungen angekreidet habe, spricht die neue ökologische Klasse den alten früheren Klassen ihre Legitimität ab, da sie durch die Krise gelähmt und außerstande sei, für das Abenteuer der modernen Politik einen glaubwürdigen Ausweg zu finden.“ (Die Amerikanistin Ruth Mayer hat dazu zuletzt einen gedankenreichen Beitrag geliefert: „Zurück! Krise, Kritik, Academia“).

Dazu gilt es, die Vorstellungen von „Kultur“ und „Natur“ neu zu denken

Der Auftrag an eine sich neu formierende ökologische Klasse verweist möglicherweise auch auf fundamentale Veränderungen des Begriffsinstrumentariums, wenn vieles dafür spricht, angesichts der langen Tradition kategorialer Trennungen zwischen „Natur“ und „Kultur“ im Zuge der Moderne eine Neubestimmung zu versuchen. Immerhin dient in unser aller Selbstverständnis „Kultur“ bislang als das zentrale Merkmal, das den Menschen vom Rest der “Natur” unterscheidet. Um damit – gewollt oder ungewollt – die konzeptionellen Grundlagen dafür zu schaffen, sich über die „Natur“ zu erheben, diese nach menschlichem Belieben umzugestalten und sich „untertan zu machen“. Und jetzt immer deutlicher darauf gestoßen zu werden, dass es genau diese kulturellen Ansprüche sind, die sich gegen ihre Träger*innen richten, in dem sie die Lebensgrundlagen des Naturwesens Mensch untergraben.

Und die „Natur“ in ihr ästhetisches Recht zu setzen

In dem Zusammenhang fällt den beiden auf, dass die ökologischen Parteien auf der künstlerischen Bühne bislang erschreckend abwesend sind oder nicht über die künstlerische und intellektuelle Ausstrahlung der alten Parteien verfügen. Auch sie gehen offenbar noch von einer kategorialen Trennung der Begrifflichkeiten aus, wenn sie meinen, die Kultur ruhig vernachlässigen zu dürfen, da sie sich ja schließlich um die Natur kümmern würden. Und dabei nicht begreifen, dass es sich bei dem, was sie als „Natur“ bezeichnen, selbst um einen Ausdruck von „Kultur“ handelt. Latour und Schultz selbst plädieren für einen neuen Kulturbegriff, den es erst zu entwickeln gilt, der sich aber in jedem Fall als Ausdruck von wissenschaftlich untermauerten Humanwissenschaften lesen lassen sollte.

Im Gegensatz zu den etablierten Grün-Parteien ticken die jungen Aktivist*innen der „letzten Generation“ kulturpolitisch da schon anders. Sie wissen nur zu gut um den herausragenden Aufmerksamkeitswert künstlerischer Artefakte, die sie zum symbolischen Ausgangspunkt ihrer Strategien machen. Auch wenn sie damit für heftige öffentliche Kontroversen sorgen. Oder gerade deswegen.

Die beiden Autoren sehen durchaus eine beträchtliche Differenz zwischen ihren eigenen Ansprüchen einer klaren politischen Zukunftsorientierung und den gesellschaftlichen Realitäten. Immerhin wird der Gesellschaft nicht mehr und nicht weniger abverlangt als zu lernen, „den fälligen Verzicht zu leisten und zu bejahen, um die Welt, in der wir künftig leben wollen, und die Welt, von der wir leben, in Einklang zu bringen.“

Realiter gibt es noch wenige reale Anzeichen für das Entstehen einer neuen ökologischen Klasse. Was wir zur Zeit erleben, das sind diffuse Kämpfe auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen, die das Publikum auf immer neue Weise zwischen Hoffnung (siehe dazu das jüngst verabschiedete Artenschutzprogramm der Vereinten Nationen) und Defätismus (Nach ausgewählten Studien ist der „Point of no-return längst erreicht“). Keine optimalen Voraussetzungen für die Reformulierung eines überzeugenden Fortschrittskonzepts, das stark genug wäre, um der Geschichte noch einmal einen neuen Spin zu verleihen.

Aber das hätte man von den Ziegel-Böhm am Rand von Favoriten auch sagen können, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter heute undenkbaren unmenschlichen Bedingungen ihr Leben gefristet haben, ohne je auf Verbesserung hoffen zu können. Und unter Anleitung einer klugen politischen Führung doch sukzessive zu einer neuen Klasse aufgestiegen sind, die nach vielen Kämpfen den Weg ins Parlament gefunden und als politische Kraft den modernen Gesellschaften ihren Stempel aufgedrückt hat.

Auf dem Programm steht ein „Staat der Ökologisierung“

Vieles spricht für die Vermutung, dass die Viktor Adlers von heute längst die Bühne betreten haben (das Engagement vor allem junger Frauen, wie Carla Rochel oder Lena Schilling machen mich sicher. Ihr Mut, ihre Direkt- und ihre Unverfrorenheit, sich im öffentlichen Diskurs unerschrocken der alten Garde der Bedenkenträger*innen argumentativ entgegenzustellen, ist ebenso beeindruckend wie beispielgebend.) Entscheidend wird sein, ob es ihnen gelingt, ihren außerparlamentarischen Status zu überwinden und im Rahmen demokratischer Prozesse mit anderen politischen Kräften in Beziehung zu treten. Dies wäre die notwendige Voraussetzung, um die die diffusen Zukunftsängste von immer mehr Menschen in eine überzeugende politische Strategie zu übersetzen, die am Ende darauf zielt, einem Staat des Wiederaufbaus, der Modernisierung und der Globalisierung einen Staat der Ökologisierung hinzuzufügen.

Die Zukunft im Spannungsverhältnis zwischen einer neuen ökologischen Klasse der Veränderer*innen und autoritärer Restauration der Bewahrer*innen

Den obigen demokratiepolitischen Überlegungen folgend deuten sich schon in nächster Zukunft zwei höchst unterschiedliche Szenarien an: Das eine sieht in der Entstehung einer neuen ökologischen Klasse (samt damit verbundener Repolitisierung und Reideologisierung namhafter Teile der Gesellschaft auf der Grundlage einer, für alle gleichermaßen geltenden wissenschaftlichen Erkenntnissen) einen wesentliche Energiezufuhr zur Erneuerung des liberal-demokratischen Systems. Dieses würde u.a. gestärkt im Versuch, unter der Nutzung avancierter technologischer Kommunikationsformen neue Konfliktaustragungsformen zu erproben und zu implementieren (siehe etwa die Einrichtung von „Klimaräten“).

Das andere läuft auf eine weitere Verschärfung autoritärer Tendenzen. Deren Wortführer*innen verweisen in einer rhetorischen Endlosschleife auf die Unfähigkeit von demokratischen Entscheidungsprozessen, wirkungsvolle Antworten auf die drohende Klimakatastrophe zu finden. Also bliebe nichts anderes übrig, als die mühsamen demokratischen Aushandlungsprozesse außer Kraft zu setzen, um einmal mehr einem „starken Mann, der das Volk vertritt“ das Gesetz des Handels an die Hand zu geben. Darauf hoffend, dass dieser (bzw. die ihn stützende soziale Gruppe) in der Lage wäre, die gegenwärtige Handlungslähmung aufzubrechen und allen anderen Interessensträger*innen die anstehenden Veränderungen ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse mit dem Argument eines „Überlebenskampfes“ aufzuzwingen. Das Scheitern kann schon jetzt vorausgesetzt werden.

Die zu erwartende Beschädigung der Gesellschaft könnte nicht größer sein: Der Verlust demokratischer Errungenschaften verbände sich mit dem Verlust gedeihlicher Lebensgrundlagen.

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