ASK A FAT GIRL: Darf man den Dicken gar nicht mehr sagen, dass sie fett sind?

Der englische Hypnosetherapeut Steven Miller hatte die gute Idee, einen Tag auszurufen, an denen man seinen Freunden und Verwandten sagen soll, dass sie dick sind. Ich finde das toll, und verstehe nicht, warum der Mann so kritisiert wird – genau wie Fernsehstar Katie Hopkins, die wegen ihrer Zunehm- und Abnehmshow angefeindet wird. Dabei sagen die beiden doch nur die Wahrheit. Warum darf man Dicken auf einmal nicht sagen, dass sie fett sind? Das hilft ihnen doch beim Abnehmen, oder?

In Ihrer Frage verstecken sich nicht nur ein, sondern gleich mehrere dicke, fette Denkfehler.

Irrtum Nummer eins: Dicke wissen nicht, dass sie dick sind, oder sie belügen sich selbst.

Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen zu Hause aussieht, aber ich habe ein paar große, silbrig beschichtetes Glasdinger zu Hause, in ies ich regelmäßig reinschaue (man nennt so etwas einen Spiegel, und eigentlich alle Dicken, die ich kenne, haben so was auch zu Hause und benützen es auch). Und meine Kleider sind auch nicht aus einem magischen Elfenstoff gewebt, der sich dehnt bis ins Unendliche …

Ok. Ironie aus.

Ich bin nicht dünn. Ich weiß es. Und alle anderen Dicken wissen es auch. Wir haben es tausende und aber tausende Male gehört, oft schon in der Kindheit oder in den Teenagerjahren. Aus den Medien, von Modeherstellern, von Diätfirmen und Lebensmittelproduzenten. Von Ärzten, die einem eine Diät vorschlagen, wenn man wegen einer Allergie auf eine Bodylotion oder eines gebrochenen Zehs zu ihnen kommt (kein Scherz). Wir hören es von Freunden und Verwandten, von Fremden auf der Straße. Die amerikanische Bloggerin und Plus Size Sportlerin Ragen Chastain hat mal ausgerechnet, dass ein Mensch in den USA pro Jahr im Schnitt mit über 300 000 Anti-Fett-Botschaften konfrontiert wird. In Europa ist die Situation auch nur marginal besser.

Gut, dicke Menschen sind in den letzten Jahren etwas sichtbarer, es gibt vereinzelt auch positive Artikel über runde Fashionistas, runde SportlerInnen oder Dicke, die sich und ihr Leben nicht völlig hassen. Dass die Stimmen in Sachen fat acceptance zumindest hin und wieder zu hören sind, erzeugt bei manchen Menschen aber offenbar den Eindruck, dicke Menschen lebten in einer Art Wunderwelt-Blase voller freundlicher, Torten servierender Einhörner, in der niemand sie kritisiert und wo nichts an sie rankommt. Dass es normale Menschen glauben, ist schlimm genug. Dass auch selbst ernannte oder tatsächliche Experten so wenig mit Dicken reden, dass sie diesem Blödsinn aufsitzen, ist geradezu tragisch (und Material für einen eigenen Artikel).

Ich höre jetzt den Aufschrei: aber wenn die Dicken es wissen, warum unternehmen sie denn nichts gegen ihren Speck? Und das hier lauert Denkfehler Nummer zwei, nämlich davon auszugehen, dass pures Bewusstmachen reicht, um eine Änderung hervorzurufen, und dass man einfach nur laut genug schreien müssen, damit diese faulen Dicken aufwachen und sich brav in superschlanke Fitnesscenter-Afficionados verwandeln. Das zu glauben, ist bestenfalls naiv. Viel sinnvoller wäre es, sich zu fragen, warum Menschen etwas wissen und nichts unternehmen, ob diese Annahme überhaupt so stimmt und – ganz wichtig – warum alle glauben, dass die Dicken sich um jeden Preis ändern müssen.

Der Glaube, der rund um dicke Menschen herrscht, lautet, sehr vereinfacht: fett ist gleich faul und verfressen ist gleich krank. Und das stimmt so einfach nicht. Zwar haben Menschen, die mehr wiegen, ein höheres Risiko für gewisse Krankheiten, zwischen „es besteht ein höheres Risiko“ und „dick ist gleich ungesund“ liegen Welten. Außerdem streiten sich die Experten, woran das genau liegt, und gibt es inzwischen mehr und mehr Hinweise, dass (außer vielleicht in Extermfällen) für die Gesundheit gewisse Gewohnheiten viel wichtiger sind als das Gewicht.

Dick ist auch nicht gleich dick, und dass rundere Menschen nur faul am Sofa liegen, ist ein böses, wenn auch leider weit verbreitetes Gerücht. Die Gründe, warum Menschen zunehmen, sind vielfältig und reichen von Essstörungen über Genetik, Hormonstörungen, Depressionen, Stress bis zu den Spätfolgen von Diäten. Genau. Diäten machen dick. Und viele – ich behaupte, die Mehrheit der Dicken – schon mehrmals versucht hat, „etwas zu unternehmen“, nämlich den klassischen und im Endeffekt schädlichen Weg von Diäten und Zwangssport, mit relativ verheerenden Ergebnissen. Auch, wenn selbstgerechte Schlankheitsapostel es nicht gerne hört: viele Dicke haben Jahre und Jahrzehnte mit Diäten verbracht, und es hat in der Regel mehr geschadet als genützt – übrigens noch ein Grund, warum die Experten endlich mit uns reden sollten statt immer nur ohne uns.

Manche Dicke haben auch aus seelischen Gründen zugenommen – und dass man genau diesen Menschen mit Stress, Demütigung und Diätdruck mehr schadet als hilft, sollte eigentlich auf der Hand liegen (es gibt inzwischen auch einige seriöse Untersuchungen, die belegen, dass fat shaming dazu führt, dass Menschen zunehmen).

Dazu kommt, dass nicht wenige Dicke tatsächlich „etwas unternehmen“, also Sport treiben, sich vernünftig ernähren und auch sonst auf sich aufpassen, und davon zwar gesund bleiben oder werden, aber nicht (oder nur kaum) dünner. Schade nur, dass so viele Menschen immer noch dem Irrglauben nachhängen, dass gute Ernährung und Sport gleich Abnehmen bedeutet, und das Bild von gesunden, fitten Dicken ihren Vorstellungshorizont übersteigt. Das ist insofern tragisch, da es- siehe oben – mehr und mehr Hinweise gibt, dass es in Sachen Gesundheit weniger um das Gesicht geht als um den Lebensstil.

Leuten wie Katie Hopkins oder dem Herrn Hyponoseguru ist die Gesundheit der Menschen aber so wie so egal. Es geht ihnen nur darum, um jeden Preis Geld zu verdienen, oder mit allen Mitteln im Mittelpunkt zu stehen. Dass die Medien das auch noch unterstützen, ist eigentlich traurig …

Um also auf die Anfangsfrage zurückzukommen: nein, es ist nicht ok, einem dicken Menschen zu sagen, dass er fett ist. Wir wissen es selbst. Und es ist nicht schlimm, wenn die Welt es uns nicht ständig unter die Nase reibt, und wenn immer mehr Dicke lernen, sich so zu mögen, wie sie sind. Und wissen Sie, warum? Weil Selbstliebe dazu führen kann, sich sanft von eventuellen Gewohnheiten zu lösen, die einem nicht gut tun, und mit neuen Gewohnheiten zu experimentieren (googeln Sie einmal Health At Any Size). Ganz logisch, eigentlich, denn worauf passt man besser auf? Auf etwas, was man hasst und mit dem man sich unwohl fühlt, oder auf etwas, das man schätzt und liebt? Eben.

Gibt es etwas, das man tun kann, um dicke Menschen zu unterstützen? Durchaus. Man kann sich zum Thema Health At Any Size informieren, statt sich in gespielter Besorgnis zu üben. Man kann über das Bild dicker Menschen in den Medien und seine eigenen Vorurteile nachdenken. Und für den Anfang würde es reichen, blödsinnigen Aktionismus wie Frau Hopkins oder Herr Miller zu unterlassen, und endlich einmal mit uns zu reden, statt immer nur über uns …

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