rst-vademecum 34 für 2017

bloßes grübeln macht uns krank

bitterböses kreisverkehren

zeitgeistkübel die vergären

und zum schluss bleibt zoff und zank

weiß wer wie titanic sank

kann er auch das all belehren

wo sich tausend gründe queren

schwindet nichts im schredderschrank

und wer schwächelt kann nicht zehren

früher half das hirn zu leeren

dass man fliegenpilze trank

dass wir wieder wildwuchs werden

statt empörer mit beschwerden

hilft uns nur gedankengang

Von C.G. Jung stammt der schöne Satz, dass Denken schwer sei und dass darum die meisten Menschen urteilen. Dürfte man für urteilen, das noch einigermaßen neutral klingt, das alte Wort richten einsetzen, dann hätte man den Kommentarteil ganzer sogenannter sozialer Medien - gibt es denn auch asoziale Medien? - auf einen Satz heruntergebrochen. Indes gibt uns das Vademecum 34 einen anderen Ausweg nicht nur zu bedenken, sondern auch zu begehen: das Grübeln. Wer grübelt nicht, aber wer weiß nicht auch, dass Grübeln endlos ist, eine Schleife, ein bitterböser Kreisverkehr ohne Ende. Dabei ist ein Kreisverkehr eigentlich hilfreich, besser, kürzer, optionaler als eine Kreuzung mit oder ohne Vorfahrt. In der barocken Manier der Hyperbel werden die Endlosschleifen des Grübelns mit den sprichwörtlichen Kübeln (achten Sie auf den Binnenreim!) voller Unrat, in diesem Fall des Zeitgeists, verglichen. Wer einen solchen Kübel voll Zeitgeistscheiße je auf den Kopf geschüttet erhielt, weiß, dass er ohne Zank, Zoff, Streit und vielleicht sogar Hass nicht wird weiterleben können. Die für die ersten beiden Quartette (Vierzeiler) eines Sonetts übliche Aufzählung der Schlechtigkeiten der Welt wird diesmal, es ist immerhin das vierunddreißigste Mal, mit einer Betrachtung über die Dummheit oder jedenfalls Sinnlosigkeit der Warumfragen fortgeführt. Die vermeintliche oder tatsächliche Bösartigkeit der Welt wird also hier in den immer sinnlos wiederholten Fragen gesehen. Zwar sind Fragen an sich weiterführender als Antworten, die auf ein Ende, einen Abschluss, eine Lösung hindeuten, aber Fragen zu stellen, die keiner beantworten kann, ist genauso falsch wie Antworten zu geben, die zur vorschnellen Befriedung führen. Das ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis. In seiner berühmten Antrittsvorlesung ‚Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?‘ hat Prof. Dr. Dr. Schiller seinen Studenten in einer schier endlosen Aufzählung vor Augen zu führen versucht, wieviele, nämlich unendliche viele, Elemente notwendig wären, die Frage nach dem WARUM zu beantworten. Sein bildhafter Vergleich war die einfach erscheinende Frage: Warum wir hier in diesem Raum zu dieser Stunde zusammenkamen? Spielen Sie diese Frage einmal auf einer der nächsten Silvesterpartys durch, gerne auch mit ein paar Flüchtlingen, die Sie hoffentlich dazu eingeladen haben. Das Vademecum nimmt nun genauso launig die Frage als Beispiel, dass, wer wüsste, warum und wie die Titanic sank, auch das All mit all seinen Alliterationen belehren könnte, das der Lenker aller Dinge geschaffen haben mag, wenn es ihn gibt, und hier verbietet sich der fast schon abgestorbene Konjunktiv, weil der wahrhaft Glaubende durch ihn verletzt sein könnte. Überall queren sich Gründe und Wirkungen. Im postfaktischen Zeitalter, von dem einige glauben, dass es als Antimerkelismus jetzt erst begann, das aber genauso alt ist wie das faktische Zeitalter, verwechseln so viele Menschen die Tatsache mit der Meinung. Man kann sich jeden Fakt in Sekundenschnelle – wir wollen nicht sagen: beschaffen, dazu bedürfte es eines online-3-D-Druckers – vergegenwärtigen, genauso schnell sind Meinungen eingeholt, aber jetzt kommt das wirklich Neue: jede noch so absurde Meinung wird auch in Sekundenschnelle bestätigt. Wir können also kiloweise Meinungen produzieren und vernichten, Sekunden später sind sie wieder auferstanden (sozusagen aus den Ruinen des Aktenschredders [erinnern Sie sich ruhig einmal an die Monate und Jahre nach 1990, als Kilometer über Kilometer Akten von ihren fassungslosen Verfassern zerrissen und dann von arbeitslosen Losern wieder zusammengeklebt wurden]), das Echo hallt aus dem Netz wider. Wenn Storm noch Nachtigall auf Widerhall reimte, so reimt sich Stordeur heute Schredderschrank und Netzecho zusammen.

Das Sonett folgt seit der Renaissance strengen Regeln. Das rst-vademecum spielt seit vierunddreißig Jahren mit den Regeln und dem streng gegliederten Inhalt, aber auch darin folgt es nur den Vorbildern. Nach den beiden Quartetten erscheinen die beiden Terzette (Dreizeiler). Sie wechseln langsam zu der erwünschten Erkenntnis, die in diesen Neujahrsgedichten ironisch dazu aufrufen, dem Autor gedanklich zun folgen. Früher war das Vademecum ein Lehrbuch, eine Prüfungsvorbereitungskladde, im englischen Sprachraum gar eine Lebensanweisung für Lehrlinge von Samuel Richardson, dem Erfinder des Briefromans, des Frauenromans und des Liebesromans. Diese, auch wieder ironisch gemeinte Aufforderung beschränkt sich diesmal auf die letzte Zeile, allerdings wird in der vorletzten Zeile auch schon vor Empörern mit ihren ewigen Beschwerden gewarnt. Empörer hat es natürlich schon immer gegeben. Das Geschwafel der Wasch- oder Marktweiber war sogar einem einzigen Geschlecht zugeordnet, das damals zur faktischen Untätigkeit verurteilt war, aber war es auch zur Meinungslosigkeit gezwungen? Vielmehr können wir, und die Brüder Grimm sind unsere Zeitzeugen, davon ausgehen, dass das Narrativ bei den Frauen so gut aufgehoben war, dass der Ort des Erzählens zum Substantiv des kreativen Tuns wurde: die Spinnstube, das Spinnrad, das Spinnen. Die Gleichheit der Tätigkeiten der Spinnerin und der Spinne führte auch zu dem antihierarchischen Gedanken des Netzes, der Vernetztheit, der Gleichrangigkeit aller Gedanken und Fakten und ihrer mystischen, heute elektronischen, Verbundenheit. Man kann die Spinne täuschen, indem man statt durch eine Fliege, musca domestica, durch eine Stimmgabel die Schwingung erzeugt, die die Spinne glauben macht, dass die Zeit zum Essen gekommen sei. Nicht die Vorsorge oder der vermeintliche Egoismus ist der Unterschied, sondern das soziale Netz der Vorsorge, die Breite der Nächstenliebe oder Fremdenliebe, um nicht zu sagen Feindesliebe – denn allein durch sie wird bewirkt, dass es keine Feinde mehr gibt -, aber das predigt der berühmteste Jude der Welt, der den Christen ein Heiland, den Muslimen ein Prophet, den Menschen aber anscheinend ein Gräuel ist, seit zweitausend Jahren vergeblich. Wenn dich etwas ärgert, sagte er wohl auch, reiß es aus, und unser Vademecum-Dichter dichtet dazu passend: dass und wenn man es nicht beim Empören belassen sollte, dann gingen auch die Beschwerden wie von selbst weg. Wie. Das Spiel mit dem über drei Strophen gleich bleibenden Reim wird, ganz zur Bestätigung des Inhalts im letzten Terzett in zwei Paarreimzeilen aufgegeben. Aber der Rapper hört hier mit: nur zugunsten einer Assonanz wird der Reim aufgegeben, vielleicht, um moderner zu wirken, vielleicht hofft der Autor, von Banksy an einen Zaun gesprüht zu werden, vielleicht, weil er den Inhalt dann letztendlich doch nicht nach dem Reim verbiegen wollte. Denn man muss sagen: das Barockzeitalter, wiewohl es für immer vorbei ist, war groß im Variieren und Permutieren, aber genauso unsinnig groß im Worteverdrehen. Das erste Terzett lebt von der Anspielung auf die Allgegenwart der Drogen aller Art. Solange der Mensch denken kann, vernebelt er sich sein Hirn, und muss er es auch vernebeln, denn es ist zwar von riesiger Fasskraft, aber die Welt ist größer. Der Mensch muss sortieren, ordnen, naturwidrig hierarchisieren, archivieren. Die Welt ist nicht nur zu groß für das Hirn, sondern auch zu schwer und zu böse. Jedenfalls erscheint ihm, dem kleinen Menschen, jeder zweite Stein zu schwer, jede Falle zu tief, jedes Tier zu böse, das Schicksal – falls das mehr sein sollte als die Auflistung der Lebensfakten – gegen ihn gerichtet, immer nur gegen ihn. Aber neben ihm sind noch sieben Milliarden anderer Menschen, die sieht er nicht, der kleine Mensch. Deshalb ist er klein. Aber er wird groß und größer, wenn er sich daran macht, die Welt zu malen, zu tanzen, zu schreiben, zu singen, auf dem eigens dafür gebauten Klavier nachzuspielen, auf dem Theater nachzuspielen, auf dem Fußballplatz nachzuspielen, gar auf dem Schachbrett nachzuspielen, wir haben uns so sehr in das Wort nachspielen verliebt, dass wir nicht mehr unterscheiden können, ob wir die Welt nachspielen oder die Welt uns. Denn: am Anfang war das Wort, egal ob wir jetzt glauben, dass es das Wort Gottes war oder das Wort des sich aufrichtenden Primaten, der seine Greif- und Bastelhand mit Wohlgefallen betrachtete, es ist einerlei, was wir glauben, wichtig ist nur, dass wir glauben. Denn das Glauben kommt zuerst und ist konstant, das Wissen ist dem Glauben nachgeordnet und immer historisch. Was wir gestern wussten, haben wir nicht nur vergessen, wir können es auch getrost vergessen.

Stellen wir uns vor, dass ein Yanomami-Indianer aus dem Amazonasdelta in der Berliner Philharmonie die dritte Beethoven-Sinfonie hören und niemand sich daran stören würde, dass er barfüßig und halbnackt wäre. Vielleicht würde er die für uns wunder- und leicht deutbare Musik als Lärm empfinden, als Rauschen, als einschläfernd, als Droge wie einen Fliegenpilz-Cocktail, wir wissen es nicht. Aber was wir wissen: vom unserem Genuss, vom unserem Verständnis, von unserer Interpretation trennt ihn nur sein Vorleben, so wie unser Vorleben uns von dem Verständnis der Yanomami-Musik trennt. Nur ein dummer Hierarchieglaube, der falsche Glaube, dass es über- und untergeordnete Systeme gäbe, konnte uns dazu bringen anzunehmen, dass unser Verständnis der Welt einschließlich der dritten Beethovensinfonie das bessere, weil höhere sei. Nur ein blinder Technikglaube konnte uns verführen, die Schäden unserer Lebensweise zu übersehen. Vom Abschlachten der Indianer und in diesem Jahr von achtundvierzig Millionen männlicher Küken bis zur CO2-Sättigung der Erdatmosphäre durch Energieverschwendung spricht alles gegen uns und für die Indianer. Das erkannt zu haben, ist das Verdienst von Rousseau, dem wir auch den Gedanken des Gesellschaftsvertrags verdanken, der mit seinem edlen Wilden sich dem Zivilisationsmenschen haushoch überlegen glaubt, darauf spielt unser Vademecum in der zwölften Zeile an. Weshalb sich also der Yanomami eine Beethovensinfonie nicht sofort aneignen kann, sondern erst Übung in dieser Tonsprache braucht, so wie man für jede neue Sprache Zeit und Übung benötigt, leuchtet sofort ein. Aber warum versteht der gewöhnliche Mitteleuropäer angeblich ein in seiner Sprache geschriebenes Gedicht nicht, obwohl er acht, neun, zehn oder zwölf, gar dreizehn Jahre zur Schule gegangen ist? Er versteht es nicht, weil er solange zur Schule gegangen ist.

‚In einem kleinen Apfel, da sieht es lustig aus…‘ lernen wir als kleine Kinder und kein Kind kommt auf die Idee, dass hinter dem Lied, das den Apfel zur Metapher für ein Haus macht, das Haus aber im Gegenzug zur Metapher für den Apfel, das die Kindheit, das Keimen und Wachsen und Reifen erklärt, und heute etwas unverständlich eine anthropomorphe Sinnhaftigkeit unterstellt: die Kerne des Apfels träumen in dieser Dichtung davon, als fertige Äpfel am Weihnachtsbaum zu hängen. Leider, wissen wir heute und lernt jedes Kind, das zunächst von diesem entzückenden Lied begeistert war, gibt es einen Sinn nicht an sich, sondern nur, wenn wir ihn suchen und finden, was nicht jedem gegeben ist. Aber hinter dem Lied etwas anderes zu vermuten als der Text bildlich zeigt, auf die Idee kommt kein Kind und muss kein Erwachsener kommen. Wir werden durch Regeln verbildet. Wir suchen, wie manche Blinde, den Stock und nicht den Weg. Wir sehen, wie es früher hieß, den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir leben in einer Welt voller Metaphern - WELT1RAUM2BAHN3HOF4 – und wollen ein Gedicht nicht mehr verstehen? Es gibt neuerdings Texte, in denen die Autoren Metaphern in Anführungszeichen setzen – also etwa: In ‚einem‘ ‚kleinen‘ ‚Apfel‘ da ‚sieht‘ es ‚lustig‘ aus -, in Talkshows, die schon an sich albern sind, machen viele Schwätzer die albernen amerikanischen Gänsefüßchen mit jeweils zwei Fingern ihrer beiden Hände und sagen dazu Ironiemodus ein oder aus; das alles führt dazu, dass wir einen Text lesen, sei er gut oder schlecht, sei er lang oder kurz, und sofort sagen: das verstehen wir nicht. Das verstehen wir nicht mehr, weil wir es nicht mehr verstehen wollen. Wir wollen es erklärt bekommen, wir wollen Regeln, Fußnoten, Links dazugeliefert erhalten. Wir sind es gewohnt zu googeln statt zu denken. Aber wer sich jetzt im Vorteil wähnt, weil er gar kein Internet hat, dem sei gesagt: noch dümmer, weil suggestiver ist das Fernsehen. Die Menschheit verblödet nicht, sondern sie verfault. Sie schafft sich Maschinen, die das Denken, die Arbeit, die Kraftanstrengung abschaffen. Unser klassisches Beispiel dafür sind die elektrischen Läutewerke der Kirchenglocken, die gerade in dem Moment erfunden und angeschafft wurden, als ein Viertel der Menschen dazu verurteilt war, am Fenster zu sitzen und auf das Glockenläuten zu warten: denn wer schwächelt kann nicht zehren. Ohne Komma. Dann schlurft der Rentner zum Pfandflaschenverschluckautomat statt mit dem Pfandflaschenannehmer über das Wetter oder die Weltraumbahnhöfe Baikonur, Cape Canaveral oder Kourou in Französisch-Guayana zu reden.

Denken Sie einfach darüber nach und legen Sie nicht jeden Text nach zwei Minuten aus der Hand, was neuerdings oft auch darunter steht: Lesezeit zwei Minuten. Wer einen Text liest, wird sein Autor. Lesezeit: ein Leben lang. Das ist keine Feststellung, sondern eine Aufforderung zum Lesen und Träumen, zum Verstehen und Missverstehen.

Marion Ette-Bollwerk

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