Wo es kein Brot gibt, gibt es auch keine Freiheit und kein freies Wort. Das ist eine Binsenweisheit. Aber leider ist uns deren Umkehrung nicht klar: die Inflation der Dinge schließt die Inflation atomisierter Gedankensplitter mit ein.

Gedankengänge zerlegen sich in telegrammartige Schnipsel, weil jeder, wie ein abgerichteter Hund, auf Stichworte reagiert. Weniger die Reproduktionsmedien wie Schallplatte und Film als vielmehr Rundfunk und Fernsehen haben uns mit einer Flut überflüssiger Nachrichten zugeschüttet. Auch das ist schon oft gesagt worden. Aber so, wie man zu viel isst, wenn man einen Überfluss an Essen im Angebot hat, so suchen sich auch die überzähligen Informationen – gleich dem Durchfall oder der Adipositas – einen Weg nach außen.

Seit knapp hundert Jahren können wir im Stundentakt Nachrichten aus aller Welt hören und sehen. Damit wird auf der einen Seite die Lust an der Sensation geschürt, so wie sie früher in jedem Dorf zuhause war. Allerdings passierten in einem Dorf gewöhnlich nicht mehr als zwei bis drei Katastrophen jährlich. In den Funkmedien müssen also die Katastrophen des ganzen Landes und schließlich der ganzen Welt zusammengetragen werden. Durch diese Fokussierung auf das Elend einzelner entsteht der Eindruck des Elends aller. Überall in der Welt verbessert sich das Leben, aber in der gespiegelten Welt wimmelt es von Katastrophen und Elend. Und selbst das wird schon seit über einem halben Jahrhundert gesagt: only bad news are good news, aber wir lassen uns nicht abhalten, an das Elend zu glauben so wie früher die Menschen an die Auferstehung geglaubt haben.

Solange wir aber nur Rezipienten der überflüssigen Nachrichten waren und Opfer der atomisierten, nicht erörterbaren Gedankengänge, hielten wir still. Aber aus den ‚lieben Zuhörern und Zuschauern‘ wurden Menschen, die alles und jedes kommentieren konnten. Nach nur zehn Jahren kommentieren glaubt ein großer Teil der Kommentatoren nicht nur selbst der Urheber der Nachrichten, des Wissens und der Meinungen, sondern sogar auch der Taten selbst zu sein. Fake news sind keine Erfindung der Neuzeit, sondern die Rezeption der falschen Nachricht von einer Milliarde Menschen gleichzeitig. Die Verwechslung von aktiv und passiv hat schon Nietzsche vor fast 150 Jahren beklagt, aber er konnte nicht ahnen, dass eine Milliarde sich gleichzeitig zum Täter erklären wird. Die Reden, die früher ein solitärer Dr. Goebbels allein halten musste, werden heute im Internet von einer Million Kommentatoren gleichzeitig gehalten. Das sind schreckliche Zahlen, aber man darf nicht vergessen, dass mit jedem Schreihals oder Kommentator – auf jeder Seite – auch die Wirksamkeit nachlässt. Die Gegenseite zählt nur, aber keiner erzählt neues. Zwar vertieft sich die Spaltung, aber bei gleichzeitiger Zunahme der Redundanz. Nachrichten und so genannte Meinungen wirken also nur noch reziprok: je mehr es davon gibt, desto weniger Wirkung haben sie. Stattdessen glauben aber ihre Verbreiter an ein positives Paradox: je lauter sie riefen, desto erhörter würden sie sein.

Demgegenüber steht nicht nur das Bild vom Rufer in der Wüste. Es stellt eine Vergeblichkeit vor, vielleicht mahnt der Rufer auch Gedanken an, die wir schon lange kennen, aber verdrängen oder vergessen wollen. So wie die Ablösung des Hungers die Völlerei war und die Ablösung der Unmündigkeit und Unwissenheit die Redundanz, so sollte nach Jahrhunderten der Emanzipation und Selbstverwirklichung vielleicht wieder eine Zeit anbrechen, in der wir erkennen, dass wir nicht wert sind, dem anderen Menschen die Schuhriemen zu lösen. Wir haben lange gebraucht, um den eignen Gleichwert zu erkennen. Jahrtausende lang spielten Herkunft und Klassifizierung große Rollen. Vielleicht, wir wissen es nicht, ist die massenhafte gezielte Ermordung und Zwangsumsiedlung von Menschen nach Herkunft der Höhe-, aber gleichzeitig auch der Umschlagpunkt gewesen. Die Weltbevölkerung wird ihren zahlenmäßigen Höhepunkt um 2050 erreichen. Was spricht dagegen, dass es auch der moralische Höhepunkt der Menschheit wird? Dagegen spricht die Ideologie der Nachrichteninflation, nicht aber die Weltlage. Es gibt immer Rückschläge, jegliches hat seine Zeit, aber das behindert weder das Gute noch die Liebe. Schon immer hat es Schlechtredner gegeben, die sich selbst zu Realisten, die andern aber zu Träumern erklären. Aber seit den biblischen Zeiten – wenn wir sie historisch nehmen -, archäologisch sogar weit länger, haben sich die Träumer in das Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben.

Salomon soll siebenhundert Frauen gehabt haben, das würde selbst heute als ein Makel gezählt werden, aber geblieben ist nicht seine Verurteilung, sondern sein Urteil. Das Leben eines Menschen muss nicht zu seinen Taten und Gedanken passen, dafür gibt es viele Beispiele, der zerstreute Physikprofessor ist ein sympathisches Klischee dafür. Wer glaubt, dass er nichts glaubt, sondern, dass sein (!) Wissen ausreicht oder dass er das Wissen der anderen subsumieren könnte, überschätzt sich maßlos. Das trifft besonders dann zu, wenn seine Quellen ausschließlich inflationäre Nachrichten oder andere schnelllebige, atomisierte Splitter sind.

Zwar hat sich die Hoffnung auf einen linearen Fortschritt nicht verwirklicht, sondern als Irrglaube erwiesen, aber von einer Kumulation von Wissen und Erfahrung können wir schon ausgehen. Und deshalb sollten wir auch nicht nur ständig Angst vor Manipulation, Verschwörung und Weltherrschaft haben. Es ist nicht zu bezweifeln, dass es das Streben nach Weltherrschaft gab und gibt, aber es vergeht auch ebenso schnell wie es kam. Wer das nicht glaubt, sollte sich immer wieder den Film ‚Der Untergang‘ ansehen, schon wegen Bruno Ganz. Überhaupt ist Angst, wie wir eigentlich alle wissen, ein schlechter Ratgeber. Wenn wir unser Leben schneller und gründlicher umdrehen könnten, von Selbstbehauptung zu Demut und von dauerkonsumieren zu geben und teilen, hätten wir weniger Angst. Früher haben wir alle, wie unsere Ahnen, an die Kraft der Herkunft und jede noch so widerliche Ableitung daraus gerne geglaubt, was hindert uns, ab sofort nur noch an die Kraft der Zukunft zu glauben? Zukunft braucht Zukunft und Optimismus, Glauben, Demut, Kraft, Schnelligkeit, Gedanken, Erörterungen, Menschlichkeit. Es gibt keine besseren Menschen, nur ein besseres Leben, es gibt keine schlechteren Menschen, nur ein schlechteres Leben, dessen Bedingungen sich langsam verändern lassen, wie man sieht.

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