Durch die Straßen huscht, nachdem er vor einem Schaufenster seinen Hut gerichtet hat, ein kleiner steinalter Mann, der direkt aus dem neunzehnten Jahrhundert in unsere Zeit geflohen zu sein scheint. Jeder Versuch, ihn unauffällig zu überholen und von vorne zu fotografieren, scheitert an seinem enormen Tempo. Es wäre auch unanständig. Es ist der Landesrabbiner Wolff. Nicht seine religiöse Tracht lässt ihn aus der Zeit fallen. Der orthodoxe Rabbiner, der jeden Tag kettenrauchend die Berliner Brunnenstraße in Richtung Osten entlanggeht, ist hiesig und heutig, ihn ficht nichts an, auch nicht die scheelen Blicke all der Palästinenser, Türken und muslimischen Schwarzafrikaner, denn sie sind alle, wie auch er, Berliner. Der Landesrabbiner dagegen ist aus dem neunzehnten Jahrhundert auferstanden. Gegen solche kleinen, geistig und körperlich gewandten Menschen richtete sich der Antisemitismus, der dann später in den Holocaust überführt wurde. Aber er ist zum Glück, was seine Folgen betrifft, gescheitert. Nach einem anderen Landesrabbiner ist in Schwerin eine Straße benannt, und er, Wolff, huscht am Schabbat zu seiner Synagoge. Im Radio kann man ihn die Worte zum Schabbat sprechen hören, sie unterscheiden sich nicht von den Worten zum Freitagsgebet oder vom Wort zum Sonntag, das hier mal das Monopol hatte.

Eine Querstraße weiter, mit Blick auf das wunderschöne epigonale Märchenschloss der untergegangenen Großherzöge, das hier aber doch schon seit 1160 Vorläufer hatte, residiert der Ministerpräsident in einer der schönsten Staatskanzleien Deutschlands. Wenn man eine Weile vor diesem lichtüberströmten klassizistischen Bau steht, fällt einem gerade noch der Name des amtierenden Ministerpräsidenten ein. Aber in welcher Partei ist er? Wir wissen es nicht. Es gibt kein Wort zum Montag von ihm, das ihn als Konservativen oder Grünen, als Liberalen oder Linken, als Sozialdemokraten oder Rechtsalternativen ausweisen könnte. Man weiß nur, dass seine Frau Große Vorsitzende des Oberlandesrechnungshofes werden soll. Das ist ungefähr so eine Gewaltenteilung wie in der KIM-Dynastie. Ist das nicht traurig für solch eine wunderschöne Stadt und so ein altes gutes Land?

Das Landestheater dagegen ist eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges, und man könnte, nachdem man auch das Landesmuseum gesehen hat, ohne Bedenken einer Aufnahme Schwerins ins Weltkulturerbe zustimmen, wenn man gefragt würde. Im sehenswürdigen Landestheater spielte indessen kein Faust und kein Peter Grimes, sondern gehobene Unterhaltung. Vier erstklassige Musiker virtuosierten so ein bisschen Weltmusik vor sich hin und eine Schauspielerin, die schon einmal Haushälterin bei Pfarrer Braun war, las sieben Geschichten zum Thema der Paarbeziehung. Die Musik mit einem srilankischen Percussionisten stellte sich als eine weltmusikalische Klezmervariante heraus, meist erkennbar an der Klarinette. Aber auch die Gitarre lieferte exzellente Soli. Aber als summertime von George Gershwin auf der Melodika gespielt und von den anderen begleitet wurde, wurde der Sinn klar. War Gershwin ein typischer Amerikaner, der amerikanischste Amerikaner unter den Komponisten? Oder war er ein Sohn von russisch-jüdischen Einwanderern, womöglich aus Odessa, um es noch etwas komplizierter zu machen, und seine Musik wäre das Fundament des Klezmer? Aber ist es überhaupt richtig, nach der Herkunft zu fragen? Wir haben das merkwürdige Diktum, dass Zukunft Herkunft brauche, hinter dem sich die Ewiggestrigen so gerne verstecken, das sie als Fahne ihrer Rückfahrkarte hinzugefügt haben, schon mehrere Male ad absurdum geführt. Und in diesem Moment fällt uns eine andere Kombination von Klezmer ein: in Radu Mihaileanus schönem Film ‚Zug des Lebens‘ vereinigen sich am Ende nicht nur die Züge, sondern auch die Bands der Juden und der Zigeuner, und da wird einem klar, dass Musik Musik ist und Mensch Mensch, wenn man es nicht vorher schon ahnte. In Mihaileanus Film ‚Geh und lebe‘ – mit Leben hat ers -, wird aus dem äthiopischen Christen der Jude Schlomo, benannt nach dem Großen König, auf den sich so viele berufen: die Weisen, die Juden, die Christen, die Äthiopier und die Rastajamaikaner mit ihren weltweit verbreiteten Jüngern. Mihaileanus Vater hat auch seinen Namen rumänisiert, um nicht erschossen zu werden.

Die osteuropäischen Juden, die vor und nach dem ersten Weltkrieg nach Amerika gingen, gingen großzügig mit ihren Namen um, aus Gerschowitz wurde Gershwin, aus Reznikoff, der sich seinen neuen Namen nicht merken konnte: ‚ich hob fargessn‘ wird Ferguson aus Paul Austers 4321-Riesenroman, und hierzulande regen sich Rechte auf, weil drei Flüchtlinge ihr Papiere vergessen, verloren oder verbrannt haben. Die Welt besteht aus Menschen nicht aus Papieren. Niemals kann ein Papier einen Menschen ersetzen, beschreiben, ausweisen, identifizieren. Zuviel passiert, zu wenig wird geschrieben. Die unendliche Menge der Buchstaben hat im realen Leben immer noch n+billionen Varianten.

Nach dem Theater gehen wir in ein marokkanisches Dönerrestaurant. Dort gibt es Fertigsaucen, aber der entscheidende Unterschied ist die mangelnde Freundlichkeit. Das Missmutige des Geschäfts, das auch noch SAHARA heißt, spiegelt sich in den Gesichtern der lustlosen Söhne, die mehr gezwungen als bezwingend sind. Man weiß plötzlich um so mehr zu schätzen, was ein echter türkischer Dönerladen ist.

Wenn uns wieder einmal ein Rechter fragt, was die Einwanderung an Positivem bringen soll, und er dich gleich anschreit: ‚aber komm mir nicht mit dem Essen‘, dann wissen wir, seit wir in Schwerin waren, dass es die Dankbarkeit ist, die Dankbarkeit für so ein schönes Erbe, die Dankbarkeit für so ein schönes funktionierendes demokratisches Wohlstands- und Sozialstaatsgefüge, die Dankbarkeit für eine fröhliche, lichte, historische, ein bisschen kitschige, aber auch sehr schöne fast Weltkulturerbestadt, deren neuester Farbtupfer unter dem Denkmal der 1871 Gefallenen sieben lustige Typen von der abbessinischen Hochebene sind, die alle auf ihr Smartphone einreden und die ersten Sonnenstrahlen bei scharfem Aprilwind genießen. Das Denkmal sieht übrigens aus wie die Lord Nelson Säule in London auf dem Trafalgar Square, du weißt schon, dein Land erwartet von dir, dass du deine Pflicht tust.

Die beste Geschichte von der Schauspielerin in jenem etwas traurigen, weil äußerst schlecht besuchten Theaterabend, von 540, zu Weihnachten, wenn der Orchestergraben bestuhlt wird, sogar 640 potenziellen Gästen waren keine hundert gekommen, war ausgerechnet die von Johann Peter Hebel, der früher als Oberlangweiler in allen Lesebüchern glänzte. Er beschrieb ein inniges Liebespaar im achtzehnten Jahrhundert, was schon merkwürdig genug ist, das aber eine Woche vor der Hochzeit durch den Grubentod des jungen Mannes tragisch getrennt wird. ‚Tragisch gestorben‘ steht auch auf jedem zweiten Grabstein des russischen Friedhofs mitten in der großherzoglichen Stadt Schwerin, die 1945 zunächst von den Amerikanern befreit worden war. Die Frau des toten Bergmanns verhärmt und vergraut ihr ganzes mannloses Leben. Aber, das macht Hebel genau so wie Paul Auster, nach tausend politischen Ereignissen, zum Beispiel toten Kaisern, bei Auster ermordeten Präsidenten, nach dem Erdbeben von Lissabon, nach der Kubakrise, nach Kriegen und Eroberungen und Verlusten, finden Bergleute eine durch Eisenvitriol mumifizierte Leiche eines jungen Mannes, den die alte Frau als ihren Bräutigam identifiziert. Und allein daran kann man sehen, wie dumm das Wort identifizieren ist oder was dem jungen Bergmann ein Pass genutzt hätte. Der Sinn lag allein in der Seele der alten Frau, die durch das unverhoffte Wiedersehen, so der Titel der Geschichte, die Erfüllung ihrer Liebe und ihres Lebens endlich fand, das ganze dauerte keine Buchseite, während der vierfache Ferguson, die Varianten des Doppelgängers von Paul Auster, fast 1300 ungeheuer gut geschriebene Seiten benötigt.

Schwerin, Ostermontag 2017

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