Wo zwei Menschen zusammen sind, gibt es Widerspruch. Konsens dagegen findet in der Gruppe statt. Und: man kann schlecht schweigen. Das sind die Grundthesen menschlicher Kommunikation. Aus diesen drei Sätzen lässt sich aber auch eine ganze widersprüchliche Welt reproduzieren.

Gruppen haben das Bestreben, sich zu spalten. Die Schüler von Jesus etwa hatten sich schon zerstritten, bevor der Meister tot war. Eine Frau wollte ihm die Füße salben, da schrien sie: Wozu dienet dieser Unrat? Eltern brachten ihre Kinder zum Segnen, da wurden sie unwillig. Petrus verleugnete den Meister, Thomas glaubte nicht an die Auferstehung, aber Judas wurde als Verräter angesehen, obwohl er nur tat, was in der Bibel vorgesehen war. Auf allen Bildern der nächsten zweitausend Jahre ist er rothaarig mit Schurkenblick, beim Abendmahl sieht er in die andere Richtung. Es vergehen keine dreihundert Jahre und schon herrscht unter den Christen Mord und Totschlag über der Frage, ob Jesus nun Gottes Sohn war. Bei den Nachfolgern des Propheten Mohammed beginnt der Streit mit seinem Tod: wer ist das rechte Oberhaupt und Kalif, der Schwiegervater Abu Bakr oder der Schwiegersohn Ali ibn Abi Talib. Bis auf den heutigen Tag dauert der Streit, selbst darüber, ob es gut ist, dass dadurch der Ölpreis sinkt, herrscht Uneinigkeit. Sprichwörtlich war die Spaltung der Linken, deren erbitterter Kampf gegeneinander nicht nur skurrile Formen annahm, sondern den Kampf gegen den Kapitalismus vergessen ließ. So hat das kleine Albanien, als es kommunistisch war, nicht nur 600.000 Einmannbunker gegen die Amerikaner gebaut, sondern auch Tonnen von Propagandamaterial und starke Kurzwellensender gegen die Helfer der Imperialisten in Peking, Moskau, Belgrad und Ostberlin geschleudert. Tirana war mit jedem verfeindet. Die Selbstzerlegung einer rechten Partei dagegen kann man immer wieder, wie auch gerade jetzt, beobachten.

Ein Schisma ist natürlich immer auch Machtkampf rivalisierender Personen und Untergruppen. Aber dahinter scheint auch immer die Frage zu stehen, ob eine Bewegung mehr Selbstzweck oder mehr Weltzweck ist. Vielleicht sollte man dies das abrahamitische Dilemma nennen, nicht weil es Abraham gehabt hätte, sondern weil die Christen mehrere hundert Jahre darüber stritten und dieser Streit sich auch durch den Koran zieht*. Wer glaubt, dass sein Sinn in Loyalität bestünde, kann nicht gleichzeitig die Welt verbessern, wer die Welt verbessern will, kann nicht gleichzeitig loyal sein. Das gilt auch dann, wenn der Grund, loyal zu sein, einst die Weltverbesserung, und der Grund zur Weltverbessrung die Loyalität oder Gruppenzugehörigkeit war.

Versöhnung ist nur dann unmöglich, wenn beide Seiten das gleiche glauben: nihil esse innovandum, nichts ist zu erneuern. Dann stirbt jede Gruppe den Infarkttod und die Welt bleibt stehen.

Versöhnung ist aber dann möglich, wenn beide Seiten ein drittes erkennen, das sie gemeinsam haben oder haben könnten. Dass ausgerechnet Charles de Gaulles, der General und konservative Politiker, zum Mitbegründer der französisch-deutschen Aussöhnung wurde, mag verwundern, wenn man ihn nur für das hält, was er auf den ersten Blick war: ein rechtskonservativer General, der ständig von der Größe Frankreichs schwafelte. Stattdessen war er aber auch ein Befehlsverweigerer und, nachdem er in Kriegsgefangenschaft geraten war, ein permanenter Ausbrecher und Freiheitssucher. In diesem Bestreben lernte er den wesensverwandten späteren Marschall der Sowjetunion Michail Tuchatschewski kennen, der ebenfalls schon mehrfach geflohen war und dem die letzte Flucht auch gelang, und die beiden befreundeten sich und sind sich später auch noch begegnet. Tuchatschewski sprach fließend französisch, de Gaulle konnte sehr gut deutsch, beide interessierten sich für die Kriegführung der Zukunft, auf beide wurde später nicht gehört. Beide entstammten übrigens Adelsfamilien und waren sehr gebildet, Tuchatschewski zudem noch künstlerisch interessiert und begabt. Das mag sie zusammengeführt haben.

Zukunft und Versöhnung brauchen also gerade nicht Herkunft, sondern Offenheit und Freiheit als hohes Gut, das all die verlogenen Begriffe der Vergangenheit ablösen muss, die auf Gruppenzugehörigkeit oder Loyalität allein beruhen. Jede Gruppe ist Therapie. Aber jede Therapie ist auch tödlich, wenn sie nach der Gesundung fortgeführt wird.

Auf deutscher Seite stand für die Versöhnung der ehemalige Kölner Oberbürgermeister Adenauer zur Verfügung. Würde man ihn nur aus der Sicht etwa der Spiegelaffäre oder seines Altersstarrsinns beurteilen, so wäre er noch rechter als de Gaulle. Aber noch als erster Dezernent, also bevor er Bürgermeister wurde, schuf er ein 'Rheinisches Schwarzbrot' aus Topinambur, das ihm zwar den Spottnamen Graupenauer, aber auch das Überleben und die Dankbarkeit vieler Kölner einbrachten. Die erste orthotrope** Brücke der Welt geht, nach dem Sieg im Zweiten Kölner Brückenstreit, in dem er sich mit der verhassten KPD verbündete, auf Adenauer zurück. Auch er war also ein Konservativer mit der Fähigkeit zur Öffnung. Nicht sicher kann man sich sein, ob er im Falle der Gefangenschaft geflohen wäre oder durch Verhandlungen und Innovationen erreicht hätte, dass das Lager aufgelöst und die Gefangenen freizulassen sind. Legendär ist sein Einsatz für die deutschen Kriegsgefangenen, die daraufhin tatsächlich im Jahre 1955 nach Hause entlassen wurden. Ob sie es als ihr Zuhause wiedererkannten, sei bezweifelt. Für sie galt auch Williams Faulkners schöner Beitrag zu unserem Thema: Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen.

Für die ebenso notwendige und ebenso gelungene Versöhnung mit unserem östlichen Nachbarn Polen fehlt eine solche personale Dimension. Hier wirkte der von de Gaulle und Adenauer implantierte Europagedanke. Ironischerweise hat die gerade im Absterben begriffene Sub- und Unkultur der sogenannten Polenmärkte zum Abbau der Vorurteile einer ungebildeteren und ärmeren Bevölkerungsgruppe beigetragen, die sonst vielleicht im nationalen Dünkel steckengeblieben wäre.

Es ist kaum bekannt, dass es regelmäßige Gipfeltreffen der französischen, polnischen und deutschen Politik gibt, die wegen der geometrischen Verhältnisse der drei Flaggen zueinander und wegen des ersten Treffpunkts Weimarer Dreieck genannt werden. Um die Bevölkerungen unserer drei Länder und um ihre Beziehungen untereinander muss man sich ohnehin keine Sorgen machen.

Vielmehr sollten wir versuchen, unsere Erfahrungen beim Abbau falscher Gruppenloyalitäten weiterzugeben. Zurecht entstehen immer neue Loyalitäten, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie unweigerlich auch immer zum Dissens führen, wo sie nicht offen bleiben, Freiheit als wichtigsten Wert sehen und sich zu erneuern vermögen.

Das Wort Versöhnung kommt nicht von Sohn, sondern von Sühne, wie man aus dem Weihnachtslied 'O du fröhliche' hätte wissen können, wenn einen nicht das Vorurteil des schlechten Reims gehindert hätte.

* Brief des Paulus an die Römer 4,3; Brief des Jakobus 2,21; Sure 5 Al Maedah

** durch sich selber getragene

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Silvia Jelincic

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zeit im blick

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