Bach schrieb seine h-moll-Messe, um den Titel Hofkomponist vom sächsischen Königshof zu erhalten, der für seine Reputation, wahrscheinlich auch für seinen Marktwert, wichtig war. Der Hof war, weil dem König auch Polen gehörte, katholisch, Bach dagegen protestantisch, mochte sich aber wohl nicht zwischen lutherisch und pietistisch entscheiden, was heute ohnehin kein Mensch mehr versteht. Betrachten Theologen dieses Großwerk, die h-moll-Messe, so sagen sie, dass es zwar katholisch sei, aber im Gottesdienst nicht verwendet werden kann, weil Bach den kanonischen, festgelegten Text verändert hat. Außerdem hat er auch hier musikalische Teile aus oder in anderen seiner Werke verwendet. Trotzdem glauben einige Experten, dass die h-moll-Messe das größte musikalische Ereignis der Menschheitsgeschichte sei. Selbst wenn man, wie ich, annimmt, dass Bachs Matthäus-Passion ebenso groß sei, werden sich alle darauf einigen können, dass die beiden Werke zu den TOPTEN aller Kunst gehören.

Geht man vom Text aus, beginnt der Streit, aber es handelt sich glücklicherweise um Musik. Spricht man mit einem Pfarrer, gleich welcher Konfession, über Bach, so meint der meist den vertonten Text. Bach hatte leider, mit zwei Ausnahmen, Gottsched und Picander, keine bedeutenden Textdichter zur Verfügung, und selbst die beiden kennt heute niemand mehr. Michelangelo hatte leider keine besseren Auftraggeber als die Päpste, die wenigstens soviel verstanden, ihn wegen seiner TOPTEN-Bilder nicht auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, was damals gang und gäbe war. Shakespeare hat für bierselige und rülpsende Typen TOPTEN-Werke geschrieben: the more I give the more I have for both are infinite*.

Die h-moll-Messe ist, ungeachtet ihres Textes, Musik. Aber selbst der Text ist für jeden Menschen, ungeachtet seiner Konfession oder Konfessionslosigkeit verständlich: ‚et resurrexit‘ – ‚und ist auferstanden‘ beschreibt das Wunder des Gestaltswandels. Die von Darwin beschriebene Bedeutung des Regenwurms liegt nicht in seiner Gestalt, sondern in dem von ihm bewirkten allgemeinen Gestaltswandel, dass aus den Toten Humus, und aus dem Humus frischer Salat und für Nichtvegetarier frisches Fleisch wird. HASEN SIND AUS KAROTTEN / KAROTTEN SIND AUS HASEN UND WÖLFEN UND MENSCHEN / DAS SOLL DER KAMPF UM SEIN SEIN SEIN? Hinzu kommen neuerdings die Plastikteilchen.

Als Mensch unter Menschen sehnen wir uns nach Halt - Identität -, als Erkennende unter Erkennenden brauchen wir einen Erkenntnisstop – Definition -, und verdrängen, dass wir uns in ständigen Bewegungen befinden.

Wir halten Ausschau nach Gruppen: das Baby sieht Babies, die Frauen sieht Frauen, der Mann sieht Männer, der Christ sieht Christen – und bis vor kurzem war er der Meinung, dass alle anderen, vorsichtig ausgedrückt, nicht ganz richtig sind, der Muslim zieht in ein anderes, fremdes Land und das erste, was er sieht: ist ein Muslim. Wir brauchen die Ähnlichkeit, deshalb schaffen wir uns Gruppen. Aber dann sehen wir die Zerbrechlichkeit der Gruppen: denn der Wasserfall fragt nicht nach Ähnlichkeit, er reißt mit, was kommt, Mauern, Menschen und Mäuse. Wem der Wasserfall als Bild zu gewaltig, zu michelangelisch ist, der nehme die vernichtende und kreative Kraft des ewig sickernden Moors.

Sobald wir in eine Gruppe eintreten, spaltet sie sich. Sobald wir eine ‚Wahrheit‘ festhalten, löst sie sich auf. Sobald wir unsere Identität festgestellt (welch wunderbares Wort aus der Mechanik, wenn nicht sogar Statik, der Wissenschaften, die versuchen, die Natur aufzuhalten) zu haben glauben, verschwindet sie. Ostbürger dürfen an dieser Stelle an ihren alten Personalausweis, Westbürger an die Volkszählung von 1987, denken, beides Missgeburten des Identitätsbewusstseins und angesichts heutigen Datentransfers absolut lächerlich. Wir versuchen, die Bewegung anzuhalten: manchmal bleibt ein Haus stehen, ein Dachstuhl überdauert sieben Jahrhunderte, aber die Regel ist, dass alles was entsteht, wert ist, dass es zugrunde geht, wie Goethe Mephisto sagen lässt.

Wahrheit, also Definition, und Identität, entstehen so in dem kurzen Moment der Begegnung zweier Menschen. Selbst oder gerade wenn sie verschiedene – dem jeweils anderen nicht bekannte – Sprachen sprechen, sehen sie sich als Menschen, also Teil der Menschheit, Teil der Welt oder Schöpfung, Teil des Universums. Und wenn sie beide blind sind? Ihr gemeinsames Menschsein ist die Wahrheit und gleichzeitig ihre Identität. Wir beziehen uns hier, interessanterweise, auf den sehr weit in die Zukunft reichenden Kommunikationsbegriff von Karl Jaspers**.

Viel spannender ist die Frage, warum wir die letzen zweihundert oder zweitausend Jahre als unendlichen Emanzipationsprozess verstehen: die Frau, der Afrikaner, das Individuum, der sogenannte Behinderte, das diverse Geschlecht…sie alle wollten geboren werden und sind geboren worden aus einer jeweils elitären Gruppe, die für sich das Wahrheits- und Identitätseigentum erklärt – definiert – hatte.

So kann man die großen Kommunikationsschritte der Menschheit – Schrift, Buchdruck, Binärcode – auch als Erkenntnisschritte sehen und vor allem: als Emanzipationsschritte, als Schritte zu einer Gemeinsamkeit aller Menschen.

Diese Gemeinsamkeit ist immer schon vermutet worden, besonders seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, seitdem große Denker aus der Masse der Rituale hervortraten, aber sie ist auch immer wieder aus dem Bewusstsein verschwunden. Der Horizont des Menschen ist auf elf Kilometer begrenzt. Selbst die ungeheuren Möglichkeiten der Weltreisen für vielleicht die Hälfte der Weltbevölkerung führt nicht zu Erkenntnisfortschritt, sondern allenfalls zu Wohlbefinden. Vielleicht sind diejenigen Menschen, die fliehen, identisch mit denen, die reisen? Das Telefon in seiner totalitären Variante führt allein auch nicht zu Erkenntnisfortschritt, aber zu einem wachsenden Bewusstsein der Gemeinsamkeit. Deshalb muss zu den drei großen Schöpfern von TOPTEN-Kunst, Bach, Michelangelo und Shakespeare, eigentlich der Universalkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts hinzugefügt werden: Chaplin. Er hat eine allgemeinverständliche und universell angewandte bewegte Bildsprache geschaffen, die zur Grundlage der heutigen allgegenwärtigen Filmkunst wurde. Und seine Erzählung: des stolpernden, einfältigen, aber guten Menschen, der es schafft, schafft Optimismus und Glauben.

Milliarden youtube-Filmschnipsel bereichern und verarmen unser Menschheitsbewusstsein ebenso total, wie die Plastikschnipsel in den Ozeanen oder die Monokulturen der reichen Länder die Natur bedrohen.

Wir tun gut daran, in den gegenwärtigen Umbruchsprozessen der Globalisierung und Digitalisierung eine afrikanische Sprache und Kultur zu erlernen. Es könnte sein, dass in Afrika die größte Überlebenschance der Menschheit besteht. Die Zukunft der Menschheit muss kein Weltuntergang sein, aber sie muss auch nicht in der Fortführung eines doch in vielen Punkten auf Zerstörung ausgehenden Fortschritts- und Wachstumsmodells liegen. Dieses Wachstumsmodell hat den Hunger verbannt, aber den Preis dafür übersehen wollen. Krieg ist für nichts eine Lösung, das wissen wir jetzt, aber wie wollen wir zusammenleben? Propheten haben Wege geahnt, aber jeder Prophet wurde bisher von elitären Gruppen definiert oder identifiziert. Vielleicht hilft uns der Binärcode, die Welt sowohl als dunkles Labyrinth als auch als Berg-und-Tal-Bahn zu begreifen und zu meistern? Dann sollten wir jetzt langsam anfangen, mit dem nehmen aufzuhören und mit dem teilen und geben zu beginnen. So steht es bei Shakespeare, Bach, Michelangelo und Chaplin.

*Romeo and Juliet II,2

**Jaspers, Karl, Vernunft und Existenz, Zürich 1987

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