Der Spatz in der Hand, die Taube auf dem Dach und das Märchen vom König Drosselbart

Material zur Diskussion über eine Ausschreibung "nur für Frauen" für KI-Professuren der Universität Linz - von Ludwig Harig

Vielgestaltig ist der Körperbau, und doch, wie einfach ist die menschliche Natur. Es gibt Dicke und Dünne, Lange und Kurze, Blasse und Rote, Gerade und Krumme, Glatzköpfe und Schiefmäuler, Silberblicke und Himmelfahrtsnasen, Klumpfüße und Schweißfüße, Triefaugen und Zahnlücken, es gibt Reiterbeine und Knieradler, Wolfsrachen und Hasenscharten, Vogelscheuchen und Spinatwachteln, Hühnerbrüste, ja ganze Suppenhühner, es gibt den Silen mit den Pferde- und König Midas mit den Eselsohren, Daumesdick und Rumpelstilzchen, Zwerg Nase und König Drosselbart. Nun steht es niemand zu, über körperliche Gebrechen zu spotten, wie das die Königstochter aus dem Märchen getan hatte, auch wenn er, wie diese, für einen unbedachten Augenblick sein Wunschbild der menschlichen Schönheit nicht verletzen möchte, ein verzeihlicher utopischer Zug. Die Königstochter sah den Dicken als zu dick, den Blassen als zu blaß, den Roten als zu rot, den Krummen als zu krumm und den Drosselbärtigen als drosselbärtig an, ohne Ansehen des Ranges und des Standes, wo doch Könige und Herzoge, Fürsten und Grafen, Freiherrn und Edle gekommen waren.

Folglich hätte dieser utopische Blick, der nur die Schönheit im Auge gehabt hatte, ein Erkennungsmerkmal für eine bessere Zukunft sein können, wenn nicht die Beschaffenheit der menschliche Natur gewesen wäre. So vielgestaltig der Körperbau auch immer sein mag, die Einfachheit der menschlichen Natur läßt schließlich alle Widersprüche in eins zusammenfallen. Denn als nun die Königstochter den schönen Wald, die grüne Wiese und die große Stadt gesehen hatte, da wären ihr der Dicke und der Kurze, der Blasse und der Rote ebenso recht gewesen, wie ihr am Ende ja auch der König mit dem Drosselbart gut genug gewesen war.

Indem nämlich die Königstochter den schönen Wald, die grüne Wiese und die große Stadt, die allesamt dem König Drosselbart gehörten, gesehen, aber nicht zum Brautgeschenk bekommen hatte, weil sie den drosselbärtigen Mann obendrein hätte mit in Kauf nehmen müssen, und nun darben sollte, da sagte sie: "Ach hätte ich doch genommen den König Drosselbart." So war die gewünschte Schönheit, ein utopisches und folglich gar kein weibliches Verlangen, angesichts des Waldes, der Wiese und der Stadt augenblicklich von der Begehrlichkeit nach dem Besitz, einem durchaus weiblichen Zug, verdrängt worden; und der Königstochter wäre nun lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach gewesen.

Nun entspricht dieser Satz "Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach", eine Weisheit, die durch die Frau in die Welt gekommen ist, der Grundbeschaffenheit der weiblichen Natur, während der Satz "Besser die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand" der männlichen Natur entsprechen würde. "Besser die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand" ist nämlich ein durch und durch männlicher Satz und zeigt den anmutigen Geist der Utopie, während der Satz "Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach" ein weiblicher Satz und ein untrügliches Kennzeichen des Sicherheitsbedürfnisses ist.

Die Königstochter griff nach dem König Drosselbart und hatte sogleich den Spatz in der Hand. Aber die Tatsache des Spatzens in der Hand und der Taube auf dem Dach ist durch eine umgekehrte Werthaltigkeit gekennzeichnet. Was für die Königstochter Vorteil und Nachteil , das waren für den König Drosselbart Wunsch und Verzicht. Der für die Königstochter vorteilhaftere Spatz in der Hand und die für die Königstochter nachteiligere Taube auf dem Dach verwandelten sich für den König Drosselbart in die wünschenswertere Taube auf dem Dach und den verzichtenswerten Spatzen in der Hand. Der König Drosselbart begehrte die schöne Königstochter, die Königstochter aber begehrte den schönen Wald, die grüne Wiese und die große Stadt des König Drosselbart. Aber eigentümlicherweise verwandelt sich der für jede Frau vorteilhaftere Spatz nicht in ein habhaftes, sondern in ein flüchtiges, die für die Frau nachteiligere Taube dagegen nicht in ein flüchtiges, sondern in ein habhaftes Wesen. Spatz und Taube folgen dem utopischen Zug des Mannes, denn dieser will des Spatzen nicht habhaft werden, sondern ihm nachschauen, die flüchtige Taube jedoch, die er nur anschauen will, fliegt gebraten der Frau ins offene Maul.

Und so schaut der König Drosselbart angesichts der schönen Königstochter den Spatzen nach, der Königstochter jedoch flogen die gebratenen Tauben ins Maul, aber nicht angesichts des Königs, sondern angesichts seines Waldes, seiner Wiese und seiner großen Stadt. Solange nämlich der Mann die Taube auf dem Dach hat, schaut er nicht der Taube, sondern den Spatzen nach, während der Frau, die den Spatz in der Hand hat, nicht der Spatz, sondern die gebratene Taube ins Maul fliegt. Erst dann, wenn der Mann die Taube endlich einmal in der Hand hätte, und wenn der Spatz aus der Hand der Frau aufs Dach geflogen wäre, dann würde sich die Einfachheit der menschlichen Natur in eine doppelt verkehrte Vielgestaltigkeit verwandelt haben und sich als zukunftsträchtig für die Sicherheitsbedürftigkeit und sich als sicherheitsbedürtig für die Zukunftsträchtigkeit auswirken.

Aber der Königstochter, mit dem Spatz in der Hand, flogen die gebratenen Tauben unentwegt weiter ins Maul, und sie zeigte sich nach wie vor als das sicherheitsbesessene Wesen, unverwandelt. Der König Drosselbart dagegen, mit der Taube auf dem Dach, schaute den Spatzen nach, ganz utopische Natur, und ging durch alle Verwandlungen hindurch. Er machte sich zum braven Spielmann und zum wilden Husar, er würde auf den Händen gehen und mit den Füßen klatschen, nur um die schöne Königstochter auf gefällige Weise zu lehren, daß es nicht auf die Dicke und nicht auf die Kürze, nicht auf die Blässe und nicht auf die Röte, nicht auf die Krummheit und nicht auf die Drosselbärtigkeit, daß es nicht auf den schönen Wald, nicht auf die grüne Wiese und nicht auf die große Stadt, sondern daß es einzig und allein auf die rechte Freude ankommt.

Die Königstochter, mit dem Spatz in der Hand und den gebratenen Tauben im Maul, sagte sicherheitshalber: "Ich habe großes Unrecht gehabt", denn sie wußte, was sie besaß. Der König Drosselbart aber mit der Taube auf dem Dach und dem Blick nach den Spatzen, sagte ganz utopisch: "Die bösen Tage sind vorüber." Er konnte nicht wissen, was ihm bevorstand.

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