Zwei Tage nachdem ein Handyvideo aufgetaucht ist, auf dem ca. einhundert Menschen grölend versuchen, Flüchtlinge am Betreten einer Flüchtlingsunterkunft zu hindern, bin ich an diesen Ort gefahren. Ich wollte mir einen Eindruck verschaffen und an einer Kundgebung teilnehmen gegen das, was zwei Abende zuvor geschah.

Das Bild der Ereignisse am Abend des 18.02.2016 stellt sich so dar: In einer Liegenschaft des Ortes Clausnitz sollen erstmalig 25 Asylbewerber untergebracht werden. Durch Informationsweitergabe des Bürgermeisters wird der Zeitpunkt bekannt, an dem der Bus mit den Geflüchteten eintreffen soll. Ca. 100 Menschen, z.T. aus dem Ort, z.T. aus der Region, versperren die Zufahrt zu dem Gebäude.

Als es der Polizei gelingt, den Bus nach ca. 2 Stunden vor das Gebäude zu lotsen, weigern sich die Insassen, den Bus zu verlassen und durch das Spalier der grölenden Menschen in das Haus zu gehen. Es fließen Tränen, unter den Flüchtlingen herrscht Panik. Zunächst wird lange mithilfe eines Dolmetschers versucht, die Menschen im Bus zu überzeugen, den Bus zu verlassen. Schließlich wird durch die Polizei, unmittelbarer, einfacher Zwang‘ angewendet, um 3 Personen, mindestens einer davon minderjährig, ins Haus zu „bringen“. Die restlichen Insassen fügen sich schließlich und verlassen den Bus ohne weitere Zwangsmaßnahmen.

In einer Pressekonferenz der Polzei Chemnitz am 19.02.2016 wird der Einsatz als verhältnismäßig dargestellt, die Zwangsmaßnahmen dienten dem Schutz der Betroffenen, man habe nach Drohungen Gewalttätigkeit aus dem Bereich der Protestierer erwartet. Die Rechtfertigung der Polizei löst erneut Unverständnis bei vielen Menschen aus, was sich in Kommentaren in sozialen Medien widerspiegelt.

Die Ereignisse von Clausnitz haben international Schlagzeilen gemacht. Man findet bei Twitter Anfragen von BBC, Al Jazeera und anderen weltweit tätigen Medien, ob sie gepostete Videos für die eigene Berichterstattung nutzen dürfen. Die dazugehörigen Meldungen dieser Medien sind wenig später ebenfalls im Internet zu finden. Ebenfalls in den sozialen Medien wird unter dem Hashtag ‪#Clausnitz2002‬ zu einer Gegenkundgebung am Abend des 20.02.2016 aufgerufen.

Als ich gestern um 19.30 Uhr in Clausnitz ankam, bot sich mir ein seltsames Bild. Aus einem Transporter (von den Rednern routiniert ‚Lauti‘ genannt) drangen eine Art buntes Diskolicht und Rap-Musik mit Texten gegen rechte Gewalt auf den Veranstaltungsort. Die Menschen, die sich um den Lauti versammelten, sind durch Transparente mit antifaschistischen Parolen von den Außenstehenden und den Scheinwerfern der Polizeifahrzeuge abgeschirmt. Einer trug ein Plakat der Gewerkschaft IG BCE. Unter Dutzenden von aufgespannten Regenschirmen feierte man eine Art Party, die nicht zuletzt angesichts von 1°C, strömendem Regen, knöcheltiefem Schneematsch und der tiefverschneiten Totenstille der spärlich beleuchteten Umgebung surreal anmutete. Eine Party, an der offensichtlich keiner der 48 Stunden zuvor Bedrängten, um die es hier ging, teilnahm.

Höhepunkt der Veranstaltung war schließlich die Übergabe von Sachspenden und eines kurzen Begleitschreibens an die 25 Geflüchteten, die in dem angrenzenden Haus nun untergebracht waren. Die Sachspenden hatte man zuvor in Discounter-Plastiktüten auf einer Plane im Schneematsch vor dem Lauti abgelegt und wie zum Beweis real existierender Wiedergutmachung mit Scheinwerfern angestrahlt.

Bei mir bleibt nach diesem Abend ein zwiespältiger Eindruck zurück. Die in sozialen Medien geäußerten Reaktionen („ich habe die Videos gesehen und kann nicht aufhören zu weinen“), die emotional und geradezu intim wirken einerseits. Die Abwesenheit von Empathie jenseits dumpfer Parolen („Nie wieder Deutschland“) und Sensibilität für die konkrete Situation dieser Veranstaltung vor Ort anderseits.

Die üblichen reflexartigen Reaktion derjenigen, die „schon immer gegen Rechts“ demonstriert haben, passen heute nicht mehr, weil man nicht gegen abstrakte politische Entscheidungen protestiert, sondern gegen das, was der Mitbürger konkret wenige Stunden zuvor getan hat. Jenseits der Intensität der im Netz geäußerten spontanen Betroffenheit fehlt eine Protestkultur der Anständigen als adäquate Antwort gegen den Pöbel von Clausnitz.

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