Vor 30 Jahren hat Prof. Karl Bednarik (1915–2001) – er hätte heuer seinen 100. Geburtstag – die folgende Rede gehalten, in den »goldenen 80er-Jahren«, als er noch nicht ahnen konnte, dass die Armut und Arbeitslosigkeit wieder zunehmen könnten, und dass vor allem wieder eine Flüchtlingsbewegung in diesem Ausmaß Europa erschüttern könnte. Trotzdem hat diese Rede in den grundlegenden Aussagen nichts an Aktualität verloren ...

Näheres über den Maler und Schriftsteller Karl Bednarik findet man hier.

(Foto: © Herbert Bednarik)

Versuch, meine Gedanken über »das Vaterland« zu ordnen.

Von  Karl Bednarik

Rede anlässlich des Staatsfeiertages, 1985

Grundsätzlich ist mein Verhältnis zum Begriff Vaterland ambivalent.

Ich habe in meinem Leben 5 Vaterländer gehabt, nicht alle hab ich, wie es sich für einen braven Patrioten geziemte, geliebt, einige sogar gehasst, ich gehörte zeitweilig zu den „vaterlandslosen Gesellen“, sogar zu den „Vaterlandsverrätern“. (Darüber später.)

Ein ergänzender Begriff zum Vaterland ist Heimat, vielleicht sogar ein Gegenbegriff, tiefer in der Psyche verwurzelt. Mein Verhältnis zur Heimat war, trotz mancher Anfälle von Fernweh und Reisen auch in ferne Gegenden – die Heimaten anderer! – seltener getrübt, im Grunde immer eindeutig. Heimat ist das Vertraute, der Boden auf dem man steht, nicht allein das Heim, wo man daheim ist, es ist für mich in erster Hinsicht Wien, die Gassen der Inneren Stadt, wo ich mich fast blindlings zurechtfinde, die nähere Umgebung rundum, die Hügelkette des Wienerwalds, Bisamberg, Machfeld, Lobau, Donaustrom, Laaerberg – bis zu den Voralpengipfeln, den Wiener Hausbergen, hinunter ins Burgenland und hinauf ins Waldviertel. Heimat das sind die vielen Freunde in diesem Umraum, die vertrauten und manchmal auch unvertrauten, die dieselbe Sprache sprechen, auch wenn sie mit ihr andere Meinungen vertreten.

Schon aus diesen kurzen Hinweisen dürfte hervorgehen, dass der Begriff Heimat Umwelt und Menschen betrifft, der Begriff Vaterland den Staat und dessen Institutionen.

Heimatgefühl kennt wahrscheinlich jeder Mensch, Vaterlandsliebe nicht unbedingt, gibt es doch sehr unheimliche Vaterländer auf dieser Welt. Vaterländer, die ihre Söhne und Töchter unbarmherzig unterdrücken, ausbeuten, schikanieren und zwecks Machtentfaltung und höherem Ruhm kaltherzig in den Tod schicken. Beispiele kennt jeder und brauche ich nicht anführen.

Ich möchte von jenen fünf Vaterländern reden, die hierorts auf unserem Heimatboden während eines einzigen Menschenlebens existierten und in denen ich selber gelebt habe, illustriert vorerst am Beispiel der fünf Vaterlands-Hymnen, die ich gelernt habe.

Die erste begann mit den Worten „Gott erhalte, Gott beschütze, unseren Kaiser, unser Land.“ Meine Mutter hat den ganzen Text auswendig gekonnt, mein Vater ist unter den bekannten Klängen ins Feld gezogen, ich selber habe sie als kleiner Bub gehört.

In der Schule musste ich dann eine andere Hymne lernen: „Deutschösterreich, du herrliches Land, wir lieben dich!“ Der Text stammt von Karl Renner, die Musik von Wilhelm Kienzl. Nicht ganz 15 Jahre alt wurde dieses so besungene Vaterland.

Meine jüngeren Geschwister mussten eine neue Hymne auswendig lernen, gesungen wurde sie nach der alten Haydnmelodie: „Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold!“ (Text: Ottokar Kernstock). Bald darauf kam ein Zusatzlied, nachempfunden dem Vorbild deutscher Staatsmusikalität, die damals nicht mit einer einzigen Hymne auszukommen meinte. „Ihr Jungen schließt die Reihen gut ...“ der Dichter war Rudolf Henz, später lange Zeit Nestor österreichischer Medienpolitik. (Ich komme darauf zurück.)

Lang dauerte es nicht, da kam die Haydnhymne in zackiger deutscher Verfremdung: „Deutschland, Deutschland über alles“. Mit dem im brutalen Marschtakt gehaltenen Anhang „Die Straße frei den braunen Bataillonen“. 7 Jahre durchdrangen diese Misstöne unser Land.

Die 5. Hymne in meinen Leben ist nun schon bald vier Jahrzehnte in Gebrauch. „Land der Berge, Land am Strome, Land der Hämmer, Land der Dome ...“ Dieser Text von Paula von Preradovic-Molden, gesungen nach der Melodie von Mozart, ist mir die sympathischste aller aufgezählten Hymnen. Sie lobt nämlich ein Vaterland, das von allen fünf Vaterländern für mich am meisten akzeptabel ist, ein Vaterland, in dem es sich zu leben lohnt.

Weshalb, das ist zu erläutern und möglichst schlüssig zu beweisen. Das schon deshalb, weil wir in eine kritische Entwicklungsphase unseres Vaterlands geraten sind.

Viele junge Menschen, die keine aus persönlich erlebten vorangegangenen Epochen zum Vergleich heranziehen können, richten ihren kritischen Blick nur auf Schwächen und Mängel des heutigen Zustands.

Und so mancher Alte richtet nicht mehr den Blick zurück im Zorn auf die Gräuel vergangener Tage, sondern überlässt sich nostalgischer Gefühlsduselei. Das Märchen von der guten alten Zeit ist unsterblich. Die subjektive Erinnerung an die eigene Jugend mit all den Attributen des Jungseins – Vitalität, kämpferische Hoffnung, freudige Lebenserwartung –  wird allzu leicht zur schwärmerischen Verklärung der Vergangenheit. Objektive Tatbestände fallen unter den Tisch. Als extremes Beispiel, aber kein Einzelfall: So kann mancher alte Trottel, der nicht einmal ein Nazi war, heute sagen „Untern Hitler hätt’s das nicht geben!“ Etwa wenn er sich über FKK, die Erhöhung des Heizölpreises oder sonst etwas ärgert.

Auch in der mittleren Generation, jener zwischen den unwissenden Jungen und den vergesslichen Alten, erleidet mancher – eingespannt in den alltäglichen Trott, abgelenkt oder aufgekratzt vom passiven Medien- und anderem Konsum – Anfälle von übertriebener Skepsis, bisweilen bis zur Verzweiflung: „Alles ist mies! Alle Politiker sind käuflich und machtgierig! Nie war’s so hoffnungslos wie heute!”

Das alles zusammen steigert sich zuweilen zur „Staatsverdrossenheit“ (ein oft kolportiertes Modewort!), die sich in der Missachtung demokratischer Institutionen, ja zuweilen sogar in der Ablehnung der Demokratie überhaupt äußert, als Verstärkung individualistischer und egoistischer Bestrebungen und zugleich als Schwächung patriotischen Verhaltens wirkt. Diesen Tendenzen möchte ich widersprechen.

Zurück also zum Vergleich der von mir erlebten Vaterländer.

Das erste Vaterland, in dem ich geboren wurde, und das ich als Kleinkind erlebt habe, dessen Nachwirkungen ich noch lange nach seinem Untergang bewusst erfahren habe, war Kakanien, das jahrhundertealte Habsburgerreich, literarisch von Robert Musil gewiss nicht ganz zu Unrecht glorifiziert, realiter, von großen Epochen, wie der unter Joseph II. abgesehen, im Endzustand verfaulend, dem Verfall preisgegeben.

Eigene Eindrücke: Der Burgmurrer, das war die prächtige Wachablöse in der Hofburg; die kämpfenden Giganten am Michaelertor; alle Kirchen der Inneren Stadt, wo für Kaiser und Vaterland gebetet wurde – wohin mich die meine Kindheit behütende Tante fast täglich führte. (Der Vater im Krieg, zwei Kopfschüsse, zweimal in Gefangenschaft, jedes mal geflohen, weiter an der Front bis zum Ende. Die Mutter schuftet als Hausbesorgerin und Bedienerin in der Plankengasse, die Wohnung ein Loch von kaum 15m2, zuletzt wohnen dort fünf Personen.)

Wien war wohl eine Stadt prächtiger Paläste und Bürgerhäuser, aber die meisten der mehr als 2 Millionen Einwohner lebten auf nicht einmal dem halben Gesamtwohnraum von heute in Zinskasernen, Bassena und Plumpsklo am Gang, Badezimmer unbekannt, Hygiene unmöglich, Tuberkulose und Rachitis Volkskrankheiten. In Werkstätten und Betrieben Arbeitsbedingungen, die man sich heute nicht einmal mehr vorstellen kann. Kein Wunder, dass sich die Massen jener Bewegung zuwandten, die 1906 das allgemeine Wahlrecht erkämpft hatte und Mitbestimmung der Lebensverhältnisse durch das Volk erstrebte. Ich bin in diese Bewegung hinein geboren, fast alle in meiner großen Familie gehörten ihr an, außer einigen mehr oder weniger strenggläubigen, kirchlich gebundenen Tanten. Aber nicht einmal diese weinten der Monarchie eine Träne nach, für sie gab es keine gute alte Zeit. Meine Bewusstseinsbildung erfolgte in diesem Geiste.

Die erste Republik, gewiss mehr aus Not und Zwang als aus revolutionärem Willen entstanden – der erste Staatskanzler Karl Renner wollte, in der Hoffnung auf eine Donauföderation der Nachfolgestaaten, die Monarchie retten. Otto Bauer, Jude und sozialistischer „Chefideologe“ fuhr 1918 nach Berlin um über einen föderativen Zusammenschluss des deutschsprachigen Restösterreichs an das Deutsche Reich zu verhandeln, ein Vorhaben, das die Entente, die damaligen Siegermächte verboten. Besatzungstruppen im Land, Not in den Städten und Industriegebieten, Angst des Bürgertums und der Bauern vor dem Gespenst des Bolschewismus. Die Angst war unbegründet, die Sozialdemokraten haben kommunistische Putschversuche verhindert. (Mein Vater war damals bei der Abwehr des Sturms der Roten Garde auf das Parlament dabei, so wie er auch als Volkswehrmann das Burgenland gegen die ungarische Okkupation mit verteidigt hat.) Abwehrkämpfe an den Grenzen im Norden, Osten und Süden. Das Sudetenland und Südtirol gingen verloren. Vorarlberg tendierte zur Schweiz, die Nein – Danke sagte.

In diese schweren Tage fielen die Anfänge des heute so oft gelästerten Sozialstaates, eines Vaterlands, das sich der Not seines Volkes bewusst war und sie zu lindern begann. Es war Ferdinand Hanusch, von Beruf Webergeselle, der in seiner kurzen Amtszeit von 1918–20 eine Reihe von Grund legenden gesetzlichen Reformen durchführte. Erwähnt seien nur : 48-Stundenwoche, Arbeitslosengeld, Hausgehilfinnengesetz, allgemeine Arbeiterkrankenversicherung, Arbeiterurlaub, Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche, Verbot der Kinderarbeit, Regelung der Entlohnung für Heimarbeiter, das Betriebsrätegesetz, Einrichtung der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte, wodurch diese, zumindest dem Gesetz nach, zu gleich berechtigten Partnern in der Wirtschaft wurden. Dazu: starke Bemühungen um Arbeiterbildung. In Wien, wo Hanuschs Partei bestimmend war, kam noch mehr dazu: Kinderkrippen, Säuglingspakete, Jugendfürsorge, Schulreform, Volksbäder, vor allem der großzügige Bau von Volkswohnungen in den viel gelästerten Gemeindebauten dieser Epoche, die teils als Einsturz gefährdet, teils als Festungen für den Bürgerkrieg verleumdet wurden.

Ein Vaterland des kleinen Mannes, nicht allein des Besitzbürgers, eines des bewussten Staatsbürgers, war im Entstehen. Gewiss, es kann bestritten werden, dass es in der ersten Republik schon so etwas wie ein österreichisches Staatsbewusstsein, einen selbst bewussten Patriotismus gegeben hat. Zu sehr gespalten war das Land, Parteiarmeen standen Gewehr bei Fuß, nicht immer nur bei Fuß. Aber in Ansätzen war dieser Patriotismus da. Von mir kann ich sagen, dass ich als bewusster Österreicher aufgewachsen bin. Zu Unrecht hat man der Arbeiterschaft wegen ihrer internationalen Zusammenarbeit, die ebenso nur eine ideologische war wie die des Völkerbunds und heute der UNO, mangelnden Patriotismus vorgeworfen. Schon Anfangs der 20er Jahre war auch die Anschlussidee, die ja vor allem wirtschaftlich begründet gewesen war, verworfen worden. Ich besitze noch Schulbücher zum 10. Jahrestag der l. Republik, ganz in rotweißroter Gesinnung verfasst, von der Stadt Wien herausgegeben. Ich bin in diesen Jahren selber rotweißrote Fähnchen schwingend, über den Ring marschiert. Am 1. Mai allerdings, dem zweiten Staatsfeiertag – dem Tag der Arbeit, der damals nicht von allen Staatsbürgern gefeiert wurde, beherrschten die roten Fahnen den Ring. Die Gegensätze spitzten sich zu. Darauf näher einzugehen führt hier zu weit, darüber kann jeder in diversen Publikationen nachlesen. Nur so viel: Wie schwach der revolutionäre Wille wirklich war, zeigt der Ablauf der Kämpfe im Februar 34. Eine zwar progressive aber unentschlossene Parteiführung und verzagte Massen sahen sich konfrontiert mit nach Mussolinis und Hitlers Vorbild militant agierenden reaktionären Gegnern, die entschlossen waren, der Demokratie den Garaus zu machen. Einige tapfere Häuflein, die verzweifelt den Kampf aufnahmen, wurden in vier Tagen hinweggeschossen.

Es folgte der so genannte Ständestaat, vom Begriff her in einer Industriegesellschaft ein Anachronismus. Es mag Menschen geben, denen es damals in Österreich gut ging. 500.000 registrierte Arbeitslose, die Dunkelziffer nicht erfasster Jugendlicher und Ausgesteuerter kann nur geschätzt werden, einige weitere Hunderttausend lebten im Elend. Obdachlose mit Familie unter Brücken, bettelnde Vagabunden in Massen, an jeder dritten Ecke in Wien Straßenmusikanten, von der Polizei vertrieben. Dieser Staat betrieb neben der Demontage demokratischer Institutionen systematisch die Aushungerung der Industriestädte, vor allem der sowieso schon längst als Wasserkopf  bezeichneten Stadt Wien. Ein vergleichbares Bild vom Elend findet man heute nur in Istanbul, Kairo, Palermo. (Ich war Buchdrucker und, weil sozialistischer Jugendfunktionär, im Februar aus der St. Norbertusdruckerei gefeuert worden – ungesetzlich, weil ich wegen einer gebrochenen Hand im Krankenstand war, aber Sozialgesetze zählten nicht mehr. Sozialabbau ging parallel mit Einführung eines Arbeitsdienstes und der Militärpflicht. Außer einem Jahr beim Bundesheer mit 50 Groschen Taggeld – die Tramway kostete 35 – war ich in den folgenden vier Jahren arbeitslos, drei Monate Unterstützung, dann Schluss. Ich besaß keinen Mantel mehr, das letzte Jahr trug ich die einem Selbstmörder von den Füßen gezogenen Schuhe, als diese löchrig wurden, habe ich jeden Tag einen neuen Pappendeckel eingelegt. Zum Glück stand mein Vater in Arbeit, hatte allerdings, weil konfessionslos, in die Kirche eintreten müssen, sonst hätte er den Posten verloren. Essen bekam ich zuhause. Gelegentlich Teppichklopfen, Jauchengruben ausschöpfen, nächtelang anstellen um eine Schneeschaufel im Winter, oft vergebens. Politisch „Wühlarbeiten im Underground“ von damals. Einige Stückchen Österreich durchwanderte ich trampend, drei Stück Brot am Tag, eine Handvoll Polenta, von kleinen Bergbauern zuweilen zu Tisch geladen, von Großbauern bei der Bitte um ein Nachtlager im Heu mit Hunden vom Hof gejagt. Unleugbar – es gab in dieser Zeit einen österreichischen Patriotismus, meiner war nicht sehr stark. Ich malte damals ein Bild in dem ein riesiger Pfarrer in der Mitte segnend die Hände hebt über ein blühendes Land, wo Rotweißrote Fahnen schlaff herunterhängen über verhungernde Kinder, Galgen und Kanonen. Rot-Weiß-Rot bis in den Tod, war die Parole damals, ich empfand das doppeldeutig. Als dann der stärkere Faschismus im braunen Gewand über uns hereinbrach und der Ständestaat verzweifelt um politische Partner warb, bekamen die aufgerufenen, sich trotz Entrechtung und Unterdrückung versammelten Arbeiter die Gummiknüppel der längst zu den Nazis übergelaufenen Polizei nochmals zu spüren. Als die Regierung die Reservisten zur Verteidigung einberief, folgte ich, wie viele andere, trotz pazifistischer Grundprinzipien dem Ruf zu den Waffen. „Lieber ein Türk als ein Deutscher“ sagte ich zu einem Umfaller aus den eigenen Reihen, es war nicht wörtlich gemeint, was den Türken betrifft. Dieses Vaterland konnte mir zwar gestohlen bleiben, nicht aber von einem noch schlimmeren. Dieses Vaterland hat sich dann doch nicht zum Kampf entschlossen, was meiner Ansicht nach das Richtige gewesen wäre, es kapitulierte – der Bundeskanzler hat ja schließlich dann überlebt. Unzählige andere, die ausgebildeten Soldaten, wurden gleich zur Verteidigung für das nächste Vaterland gestellt vorgefunden, die meisten haben nicht überlebt.

Über das nächste Vaterland braucht nicht viel gesagt werden. Was an Greuel ausdenkbar und nicht ausdenkbar ist, ist in diesem geschehen. Zu sagen bleibt nur, dass viel Vorarbeit dafür auch von seinen Gegnern geleistet worden ist, gleich ob von rechten oder linken. Das „bittere Ende“ dieser Zeit der Kriegslüsternheit und des Rassenwahns – „bis alles in Scherben fällt“ sangen sie ja – ist zum Glück noch nicht ganz  aus dem Gedächtnis, zumindest der Europäer, verschwunden.

Die Wiederentstehung Österreichs, unserem neuen Vaterland, verlief freilich nicht gerade glorios. „Heimweh in der Heimat“ hab ich in den letzten Kriegstagen in einem Zyklus „Sonette an Wien“, geschrieben. Diese Art von Heimweh hielt ziemlich lang an. Es entstand nicht aus wehmütiger Nostalgie, nicht aus verklärtem Jugendglück. Es war damals von der utopischen Hoffnung getragen, was Heimat sein könnte. Nach 11 Jahren illegalem Österreichertums, folgte zwar die Befreiung von der braunen Verbrecherbande, aber auch eine mehr als 10jährige militärische Besetzung mit sehr eingeschränkter Souveränität. Groß war die Gefahr der Spaltung in Ost- und Westösterreich. Auch damals haben die Sozialdemokraten den Kommunisten stärksten Widerstand geleistet.

Diesmal war Österreich nicht nur wirtschaftlich erschöpft und ausgeplündert. Das Land war vom Krieg verheert, die meisten Großbetriebe und viele Städte zerschmettert. Unzureichend ernährt gingen die Überlebenden (Hunderttausende waren gefallen, Hunderttausende noch in Gefangenschaft) an den Wiederaufbau. Dass er gelang, ist einem bis dahin beispiellosen Zusammenwirken der politischen Kräfte des Landes zu danken. Eine Woge des Patriotismus ging durchs Land. Es hat dabei Unzulänglichkeiten gegeben, gewiss. Benachteiligungen Ostösterreichs, wo mehr als die Hälfte der Einwohner lebten! (Ich wurde 1946, als ich meine Frau mit zwei Kleinkindern zur Erholung nach Tirol bringen konnte, als feindlicher Ausländer behandelt. Ein Bürgermeister, Besitzer eines Großhotels versuchte mich auszuweisen, verweigerte mir Lebensmittelkarten. Wiener unerwünscht! Privatpersonen halfen mir, eine tief gläubige adelige Dame, ein kleiner Bauer. Das nur zur Illustration.) Jedenfalls: das West-Ost-Gefälle blieb lange bestehen, heute noch stellen die Burgenländer das größte Auswanderungskontingent – aber es ist, seit Figl vom Balkon des Belvederes verkünden konnte: Österreich ist frei! für alle aufwärts gegangen.

Unmöglich, in Kürze aufzuzählen, was seither alles geschaffen wurde, das sich keiner auch nur im Traum vorher vorstellen konnte. Der heute so oft geschmähte Wohlfahrtstaat von Konsumbürgern entstand, ein blühendes Land mit gesicherten alten und neu entstandenen Reichtümern, in denen aber auch die Ärmsten nicht hungern müssen und am Konsumglück mitnaschen. Heute glaubt ja mancher Not zu leiden, wenn er nicht einen zweiten Fernsehapparat im Schlafzimmer hat oder keine Tiefkühltruhe besitzt.

Woran liegt’s, dass in dieser Lage der Patriotismus der Österreicher einen Knacks bekommen hat? Es könnten doch die meisten mit Recht sagen: Ubi bene, ibi patria! In vier Jahrzehnten ein Aufstieg aus tiefster Not zu erstaunlichem Reichtum, geradezu zum Entstehen einer Gesellschaft, in der Vergeudung und Verschwendung Usus ist. Reichtum nicht allein im Materiellen! Früher ungeahnte Freiheitsmöglichkeiten sind dem Österreicher von heute gegeben. Lernfreiheit! Gedankenfreiheit! Redefreiheit! Ausdrucksfreiheit wie nie zuvor! Kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten sonder Zahl wie nie vorher! Dabei kann „aussteigen“ wer will, Sandler wandern nicht wegen Vagabundage in den Häfen. Andere sammeln Schätze. Nie hatten so viel Österreicher Sparbücher, es gibt nicht wenige kleine Leute, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen, aber zittern dabei vor der ZEST. Jeder möchte immer mehr vom großen Kuchen, obwohl die wenigsten ihn auch verdauen können. Am liebsten würden sie es wie die großen Reichen machen und ihr Geld in die Schweiz verschieben, obwohl auch dort Kapitalszinsen versteuert werden, Aber immer mehr schimpfen auf den Staat.

Was ist los mit dem Patriotismus? Ist er im Begriff sich im Parteienhader aufzulösen. Gewiss, es gibt neue Probleme: (ich klammere dabei die der Welt nicht aus, rede aber absichtlich nur von uns direkt betreffenden) Wachstumskrise, Umweltzerstörung, Überalterung, Medienmacht, Verfall der menschlichen Umgangsformen. Mehr anzuführen ist nicht nötig: Jedenfalls gibt es ein gesteigertes Problembewusstsein (auch so ein Modewort), deren Ursachen wir selbst geschaffen haben, einerseits durch bessere Lebensbedingungen, andererseits durch Verstärkung der Kritikfähigkeit, nicht nur die der Jungen. Fast jeder scheint heute darauf aus zu sein, Mängel und Fehler festzustellen und anzuprangern.

Wer hat in den Jahren der schmerzlichen Wiedergeburt Österreichs von „Lebensqualität“ oder „Selbstverwirklichung“ geredet? Nicht dass die hinter diesen Schlagworten liegenden Bestrebungen unberechtigt wären, aber es wird vergessen, dass sie erst entstehen konnten nach dem Ringen um Konsolidierung, nach dem Wiederaufbau, eigentlich Neubau, nach dem im Zusammenraufen entstandenen Ausgleich zwischen Interessengruppen (Klassen von vorher!). Genug ist nicht genug, ist heute die Devise aller, auch jener, die alles haben, oft sogar jener, die auf alles zu verzichten meinen. (Man frage heute einen, der sich als Aussteiger fühlt, wie viele Elektrogeräte er besitzt!)

Wir sind heute in einer Lage, in der die übermächtigen Medien Problembewustsein in jeder Weise kolportiert, sei’s als Werbung für Waschmaschinen oder Autos oder Küchen, sei’s als Verteufelung gegnerischer Politiker oder Angstmacherei vor Kriminalität. Man denke an den Verbalbrutalismus der Medien, ganz gleich ob in Politik oder Werbung. Hier heißt es „Köpfe rollen“ und „Abschießen“, dort heißt ein Auto „Schnelles Eisen, mit dem man die ,Straßenkameraden‘ in den Auspuff schauen lässt!“

Genug! Zurück zur Zeit des Aufbaus, des optimistischen österreichischen Patriotismus, in der die Grundlage geschaffen wurde für alles, an dem heute alle partizipieren. Die große Woge begann nach dem Bruch der Großen Koalition langsam abzuebben. Eine deren tatsächlichen Unzulänglichkeiten war das, was Proporzpackelei genannt wurde. Daran scheiterte letztlich die Zusammenarbeit. So bedauerlich die sich aus dem Proporz ergebenden Missstände waren, so unleugbar, begrüßenswert waren aber auch die Erfolge. Zumindest im ökonomischen Bereich. Ein Relikt davon um das uns die ganze Welt beneidet, ist heute noch erhalten, die paritätische Kommission von Wirtschaftsbund und Gewerkschaftsbund, verkörpert in deren Präsidenten (Sallinger und Benya). Ob sympathisch oder nicht, ob als vierte Gewalt im Staat vielleicht gesetzlich an der Grenze der Legalität, wie auch schon behauptet wurde – dieser „geheimen Koalition“ verdanken wir die Vermeidung schwerer sozialer Konflikte. Die Erhaltung des Wirtschaftsfriedens sichert vor Streiks, allzu großer Arbeitslosigkeit, Radikalisierung der Massen durch linke und rechte Extremisten. Hier wirken noch Erfahrungen aus der l. Republik nach, als die starre, unversöhnliche Haltung der großen Parteien zum Untergang des Staates führte.

Noch scheint mir Österreich, dieses neue und beste Vaterland, das ich erlebt habe, nicht gefährdet. Wenn etwas von dem Geist des Neubeginns, der Österreich aus fast totaler Zerstörung herausführte, den jüngeren Generationen vermittelt werden kann, und wenn den die Schalthebeln der Macht beherrschenden Alten die Augen geöffnet werden für die neu entstandenen Probleme, dann werden auch Lösungen gefunden werden können. Es werden Kompromisse sein müssen, als solche mit Mängeln behaftet, die wieder neue Situationen schaffen, die wieder neue Schwierigkeiten hervorbringen. Eine heile Welt hat es nie gegeben und wird es nie geben. Aber besser mit Mängel leben, als im alles zerstörenden Bruderkampf. In diese Richtung zielt meine Hoffnung und ich glaube, dass sie der Berechtigung nicht entbehrt. Das kritische Problembewusstsein hat, wenn es sich nicht in bloßer Raunzerei erschöpft, durchaus positive Züge. Die Jungen sind ernst zu nehmen, das Gespräch zwischen Erfahrung und neuen Ideen darf nicht vermieden oder gar gestoppt werden. Und ich habe den Eindruck, dass zurzeit Bemühungen in allen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen in unserem Land in Gang kommen.

Mit der Hoffnung, dass dieses Gespräch nicht erlahmt, sondern ohne verbale Selbstzerfleischung in verstärkter Weise fortgesetzt wird, möchte ich abschließen. Zutiefst überzeugt davon, dass noch nie das Wort Grillparzers „Der Österreicher hat ein Vaterland und hat auch Ursach‘ es zu lieben“, so sehr zutraf wie heute, appelliere ich an jeden, es, wenn er es schon nicht lobpreisen will, wenigstens nicht zu schmähen. Für mich sind in diesem 5. Vaterland zum ersten Mal die Begriffe Heimat und Vaterland zur Deckung gelangt. Ich wünschte, es mögen möglichst viele Österreicher ähnlich empfinden und danach handeln. Hoffen wir, dass unsere fünfte Hymne, in der das Bruderlied mitschwingt, die letzte sei und uns erhalten bleibe.

Zeichnungen von Karl Bednarik

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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