Die vielen Gesichter der Bildung (und ihres Gegenteils)

Liebe Leute, ich wurde ermahnt. Von Freunden, grundsätzlich wohlwollend, aber doch.

Nämlich: Gewissen Leuten süffisant „Bildungsferne“ zu unterstellen (wie ich es kürzlich tat), sei eines ordentlichen sozial denkenden Linken absolut unwürdig und eigentlich unerträglich arrogant. Genau die sogenannten bildungsfernen Schichten seien es doch, die einst unsere Klientel bildeten – bevor wir uns nämlich zur hochnäsigen Elite entwickelt haben, die auf das einfache Volk und die „besorgten Bürger“ eh nur noch hinuntersieht. Weil eben – viel zu bildungsfern, die dort.

Ich kann diese Ansicht verstehen. Teilen kann ich sie dennoch nicht uneingeschränkt, weil sie mir etwas oberflächlich scheint. Und weil ich offenbar einen etwas spezielleren Zugang zum Thema habe.

Liebe Leute, beim Wort „Bildung“ (oder ihrem Gegenteil) sofort an Elite und akademische Bildung (oder das Fehlen derselben) zu denken, als wäre das die einzig nennenswerte Interpretation des Wortes – das ist wahre Arroganz.

Bildung muss nämlich nicht zwangsläufig höhere Schule und Studium bedeuten. Und Bildungsferne nicht unbedingt, im Plattenbau zu wohnen und keinen Abschluss gemacht zu haben. Das sind Klischees. Eingeteilt in "Schichten". Was soll das?

Es gibt strunzdumme Professoren und blitzgescheite Pflichtschulabsolventen.

Es gibt kluge Menschen, die halt eine Rechtschreibschwäche haben. Andere können nicht so gut mit Zahlen und sind trotzdem keine Deppen.

Es gibt Autodidakten, die trotz sozialer Handicaps mit ihrer Allgemeinbildung manchen Doppeldoktor in den Schatten stellen.

Es gibt ganz, ganz einfache, schlichte Menschen, die von solcher Weisheit sind, dass du mit den Ohren schlackerst, wenn du ihnen zuhörst.

Tja, die Schule des Lebens. Dafür gibt´s kein ausgedrucktes Zeugnis. Wie auch, es gibt ja auch niemals Schulschluss. Dafür Bildung en masse, wenn man sie nur annehmen will.

Ich kannte in den Siebzigerjahren einen, der sich als Hilfsarbeiter durchs Leben schlug, damit zufrieden und dabei geradezu einschüchternd belesen und scharfsinnig war. Nie würde es mir einfallen, so jemanden zu „bildungsfernen Schichten“ zu zählen.

Der sinnerfassend lesende Bauarbeiter. Die nachdenkliche, unbestechliche, empathische Hausmeisterin. Leute, die mit den meisten Fremdwörtern überfordert sind, dafür aber genug emotionale und soziale Intelligenz haben, um wenn´s darauf ankommt das Richtige zu sagen und zu tun.

Die Arbeitslosen und die Mindestpensionisten, die sich trotz aller Sorgen weigern, Hassparolen nachzuplappern und lieber selber denken… und so weiter.

Nein, das sind nicht die, die ich „bildungsfern“ nennen würde. Das sind die, vor denen ich in Wahrheit den Hut ziehe und aus denen ich die Hoffnung schöpfe, dass auch hierzulande noch alles wieder gut werden kann.

Natürlich kommt das nicht alles von allein daher. Natürlich wären gute Lehrer und Vermittler hilfreich, um die nötige, bei Kindern meist ohnehin von vornherein angelegte Neugier und Offenheit zu wecken (oder sie zumindest nicht zu ersticken), egal ob Grund- bzw. Pflichtschule oder höhere Gefilde, und eigentlich sollte ja schon im Kindergarten der Boden dafür bereitet werden. In einem Alter, in dem ganz selbstverständlich noch Dialoge passieren wie dieser: „Und, sind bei euch im Kindergarten auch so viele Ausländer?“ – „Ich weiß nicht, nein, da sind nur Kinder.“

Neugier und Offenheit. Genau das sind nämlich die beiden Grundvoraussetzungen für jene Art von Bildung, die völlig unabhängig davon, ob wir je eine Universität von innen sehen oder nicht, kluge und fähige Menschen aus uns macht.

Mir rollen sich die Zehennägel auf, wann immer ich irgendwelche Experten für wasauchimmer-oder-eigentlich-eh-alles jammern höre: Wir brauchen mehr Akademiker! Schwachsinn. Was wir wirklich brauchen, sind mehr nachdenkliche Menschen mit Herz, Hirn und Hausverstand.

Wache Menschen mit gesunder Neugier auf Neues, auch Fremdes, anstelle von dumpfer Angst und Ablehnung. Offenheit für das, was uns begegnet. Die Bereitschaft zu fragen, zu hinterfragen, zu hören, zu sehen, zu denken, sich in was oder wen auch immer hineinzufühlen, sich eine Meinung zu BILDEN (ja, das hat mit Bildung zu tun), anstatt bequem Phrasen und Vorurteile nachzuplappern und die Meinung derer zu übernehmen, die halt am lautesten schreien.

Sogar um ein ganzes Land zu regieren müsstest du kein Doktor oder Ingenieur sein. Viel eher qualifiziert dich dazu ein wacher Blick für das Wesentliche, die Fähigkeit zuzuhören, ein Sinn für Zusammenhänge, ausreichend Empathie, Gerechtigkeitssinn… kurz das, was Oma einst als „Herzensbildung“ bezeichnete.

Herzensbildung. Was für ein Wort.

Was diese besondere Art der Bildung betrifft, ist in unseren eiskalten Zeiten des Neids und der Hetze tatsächlich eine erschütternde Menge an Bildungsferne zu spüren. Und die verteilt sich ziemlich gleichmäßig auf alle Schichten, vom engen überfüllten Gemeindebau bis hinauf ins luftige Penthaus.

Etwas ganz Wunderbares, der Idealzustand sozusagen, wär natürlich eine schön ausgewogene Kombination aus akademischer und Herzensbildung. Aber ja, solche Menschen gibt es auch, tatsächlich! Es gibt natürlich ganz wunderbare, lebenskluge Magister, Master, Doktoren, Professoren. Für die müssen wir dankbar sein. Ich bin es jedenfalls.

Zugegeben, das anfangs beanstandete Wort war vielleicht ein wenig ungeschickt gewählt, weil missverständlich interpretierbar. Um abschließend also das Missverständnis auszuräumen: Nein, ich schaue beim Verwenden des Wortes „bildungsfern“ nicht auf eine bestimmte soziale Schicht, und schon gar nicht hinunter. Vielmehr spreche ich dann über die verschlampte, verluderte Geisteshaltung jenes unheilbaren Dumpfbackentums, an dem kein Diplom, keine Dissertation, keine Habilitation etwas ändert und das sich – siehe oben – eben quer durch alle sozialen Schichten zieht.

Übrigens, weil´s irgendwie grad passt, freue ich mich über die Gelegenheit, hier noch schnell den sehr gescheiten Wilfried Scheutz zu zitieren: „Das beste Versteck für die Dummheit ist die Bildung.“

Eine traurige Wahrheit. Trotzdem, der Satz ist lustig, oder?

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baur peter

baur peter bewertete diesen Eintrag 04.12.2016 09:53:56

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