Wie die kleine Erzählung das grauenhafte Große greifbar macht

Ich denke ja, dass ich weiß, was da passiert ist. Im Zweiten Weltkrieg. In den Konzentrationslagern, in den Städten, in den Dörfern, in den Familien. Ich denke, ich weiß etwas über jene Zeit. Ich habe Geschichte studiert. Ich war mehrmals in Auschwitz und Mauthausen. Meine Großeltern haben in Wien gelebt und im Widerstand gekämpft, die beste Freundin meiner Oma wurde noch kurz vor Kriegsende erschossen. Sie haben uns Enkeln über diese Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählt, über den "Anschluss" und die Zeit während des Krieges, über die Besatzung danach und den Weg in ein freies Land.

Ich bin also, wenn man so will, ganz schön sensibilisiert wenn es um Nationalsozialismus geht. Und dennoch. Selbst wer die Geschichte kennt, kann sie vergessen. Selbst wer Geschichte gelernt hat, kann sie an Wertigkeit verdrängen. Vielleicht nicht die Fakten, aber die Gefühle. Vielleicht nicht die Zahlen, aber was die Zahlen bedeuten.

In den vergangenen Tagen habe ich viele Berichte von Zeitzeugen gelesen. In der hervorragenden SPIEGEL-Titelgeschichte etwa, die jene letzten Überlebenden des Lagers Auschwitz porträtiert, das am 27. Januar 1945 befreit wurde. Aber auch in vielen anderen Medien, die es sich zum Glück immer noch zur Aufgabe machen darüber intensiv zu berichten - und Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen.

Denn es geht um das Unmittelbare, das aus diesen Erzählungen spricht. Um das Kleine, das schafft, das so grauenhafte Große greifbarer zu machen. Meine Großeltern übersiedelten nach Kriegsende in ein kleines Haus mit Garten. Meine Oma pflanzt überall Blumen, aber nie Gemüse, nie Kräuter. Irgendwann fragt meine Mama sie, warum sie darauf verzichtet, wo das Geld doch knapp war. Meine Oma erzählt ihr, dass sie während des Krieges manchmal mit dem Zug in die Dörfer vor der Stadt gefahren ist und dort Kartoffeln ausgegraben hat. Stunden um Stunden, im oft gefrorenen Boden, mit der Angst, dass jemand kommt, der sie bestiehlt, nur um zu verhindern, dass ihre Familie verhungert. Es sind diese Trauma, die in kleinen Geschichten erzählt werden und die dennoch alles vermitteln.

Und sie sind heute unverzichtbar, wenn man verstehen will. Die Gefühle, die jene Berichte in einem wecken und die einem wieder und erneut klar machen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Dass es viel früher beginnt als bei der Deportation in einem Zug. Dass Zusammenhalt und ein sensibilisiertes Miteinander, dass ein gesunder Menschenverstand, der sich nicht durch Regeln und Gesetze ausschalten lässt, unverzichtbare Bestandteile unseres Wesen sein müssen. Genauso wie Respekt vor jedem Menschen zu haben, egal welcher Religion, welcher Hautfarbe oder politischer Einstellung.

Wir können darüber reden, Asylverfahren zu verschärfen, wie das die Innenministerin macht. Wir könnten aber auch darüber reden, was nötig ist, um besser Miteinander auszukommen, indem wir wieder anfangen jeden wichtig zu nehmen und zu verstehen, dass es kein "Uns" und "Die" gibt, wenn es um das unabdingbare Recht geht, ein Leben führen zu können, das einen glücklich macht.

Mein Cousin hat meine Oma wenige Jahre vor ihrem Tod mal mehrere Tage lang über ihre Erinnerungen erzählen lassen. Er hat alles aufgenommen (einen kurzen Ausschnitt habe ich hier eingebettet)  Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Und meine Kinder auch. Weil man manchmal hören muss, um zu verstehen. Und um nicht zu vergessen.

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Jürgen Heimlich

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Alex Feuerherdt

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