Sebastian im Reich der Zwänge, Teil 7

Sebastian kann seine unüberlegten Handlungen nicht vergessen. Dauernd spuken in seinem Kopf Gedanken herum, die er nicht vertreiben kann.

Warum habe ich so viel getrunken?

Wieso ist Dorothea nicht bei mir geblieben?

Habe ich überhaupt mit Petra geschlafen?

Er hat nur ein Ziel vor Augen: Die schwarzhaarige Fee zu erobern.

Alles andere ist zweitrangig.

Eines Tages bekommt er während einer Unterrichtsstunde einen Zettel von Romana zugesteckt. Darauf steht: „Svenja ist verknallt in dich. Sie kann Tag und Nacht nur an dich denken. Du bist ihr Held.“

Er lächelt Svenja zu, die etwa fünf Meter von ihm entfernt sitzt, und wie immer einen dicken Pulli trägt.

Nach der Schule geht er auf Svenja zu, und wartet darauf, dass sie etwas sagt. Erst als er feststellen muß, dass sie von sich aus nichts sagen will, ergreift er gegen seinen Willen die Initiative.

„Ich hab´ von Romana eine Information bekommen“, flüstert er.

„Ach so? Und hat das etwas mit mir zu tun?“, sagt sie, und ihre Augen strahlen ihn an.

Er ist verwirrt. Eine Minute lang herrscht vollkommene Stille. Er weiß, dass eine kleine Bewegung von ihm reichen würde, und Svenja wäre in seinen Armen weich wie Butter.

„Ja, indirekt hat es mit dir zu tun“, sagt er, und schaut verschämt zu Boden.

„Indirekt?“

Er nickt kaum merklich.

„Sie will wohl, dass ich mich in dich verschaue.“

„Gefalle ich dir?“ Svenja geht ganz nahe an ihn heran.

Er wird nie wieder mit ihr sprechen; das schwört er sich jetzt.

Sie schaut ihn traurig an, und geht davon.

Sebastian wollte nicht, dass Svenja traurig ist. Er findet sie recht hübsch, aber ihr fehlt das gewisse „Etwas“, das die schwarzhaarige Fee verkörpert.

Er ist furchtbar nervös. An einem sonnigen Herbsttag steht die Frau seiner Träume neben ihm in der Straßenbahn, und sieht wie eine griechische Göttin aus. Wendy erzählt von ihrem letzten Freund, der sie vor wenigen Tagen verlassen hat.

„Die sind doch alle Scheiße“, sagt sie, und zwinkert Sebastian zu.

„Warum hast du gestern eigentlich keine Zeit gehabt, Tanja? Warst wohl mit deinem Freund zusammen!“

„Ich habe keinen Freund“, sagt die schwarzhaarige Fee sehr leise.

Wendy tut alles, um Sebastian einen Einstieg in ein Gespräch zu erleichtern. Sie beschließt sogar, drei Stationen früher als gewöhnlich auszusteigen, sodaß er einige Minuten Zeit haben mag, mit Tanja zu schäkern.

Alles hat er sich vorausberechnet. Das Gespräch mit ihr sollte in Bahnen verlaufen, die er vorgibt. Jede Kleinigkeit ist in seinem Kopf gespeichert. Winzige Bemerkungen können sie dazu bringen, unsterblich in ihn verliebt zu werden. Sebastian ahnt nicht, dass sie längst in ihn verliebt ist. Er schließt für sich aus, dass sich irgendein Mädchen in ihn verlieben könne. Am wenigsten Tanja, die er überirdisch schön findet. Sie ist der Grund für seinen schrecklich schlechten Notendurchschnitt. Meist ist er unkonzentriert, und während der Arbeitsstunden sieht er sie ständig vor sich.

Sein Herz droht zu zerspringen.

Zwei Stationen wird er noch fahren, und hat immer noch kein Wort gesagt. Sie sieht ihn nicht an; ist mindestens genauso schüchtern wie er.

„Wäre toll, wenn wir mal gemeinsam ins Kino gingen. Spielt einen Superfilm am Freitag. Ich möchte dich einladen. Nachher könnten wir in das griechische Restaurant am Graben gehen.“

Diesen Satz wollte er sagen. Er wollte. Nunmehr kann er nicht. Die Worte bahnen sich keinen Weg aus seiner Kehle. Und die Frau seiner Träume mit ihrem Namen anzusprechen erscheint ihm unmöglich.

Er fühlt sich durstig.

Eine Station noch.

Entweder jetzt oder nie.

Wieder setzt er dazu an, mit diesem grenzenlos schönen Mädchen in verbalen Kontakt zu treten. Nein, er kann nicht. So perfekt ist der Dialog in seinem Kopf gespeichert. Jedes Wort ist abrufbereit. An jede Eventualität von ihrer Seite aus ist gedacht. Er bleibt stumm wie ein Fisch. Nicht einmal Luftblasen macht er.

„Tschüß“, sagt Tanja und steigt aus. Er muß auch aussteigen, und tut es sogar. Wäre doch wunderbar, sie zu begleiten... Sie geht vor ihm, und betritt eine große Rasenfläche. Querfeldein verfolgt er sie. Er weiß nicht, wo sie wohnt.

Sie blickt sich nicht um. Irgendwann bleibt sie stehen, und zieht ihre Schuhe aus. Sebastian versteckt sich in sicherer Entfernung. Nach vielleicht fünf Minuten taucht ein häßlicher Gnom auf. Er hat eine schiefe Nase, unzählige Sommersproßen, und ist mindestens eineinhalb Köpfe kleiner als Sebastian. Dieser Gnom tritt auf Tanja zu und küsst sie. Sebastian kann es nicht glauben. Was hat das wieder zu bedeuten? Dieser Trottel ist ihr Freund, den sie verheimlicht?

Da werden doch die Hühner verrückt!

Er geht völlig geschockt nach Hause. Mechanisch öffnet er die Wohnungstür, und wird sich drei Stunden nicht aus seinem Zimmer rühren. Er schreibt einen zehn Seiten langen Liebesbrief an Tanja. Und sieht vor sich, wie er diesen grauenhaften Typen mit einem gezielten Faustschlag in die Magengegend zu Boden streckt.

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fischundfleisch

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