Trotz des Wahlergebnisses vom Sonntag sind wir von einer Zeitenwende noch ein Stück weit entfernt. SPÖ und ÖVP bleiben im Rennen - die politischen Wetterverhältnisse aber werden instabiler. Im Musical-Exportschlager "Elisabeth" der Vereinigten Bühnen Wien gibt es im zweiten Akt eine Szene, sie spielt im Jahr 1854, in der das monarchische Establishment und die kaiserlichen Eliten in einer Art Tagtraum ihren eigenen Untergang und das Ende ihrer Epoche vorausahnen. Ein Auszug aus dem Libretto: "Alle Fragen sind gestellt und alle Chancen sind verschenkt. Wir sind die Letzten einer Welt, aus der es keinen Ausweg gibt."

Nicht wenige Teilnehmer der innenpolitischen Debatte wähnen sich nach dem Kantersieg der FPÖ im ersten Wahlgang zur Bundespräsidentenwahl und dem Absturz der ehemaligen Volksparteien SPÖ und ÖVP ebenso am Beginn einer Zeitenwende. Das Ende der "Zweiten Republik", der Beginn der "Dritten Republik" wird ausgerufen, gar ein Bocksprung direkt in die "Vierte Republik" vollzogen. 1854 reprised: "Denn alle Sünden sind gewagt. Die Tugenden sind einstudiert. Und alle Flüche sind gesagt, und alle Segel revidiert." Tatsächlich sind wir aber von einer Zeitenwende ein Stück weit entfernt. Noch. Stattdessen müssen wir uns fürs Erste an eine neue politische Normalität gewöhnen.

Trampeln im Blumenfeld

Viele von Ihnen kennen das: Um möglichst schnell abzunehmen, greifen Sie zur radikalen "Friss die Hälfte"-Methode, statt Sport und Bewegung zu machen. Doch die Kilos, die Sie in kurzer Zeit runtergehungert haben, sind gleich wieder raufgefressen, sobald Sie in Ihre alten Essgewohnheiten zurückfallen. Diätexperten haben das Jo-Jo-Effekt getauft. Die Kärntner Freiheitlichen stürzten bei der Landtagswahl 2013 von 45 auf knapp 17 Prozent ab. Ein Minus von 28 Prozentpunkten. Drei Jahre später schnellt FPÖ-Kandidat Norbert Hofer im selben Bundesland wieder auf 40 Prozent hoch. Die griechische Syriza wurde bei der Parlamentswahl im Jänner 2015 mit über 36 Prozent stimmenstärkste Partei. Nur ein Jahr später liegt sie bei zehn. Der Jo-Jo-Effekt der Parteien.

Die Wähler sind nicht flexibler und beweglicher geworden. Sie trampeln mit ihren Stimmen wie wild im Blumenfeld der politischen Parteien herum! Rauf und runter. Hin und her. Links. Rechts. Vor. Zurück. Und mittendurch. Sie sind völlig unberechenbar geworden, pfeifen auf sämtliche politischen Gewohnheiten, lassen sich nicht länger in Zielgruppen, Milieus und Kernwählerschichten einteilen, ändern fortwährend ihre Motive und Absichten, wechseln permanent ihr Stimmverhalten. Heute so, morgen so. Nicht umsonst sind Meinungsforscher am Verzweifeln, weil sich die Wähler an keine ihrer Analysen und Prognosen mehr halten.

Instabile politische Wetterverhältnisse

Für die Bundespräsidenten-Stichwahl am 22. Mai heißt das: alles völlig offen! Im ersten Wahlgang erarbeitete Abstände sind nichts mehr wert. Wer eben noch Sieger war, kann kurzerhand zum Verlierer werden – und zertrampelte Blumen pflücken gehen. Auch der Griss-Moment ist schon wieder vorbei. Für unsere Demokratie bedeutet das: Die politischen Wetterverhältnisse werden instabiler. Parteien steigen auf und stürzen wieder ab. Immer schneller und in immer kürzeren Abständen. Kommt Sonne, Regen, Kälte oder Sturm? Wer weiß das schon! Stellt euch also auf dauerhaftes Aprilwetter ein, liebe Politiker!

Die angestimmten Abgesänge auf SPÖ und ÖVP sind daher nicht nur verfrüht, sondern fehl am Platz. Ja, es ist richtig, dass die Regierung Faymann/Mitterlehner am Ende ist. Ja, es ist richtig, dass HC Strache dabei ist, Richtung Kanzleramt durchzumarschieren. Ja, es ist richtig, die Parteiapparate von SPÖ und ÖVP sind schwer beschädigt, ihre Kommandozentralen einsatzunfähig, deren Organisationsstrukturen völlig veraltet und die Blauen in Sachen Schlagkraft und Kampagnenfähigkeit klar überlegen – vor allem was Social Media betrifft. Das Ende der "Zweiten Republik" gekommen und zugunsten der "Dritten" oder gar "Vierten" entschieden ist aber noch lange nichts.

SPÖ und ÖVP bleiben im Rennen

Abgesehen davon, dass ein blauer Bundespräsident für Straches Kanzler-Ambitionen ein strategisches Problem wäre, weil er gerade im Fall der FPÖ das gewichtige Argument eines nötigen Ausgleichs zwischen Hofburg und Ballhausplatz liefern würde und daher bei so manchem in der FPÖ unerwünscht ist, weiß niemand, in welche Richtung der Wähler bei den kommenden Nationalratswahlen tatsächlich springen wird. Wir wissen es ja nicht einmal mehr von einer Woche auf die andere! Tauscht etwa die SPÖ ihren Kanzlerkandidaten von Werner Faymann auf Christan Kern oder Gerhard Zeiler aus und hebt die ÖVP Sebastian Kurz auf den Schild, was von beiden Parteien längst zu erwarten ist, ist wieder mit ihnen zu rechnen. Kommen eine gute Kampagne, die Nutzung moderner Kommunikationsmethoden und zeitgemäßer Mobilisierungstechniken, die passenden Themen, ein gutes Team und, was immer wichtiger wird, das Erwischen des richtigen Momentums und Spirits in einem Wahlkampf oben drauf, ist Platz eins auch für SPÖ und ÖVP wieder möglich.

Im Schlussbild von "Elisabeth" heißt es übrigens: "Ich weinte, ich lachte, war mutlos – und hoffte neu. Doch was ich auch machte, mir selbst blieb ich immer treu. Denn ich gehör nur mir!" Wie treffend für den Wähler von heute. Jo-Jo.

shutterstock/Alexandru Nika

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