Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen:

mit Vorliebe spotte ich über die, die spotten. Dabei ist es völlig gleich, welchem politischen Spektrum mein Gegenüber angehört. Und gerade die selbsternannte „Mitte der Gesellschaft“, nie klar definiert und doch als hehres Ideal allerorts angepriesen, bietet sich in schöner Regelmäßigkeit an. Wer von sich den Anschein erweckt, das Beste der Gesellschaft in sich zu vereinen, an den darf man hemmungslos den Anspruch stellen, dieser Behauptung auch gerecht zu werden.

Was wird der „Mitte der Gesellschaft“ nicht alles angedichtet. Sie ist liberal, demokratisch, gebildet, international, politisch interessiert und informiert, kreativ, vorurteilsfrei, umwelt- und gesundheitsbewusst, flexibel, unabhängig, finanzstark (oder zumindest übermäßig fleißig darum bemüht), alternativ (nicht zu sehr). Kurz: sie ist das wünschenswerteste Produkt deutscher Gesellschaft und erklärtes Lieblingsziel jeder politischen Ansprache, ohne dass sich je ein Politiker zu klareren Definitionskriterien hinreißen lassen würde. Noch keiner hat sich dahingehend geäußert, wer oder was diese ominöse „Mitte“ eigentlich sein soll. Denn „die Mitte“ möchte jeder vertreten. Selbst AfD und Linke. Und gleichzeitig möchte sich jeder Bürger in der „Mitte“ verortet sehen.

Wer ist schon gerne Gesellschaftsrand.

Nur manchmal lässt sich ein Politiker zu Negativdefinitionen hinreißen, wenn regelmäßig „die Mitte“ offen angesprochen wird um dann zu konstatieren: „Wir sind doch keine Sozialhilfepartei!“. Empörend anzunehmen, dass sich auch unter den zehn Prozent Sozialleistungsempfängern von Aufstockern über Rentner über Kranke und nur selten mal tatsächlich Unwillige vielleicht kreative Demokraten finden, die gebildet, interessiert und umweltbewusst sind und denen gleichfalls Repräsentation in einer repräsentativen Demokratie zusteht.

Aber ich schweife ab. Was ist der Spott also groß über die vermeintlich Unmittigen. Die Proleten, die Bildungsfernen. Diejenigen, die ihre Kinder Chantalle und Schackeline nennen, im tödlichsten Falle Kevin oder Jason. Die es erlauben, dass man den Kindern ihre äußerst unmittige Herkunft sofort ansieht und anhört. Es gibt Statistiken, nach denen Lehrer, immer Mitte der Gesellschaft, solche Kinder mitleidig gleich schon mal vorsorglich mit schlechten Noten versorgen. Chantalle soll wissen, dass ihr Platz nicht „Mitte“ ist. In diesem Leben nicht mehr. So spottet die Mitte also, dass die Unmittigen ihre Kinder mit Namensschild kenntlich machen. Anderes gilt selbstverständlich für Lena-Marie, Anna-Maria, Ole-Leon, Ben-Luca.

Aber zwischen Ihnen und mir: wie gebildet, mittig, ästhetisch ist eigentlich der elende Bindestrich, der sich nicht nur im Vornamen des Nachwuchses findet, sondern zudem im Nachnamen, um seinen Höhepunkt in Konstrukten wie „Leutheusser-Schnarrenberger“, „Hölldobler-Heumüller“ oder „Müller-Piepenkötter“ zu finden? Und wer wagt zu bestimmen, dass „Kevin Müller“ weniger mittig klingt als „Lena-Marie Müller-Piepenkötter“?

Und wenn Chantalle und Schackeline (angeblich) aussagekräftig hinsichtlich mangelnder Mittigkeit und Bildung sind, was sagt dann eigentlich die Bindestrichschwemme über die „Mitte“ aus?

„Drum prüfe, wer sich ewig bindet…“ forderte schon Schiller. Und der (vermutlich wenig mittige) Volksmund ergänzte: „… ob sich nicht doch was Besseres findet“. Hier bezeugt eine gesellschaftliche Splittergruppe, die sich selber für das hehre Ideal „Mitte“ hält, mit welcher Bindungsphobie sie geschlagen ist. Das schwere Los, Kreativität, Flexibilität, Unabhängigkeit und ein Übermaß an Bildung möglichst ins Gleichgewicht zu bringen macht es schwer, sich zu entscheiden. Für einen Partner, für einen Konsens in Fragen partnerschaftlicher Namensfindung, für den Namen der Kinder. Entscheidungen bringen Konsequenzen mit sich und die sind bekanntlich der Tod von Flexibilität und Unabhängigkeit. Zudem birgt die klare Entscheidung auch die Gefahr, für weniger alternativ oder kreativ gehalten zu werden. Schlimmer noch: vielleicht wirkt man so piefig, altbacken, fast schon randständig. Spätestens dann wäre man zu nahe an Kevin und Chantalle.

Der Bindestrich ist das Allheilmittel aller mittigen Probleme (weshalb er vermutlich mittig anzubringen ist). Er verbindet die Partner, die zwar heiraten, sich damit jedoch versichern, dass sie sich die Freiheit der Trennung vorbehalten wollen. (Weshalb die Scheidungen dennoch nicht zwingend friedlicher vonstatten gehen. Die Trennung von Partner und Bindestrich tut gleichermaßen weh). Er hält also dezent getrennt, was nur dezent verbunden sein will.

Und um den Kindern das schwere Los der Entscheidungsfindung zu ersparen, das den Eltern Klingelschilder verhagelt und bei regelmäßigem Schreiben eine Sehnenscheidenentzündung beschert, liefert man den Bindestrich in der „Gesellschaftsmitte“ mittig mit Geburt mit. Die „Mitte“ sieht es quasi als ihre elterliche Fürsorgepflicht an, den Kindern die Härten des Lebens zu ersparen. Luca-Leon und Lena-Marie werden nie die Entscheidung zu treffen haben, welchen Namen sie bevorzugen und hauptsächlich nutzen möchten.

Zwar sieht das deutsche Recht für Kinder keine Doppel-Nachnamen vor, doch keine Regelung ohne Ausnahme. So kann ein Kind, das in eine Patchworkfamilie mitgebracht wird, durchaus den Adelstitel der „Mitte“, den Doppel-Familiennamen, auf seinem Schulheft stehen haben.

Der Bindestrich zwingt zur dauerhaften Doppelbenennung. Den Lehrer, der nach kurzer Zeit aus Respekt ob der edel „mittigen“ Herkunft des Kindes sowie aus Unlust, zwanzig Doppelnamen aufzurufen gleich gute Noten verteilt, anstatt mit Luca-Leon Hölldobler-Heumüller unter permanenter Namensnennung wiederholt diskutieren zu müssen. Das Kind, das zumindest in öffentlichen Behörden nie nur „Luca“ oder „Leon“ heißen darf.

Der mittige Mensch, die fleischgewordene Flexibilität, Bildung, Kreativität und Informiertheit mit dem Privileg breiter Repräsentation durch alle politischen Spektren ersetzt die Entscheidung durch den Bindestrich.

Und macht einen Strich durch jede Bindung.

Dies repräsentiert sicherlich in edler Weise das höhere Niveau der „Mitte“, verglichen mit den Niederungen eines Kevin Müller.

Und auch Schiller hätte heute gedichtet: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch ein Bindestrich findet.“

Und hieße vermutlich Schiller-Lüdenscheidt.

ahundt/pixabay https://pixabay.com/de/photos/kroatien-sehensw%c3%bcrdigkeit-2656537/

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