Paradiesvogel, Papagei oder Einlappenkotinga?

Veröffentlicht von Der Zyniker am 28. November 2022

Ich liebe die Werte und Grundgedanken der Aufklärung. Nicht minder liebe ich die Grundgedanken der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auf den Werten und Ideen der Vernunftethik und Freiheit fußt mein Wertegefüge.

Das geschrieben bleibt festzustellen, dass wir heute weder in Zeiten der Aufklärung, noch in aufgeklärten Zeiten leben. Offensichtlich ist es nicht genug, während der schulpflichtigen Zeit mal ein paar Dinge über Aufklärung gelesen haben, um ein aufgeklärter Mensch zu sein, der gleichzeitig im Schulsystem doch nur auswendig lernt und wiederkäut und dabei selten einmal einen selbstständigen Gedanken fasst oder fassen darf. Wünschenswert wäre Lehre, die auf der sokratischen Methode aufbaut und den autonomen freien Geist fördert, das selbstständige Denken. Aber unser System will zum Funktonieren erziehen.

So sei es denn.

Die Demokratie der „Quoten“ (Gegenteil freier Wahl) und anderer Fragwürdigkeiten hinsichtlich der Legitimation ist in weit weniger edlem Zustand, als es uns von Schule über Presse und Politik weisgemacht wird. Ähnliches gilt für den Rechtsstaat, der in den letzten Jahren zunehmend an Ideolgie krankt. Alles weit, noch sehr weit weg von „failed states“ aber doch offensichtlich genug, um immer mehr Menschen abzustoßen und vor allem präsent genug, um sich moralische Überlegenheitsphantasien nicht leisten zu können. Anstatt jedoch in öffentlichem Diskurs Probleme zu benennen und Kritik gesellschaftlich zu ver- und bearbeiten anstatt sie zu ignorieren, haben sich vor allem die Schaltstellen der Demokratie entschlossen, die unschönen Defizite mit Glitzerstaub und Regenbogenlametta zu bestreuen und so zu tun, als gäbe es keine, als sei der heilige Gral der Wertegemeinschaft, das Ideal erreicht, die Arbeit getan. Wir leben offiziell im „besten Deutschland, das wir je hatten“, im Utopia, dem Wunderland der Werte und Ethik.

Und ausgerechnet unter dem Deckmantel der Ethik macht sich dieser Tage Radikalismus breit, vorrangig unter Kapitalismusgegnern und -kritikern: Eine doch sehr kapitalismuskonforme Neufassung der Ablasszahlung.

Wer es sich leisten kann, der kauft sich Moral.

Moralfindung ist in der Regel ein äußerst komplexer Vorgang, ist ebenso wie Aufklärung nie abgeschlossen und die Frage nach ihr schon gar nicht final zu beantworten. Der Prozess der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung von Moral ist überdies langwierig, schmerzhaft und mit Selbsterkenntnis verbunden. Eigentlich.

In Zeiten des Onlinehandels, der Streamingdienste, der Partnerbörsen gilt: Wenn ich es mir leisten kann und es haben will, dann will ich es jetzt. Auch Moral. Wahlweise glaubwürdige Moralsubstitute.

Ein Favorit unter den Bequemlichen, die den Schmerzen der Moralentwicklung aus dem Weg gehen und ihrer dennoch möglichst habhaft werden wollen ist das Pappschild.

Das Pappschild, einst ein stolzer Baum, sinnerfüllte Existenz, wird reduziert auf hohle Phrasen und verkürzte Rhetorik. Monstranz gewünschter, bestimmt gefühlter, selten aber überzeugend auftretender Moral. „Stoppt den Klimawandel!“ wird es zu schreien gezwungen. Wer wird angeschrien? Zu welchem Zweck? Mit welchem Erfolg? „Wir müssen etwas tun“ heißt hier übersetzt in der Regel: „Tut doch endlich was!“, ist also indirekt und unehrlich formuliert. Es ist das „Wir“, das sowieso nicht existiert, während das „ihr“ das Wunder der Weltenrettung über Nacht vollbringen soll.

Der geneigte Pappschildhalter verabschiedet sich nach wilder, gut geplanter Wochenend-Revolution gegen niemanden in den Feierabend. Am nächsten Morgen geht es ins beheizte und mit Elektrizität versorgte Büro, in die Uni, in die Pädagogenjobs und den bequemen Alltag. Dagegen wäre nichts zu sagen. Jeder Mensch erfüllt eine wichtige Funktion.

Zumindest ab vom Pappschildhalten.

Aber wer die Welt retten will könnte darüber nachdenken, lieber Mathematik, Ingenieurswissenschaften, Maschinenbau, Physik und Chemie zu studieren. In die Berufe zu gehen, deren Entwicklung zuständig ist für das Schaffen und Umsetzen neuer technischer Methoden zur effizienteren und effektiveren Ressourcennutzung. Allerdings würde das Mühe kosten. Auseinandersetzung mit Machbarkeiten und der Realität. Pfui Deibel! Denkbar wäre die schmerzhafte Einsicht, dass man sich für einen Beruf entschieden hat, der nicht geeignet ist, die Welt zu verändern. Und dies bei Berufswahl auch nicht in Erwägung gezogen hat. Die eigenen Kinder sollen werden, was „ihnen Spaß macht“ und nach diesen Kriterien hat man, so man konnte, auch den eigenen Weg gestaltet. Hedonismus und Moral hatten es noch nie so miteinander. Auch diese Einsicht täte weh. Und wie geschrieben: der Weg zu Ansätzen von Moral ist steinig und schmerzhaft. Und Überraschung: so schlimm ist auch eine Prise Hedonismus nicht. Jeder tut was er kann. Das überdies gerne zu tun ist ein Privileg.

Das Dilemma der Privilegierten

Und wie jedes Privileg („white privilege“ lässt grüßen) erzeugt das Privileg des Wohlstands gerade in den Reihen der Privilegienbekämpfer und die mangelnde eigene Weltenrettungsfähigkeit dieser Tage ein schlechtes Gewissen. Irgendetwas muss man schließlich tun können gegen die Probleme, die man selber gar nicht hat. Etwas, das die eigene Bequemlichkeit nicht gefährdet und dennoch der Welt ins Gesicht schreit, wie gut man es meint, welche märtyrerähnlichen Opfer man zu bringen bereit ist für das ultimative Gute. All das lässt sich haben mit überschaubarem Zeitkontingent und vergleichweise geringen Kosten in jeder Hinsicht.

Pappschilder in eine Kamera halten, die Welt anschreien, auf Politiker zeigen und fordern: „Ändert doch endlich etwas“. Was dieses „etwas“ ist, das außer dem geneigten Pappschildhalter offensichtlich niemand ändern möchte, obwohl es wohl einfach machbar wäre, sonst wäre Geschrei wenig hilfreich, erschließt sich wohl nur der Pappschildhaltercommunity.

Erschwinglich Furore gemacht hat in den Wochen um die WM, davor und danach auch die Regenbogenbinde, wahlweise im Flaggenformat. Und Pattex mach Rekordgewinne mit Menschen, die sich an Bildern oder der Infrastruktur festkleben. Die Revolution der Weltenretter ist günstig im Aufwand und billig in der Umsetzung. Die Reduktion der Demokratie auf Sex für und mit allen sowie auf Pappschilder reduziert zudem auch den öffentlichen Diskurs, den Pluralismus und die zu investierende Mühe. Da wird er monochrom, der Regenbogen.

Ablasszahlung

Also kaufen ein wenig Zeit, Geld für Elektroautos und Biomarmelade, Pappschild und Pattex heute das Gewissen rein. Hätte die katholische Kirche in Pattex investiert, sie würde sich doppelt die Hände reiben. Und bunt ist in der „Community“ auch schon lange nicht mehr viel. Wer es nicht glaubt, möge es mit sachlicher Kritik versuchen und erleben, wie schnell der moralische Regenbogenfan den öffentlichen Pranger errichtet.

Altertümlich mutet nicht nur die Ablasszahlung an, die Gewissenfreiheit durch Extraabgaben auf Fleisch und Öl, Quinoa und Elektrizität verspricht. Auch die Idee, den Klimawandel wegschreien zu können hat viel von Trommeln für Regen. Der aufgeklärte Mensch dürfte gehofft haben, derartige Glaubenssätze hinter sich gelassen zu haben und mit ihnen das Errichten öffentlicher Pranger.

Zu meinem Glück widerspricht Zynismus nicht zwingend der Aufklärung. Wer schon am Naturrecht zweifelt, verzweifelt an Fragen menschlicher Intelligenz. Als Anhänger der Vernunftethik ist es in meinem persönlichen Fall bitter und zynisch genug. lieber dem ehrlich anmutenden Hedonismus das Wort reden zu wollen, bei derart verkürzter (Pappschild-)Moral.

Bleibt die Frage, ob der selbsternannte Paradiesvogel mit regenbogenfarbener Binde und buntem Pappschild nicht eher grauer Papagei oder gar ein Einlappenkotinga ist. Ein laut schreiender, farbloser Vogel, den man nie wegen seines Gesanges rühmen würde und bei dem man die Weltenrettung eher in einkehrender Stille vermutet.

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