Täglich begegne ich ihr nicht, doch öfters sehe ich sie und es gehört ihr meine volle Aufmerksamkeit. Es scheint, als könnte man von ihr irgendetwas lernen oder erfahren, das einem selbst noch fremd ist.

Der äußere Eindruck ist nicht sonderlich überwältigend, eher dezent. Sie ist nicht eine von diesen fülligen Wasserstoffblondinen, wie sie bei uns zum schreienden Alltag gehören. Sie ist schlank, groß, hat langes, dunkles Haar, ein ebenmäßiges Gesicht, dessen Mund hinter einer weißen Maske versteckt ist. Die Maske trägt sie aus Gewohnheit. Sie kennt dies aus ihrer Heimat, wo sie ihre Atemwege vor dem Smog schützt.

Ihr Auftritt ist ruhig, fast meditativ. Sie betrachtet nicht die Umgebung, sondern ist in sich versunken. Beinahe würde man sie nicht wahrnehmen, wenn von ihr nicht etwas Bestechendes ausginge. Ist es die Schlichtheit ihres Auftretens? Ihr Wesen ist leise und doch so auffallend. Es sticht ins innere Auge. Was ist es nur an ihr? Ist es das andere? Ist es das Fremde, das nicht so in Erscheinung tritt wie das gewohnte Fremde, nicht laut, nicht aufdringlich, nicht vulgär, das einen in den Bann zieht, sodass man seinen Blick von der schlanken Gestalt in der dunklen Hose nicht abwenden kann?

Inmitten der Betrachtungen tut die junge Chinesin etwas, das ich noch nie bei einem anderen Menschen gesehen habe: Sie entnimmt der Papierrolle, die neben dem Behälter für die Desinfektionslösung beim Supermarkt-Eingang hängt, einige Blatt Papier und beginnt damit den Einkaufswagen auszulegen. Sie tut dies mit einer Genauigkeit und Hingabe, als würde sie ein Gemälde für sich malen. Blatt für Blatt wird mit einer jeweils kleinen Überlappung aneinandergereiht, bis der Metallboden des Einkaufswagens nicht mehr sichtbar ist.

Dann erst fährt die junge Chinesin los und kauft die Dinge ein, die sie zum täglichen Leben braucht. Die Produkte ihrer Wahl kommen mit den Metallstreben, die so manchen Kinderschuh gesehen haben, nicht in Berührung. Sie sind auf weißes Papier gebettet. Dieses weiße, saubere Papier unter den eingekauften Waren der jungen Chinesin sagt mehr aus als es im Normalfall auszusagen imstande wäre.