Als der Sommer verschwand, Teil 2

Donnerstag, 04.07.2014

Mein Zustand wird besorgniserregend. Ich will mit einem Profi sprechen, will endlich wissen, wie ich mich verhalten soll, was wir tun können, was jetzt wichtig ist. Am Vormittag stehle ich mich aus dem Büro und suche mir einen freien Seminarraum, um ungestört zu weinen. Ich schaffe es kaum, die Tränen zu stoppen und wieder an meine Arbeit zu gehen. Gegen Mittag ruft mich meine Partnerin an. Sie sagt, wir haben einen Termin, will mir aber nicht sagen, welchen. Um 14:30 treffe ich mich mit ihr und wir fahren weiter, in die Lazarettgasse. Erst als wir vorm AKH stehen, fällt bei mir der Groschen. Sie hat mich ins Kriseninterventionszentrum gebracht. Ich bin ärgerlich, weil sie mir mit dieser Aktion quasi unterstellt, dass ich mir nicht freiwillig helfen lassen würde, aber dann überwiegt die Erleichterung darüber, endlich mit jemandem sprechen zu können, der etwas von der Sache versteht. Die Psychotherapeutin ist sehr lieb zu mir. Sie lässt mich sprechen, weinen, wütend sein. Sie bestärkt mich in meiner Haltung und gibt mir die ersten Tipps, wie ich mit meiner Tochter umgehen kann. Als ich rauskomme, bin ich zum ersten Mal etwas ruhiger.

Am Abend ist schon wieder H da. Sie hat meinem Kind eingeredet, dass eine Anzeige nichts bringt und dass sie nicht für sie aussagen wird. Sie übt Druck aus auf M, um sich und ihren Freund zu retten. Ihrem Vater hat sie einen Teil der Geschichte, jedoch nicht die ganze Wahrheit erzählt und der meint angeblich, sie solle sich da raus halten. Ich bin kurz davor, rüber zu rennen und das verdammte Balg und ihre Eltern anzuschreien. Sie hat M da hineingezogen, sie wusste, wie diese Burschen drauf sind und jetzt will sie sich raushalten? Aus Angst, dass ihre Mutter was erfährt? Aus Angst, dass ihr Freund, der meine Tochter vergewaltigt hat, eine Strafe bekommt? Die Wut steigt ins Unermessliche, aber ich darf ihr nicht nachgeben. Ich muss versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Außer M und unserer eigenen Familie ist nichts wichtig. Auf sie muss ich mich konzentrieren. Und überlegen, wie wir vorgehen. Und ich muss vorsichtig sein, denn alles, was ich sage, wird von H mit Sicherheit an P und von dem an den Rest der Horrortruppe weitergegeben. Nein, vielleicht ist es gut, wenn sie sich in Sicherheit wiegen. Sollen sie denken, dass alles in Ordnung ist. Und dann werde ich kalt und systematisch zuschlagen. Bitte, lieber Gott, öffne meinem Kind die Augen und lasse sie erkennen, dass diese Menschen nicht davonkommen dürfen.

Freitag, 05.07.2014

Die Kinder sind heute bei ihrem Vater. Ich fahre nach der Arbeit zu S. Ich vermisse unsere Nähe, fühle mich im Moment sehr allein, isoliert in meinen Gefühlen. Sie versucht, stark zu sein, mich zu halten, aber ich kann nichts spüren, weil ich in mir gefangen bin. Ich bitte sie, mit mir zu schlafen und sie nimmt mich in den Arm. Die Berührung reicht aus, um in haltloses Weinen auszubrechen. Ich klammere mich an sie wie eine Ertrinkende, weine, schreie. Sie hält mich.

Am Abend gehen wir zum Public Viewing ins alte AKH. Ich möchte so gerne ein wenig Ablenkung, ganz kurz nicht an alles denken sondern einen Abend mit Freunden verbringen. Kurz bevor wir gehen, breche ich wieder in Tränen aus. S. gibt mir ein Lexotanil, das ziemlich schnell wirkt. Nun habe ich ein paar Stunden Ruhe vor meinen sich ständig drehenden Gedanken. Ich schaffe es, mich normal zu benehmen, nicht permanent zu weinen.

Im Auto nach Hause geht es dann wieder los. Ich kippe.

Montag, 07.07.2014

Der Termin bei Tamar ist um 16 Uhr. M soll mich um 15:30 Uhr vor dem Büro abholen. Plötzlich sehe ich, wie zwei Mädchen auf mich zukommen. Sie hat ihre Schwester zur Unterstützung mitgenommen. Mir ist alles recht.

Die Frauen bei Tamar sind sehr lieb zu uns. Ich bin so froh, dass sie vor meinen beiden Mädchen nochmal betonen, dass M keine Schuld hat an dem, was passiert ist. Dass betrunken sein kein Freibrief für die Täter ist. Plötzlich fängt meine Jüngste an zu weinen und kann sich kaum beruhigen. Sie erzählt, dass sie sich schreckliche Vorwürfe macht, weil sie M beim Lügen geholfen hat. Ohne ihre Unterstützung hätte ihr Vater M gar nicht weggelassen an diesem verhängnisvollen Abend. Es war abgesprochen, dass sie nicht dorthin durfte. Aber M wollte so sehr. Die Schwestern heckten also einen Plan aus, um ihren Vater zu überlisten. Die offizielle Version lautete, M würde bei einer guten Freundin übernachten. Und ihre Schwester stützte diese Version und wickelte ihren Vater so lange um den Finger, bis dieser nachgab. Nachdem die Katastrophe passiert war, trauten sie sich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. M vertraute sich nur ihrer Schwester an und diese sah sich mit einer Situation konfrontiert, die über ihre Kräfte weit hinausging. Sie musste M verarzten, ihr seelisch beistehen und sie zwei Wochen lang, bis zu meiner Rückkunft aus Korsika aufrechthalten.

Ich merke, dass ich meine Jüngste seit dem Tag X gar nicht wirklich wahrgenommen habe. Ich war so auf M und die Ereignisse konzentriert, dass ich gar nicht daran gedacht habe, dass auch ihre Schwester darunter leidet. Die Lüge der beiden ist im Moment so banal, dass keiner darauf eingeht. Wir alle machen ihr klar, dass sie nicht schuld ist. Dass Schwestern nun mal füreinander lügen. Dass niemand wissen konnte, dass so etwas passieren wird. Und dass die Schuld nur an einen Ort gehört – nämlich zu den Tätern.

Wir bekommen erste Infos über den Weg, den eine Anzeige bedeutet. Wie es vor Gericht abläuft. Aber M muss entscheiden, was sie möchte, sie muss schließlich auch da durch. Letzten Endes vereinbaren wir einen neuen Termin für Anfang August.

Nach dem Termin fahren wir zu meiner Partnerin. M möchte etwas malen und S. gibt ihr einen Block und Stifte. Wir anderen setzen uns auf die Terrasse. Als ihre Schwester vom WC zurückkommt bricht sie wieder in Tränen aus. Sie hat M`s Bild gesehen und es ist eine Darstellung dessen, was dort in dem Haus im Waldviertel passiert ist. Und sie beichtet. Dass sie versucht hat, sich zuzudröhnen nach dieser Geschichte. Dass sie gekifft und getrunken hat, weil sie nichts spüren wollte. Das hatten wir noch nicht als Thema und ich spüre, wie sich der Boden unter mir dreht. Was tut mein Kind da? Und warum? Mein Gott, wäre ich doch nicht auf Urlaub gefahren, wäre ich in Wien gewesen, dann hätte ich das alles verhindern können. M´s Misshandlung und den Absturz ihrer Schwester. Mir ist schlecht, ich habe Angst – jetzt auch um mein anderes Kind. Ich habe nichts mehr unter Kontrolle, alles entgleitet mir und ich habe keine Ahnung, wie ich die Ordnung wieder herstellen kann.

Am Abend steht noch ein Geburtstagsfest an. Mein großer Sohn feiert heute bei seinem Vater. Wir alle sollen hinkommen. Und wir dürfen uns nichts anmerken lassen. M möchte nicht, dass noch jemand von der Sache erfährt. Also reißen wir uns zusammen und versuchen zu feiern. Die Schizophrenie dieses Tages lässt mich erschaudern.

Es ist spätabends, als wir nach Hause fahren und ich bin seltsam aggressiv. Überhaupt fahre ich S. häufig über den Mund. Warum tu ich das? Sie ist so hilflos wie ich, versucht, mich zu stützen und mir den Rücken zu stärken. Sie steckt gerade viel zurück und ich liebe sie. Ich bemerke, dass diese ganze, wahnsinnige Situation auch uns als Paar extrem belasten wird.

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CPMan

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Spinnchen

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