Als der Sommer verschwand, Teil 5

Plötzlich kommt der Anruf aus dem Krankenhaus. M. wurde mit Verdacht auf Blinddarmentzündung eingeliefert, was sich jedoch Gott sei Dank nicht bestätigt hat. Trotzdem ist dieser Krankenhausbesuch ein Wendepunkt. M. vertraut sich einem Arzt an und erzählt ihm ihre Geschichte. Sie hat Angst, dass in ihrem Körper etwas kaputt gegangen ist und sie deshalb die Schmerzen hat, die zum Blinddarm-Verdacht geführt haben. Erst später wird sie mir erzählen, wie lange und einfühlsam dieser Arzt mit ihr gesprochen hat. Und dass das, was er ihr sagte, den Ausschlag zur Anzeige gegeben hat. Er sagte: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

Lieber Arzt, wie auch immer Sie heißen, ich danke Ihnen so sehr dafür, dass Sie in dieser schweren Stunde meinem Kind beigestanden sind. Sie haben die Wende in ihrem Denken eingeleitet. Sie hätten sich rausnehmen können, wie viele andere. Aber sie haben sich gekümmert und lange mit ihr geredet. Sie hat das Zitat nicht gleich verstanden, aber sie hat es aufgeschrieben, ahnend, dass es ihr nochmal nützlich sein wird. Sie hat darüber nachgedacht, lange, und dann für sich entschieden, dass es der Wahrheit entspricht. Nicht die Abklärung der Appendizitis macht Sie für mich zu einem guten Arzt, sondern Ihre Menschlichkeit.

Als die Kinder wieder von der Alm zurückkommen, ergreift H. sofort ihre Chance, M. unter Druck zu setzen. Ich will nicht, dass sich M. mit ihr trifft, ich verbiete es, schimpfe, schreie, drohe, aber mein Kind will zu ihr. Daraufhin schreibe ich H.s Vater ein SMS. Es ist neutral gehalten, ich ersuche lediglich um ein Gespräch. Die Antwort kommt prompt, aber leider nicht von ihm, sondern von H. Ihre Eltern wüssten Bescheid und ich solle Ruhe geben. Ich spüre, wie die Galle in mir hochsteigt. H.s Eltern wissen mit Sicherheit nicht, was wirklich passiert ist. Sie wurden mit einer diffusen Geschichte abgespeist – da bin ich mir sicher.

Am Abend erreiche ich H.s Vater endlich. Ich bitte ihn um ein persönliches Gespräch, aber er ist eiskalt und rät mir, alles ruhen zu lassen. Ihn ginge das nichts an und überhaupt wäre er sehr enttäuscht von M., sie hätte halt Alkohol getrunken und da würde man eben enthemmt. Sie wäre kein Umgang für H. und er wolle nichts mehr hören. Wenn ich es unbedingt wolle, könnte ich eine Anzeige machen, aber das würde nichts bringen.

Nur wer jemals das Gefühl Hass tief in sich drinnen gespürt hat, kann nachvollziehen, was es bedeutet. Unter mir schwankt der Boden und gleich werde ich implodieren. Der Schmerz ist unerträglich und kein Morphium in Sicht. Ich renne auf die Toilette und übergebe mich, bis nichts mehr in mir ist, nicht mal mehr die zitierte Galle.

Die nächsten vier Wochen nehme ich mir frei, um mein Kind bei allen Wegen rund um die Anzeige zu begleiten und ihr wenigstens eine Zeitlang psychisch beizustehen. All die Termine, die jetzt folgen, wären neben meinem Vollzeitjob gar nicht machbar für mich.

Die Mitarbeiterinnen von Tamar versuchen, uns zu unterstützen, wo es geht. Sie stellen nicht nur die Psychotherapie für M. und mich, sie agieren auch als Prozessbegleitung und stellen eine Anwältin. Ich google den Namen der Anwältin und bin beruhigt. Sie gilt als sehr, sehr gut.

Wir werden die Täter zur Verantwortung ziehen – da bin ich mir sicher. Sie sollen keine ruhige Minute mehr haben. Ich bin voller Hass und Rache, nur die Liebe zu M. lässt mich meine Gefühle zurückdrängen. Nur um ihre Genesung und das Wohl meiner Familie darf es gehen. Ich fokussiere mich auf alle guten Werte, die wir innerhalb unserer eingeschworenen Familiengemeinschaft nun verstärkt leben, als hätten wir Angst, dass uns jemand auch das noch wegnehmen könnte.

M. wohnt nun (mit Ausnahme ihres Almurlaubes) seit fast sechs Wochen in meinem Bett. Dort schläft sie, isst sie, sieht fern und liest. Ich lasse sie einfach. Was immer sie will, sie soll es tun.

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