Wer das Dorf B. in einem der Täler des S. betritt, gewinnt den Eindruck, er betrete eine fremde Welt: Die völlige Abwesenheit jeglicher zivilisatorischer Infrastruktur lässt auf die Apathie der Bewohner schließen. Hinter Zäunen sind Häuser und meist mehrere Autos zu erkennen, aber keine Menschen. Und wenn es sie gibt: Wovon leben sie? Wo kaufen sie ein? Nehmen sie überhaupt Nahrung zu sich?

Später stoße ich durch das Internet auf spärliche Spuren menschlichen Lebens. Offenbar kommen die Bewohner von B. manchmal ans Tageslicht, um befremdliche Bräuche zu zelebrieren: Die Männer tragen Fantasieuniformen und behängen sich mit grotesken Ordensketten. Dann machen sie hemmunglosen Gebrauch von Schusswaffen, dann machen sie Gebrauch vom Alkohol, dann von den Frauen, die in bunten Gewändern die Paraden schmücken sollen, sonst aber nichts zu sagen haben. Die Ordnung ist patriarchalisch und heteronormativ. Angeblich geht es, obwohl wir in einer Republik leben, bei den Bräuchen um die Ermittlung eines Königs. Kriterium: Schusswaffengebrauch. Ein Hauch von Wildwest weht durch B. Dass dieses Zeremoniell auch der Paarungsvorbereitung dient, habe ich bereits angedeutet. Exogamie ist weitgehend unbekannt, die Brunftzeit ist gesetzt und der Wert einer Frau wird in Hektar gemessen. Man versammelt sich in Gärten oder Zelten und trinkt sich den/die jeweils Auserwählte(n) so schön wie möglich. Die weiteren Verrichtungen geraten heftig, aber zielgerichtet. Der Güllegeruch stört nicht weiter.

Als die Jugend wieder zusammenkommt, darf ich dabeisein. Ein junger Mann berichtet von einem Job, den er außerhalb B.s gefunden habe, bei einem „Medien-Start-Up“. Sein Chef sei der Julian, ein quirliger Kerl, der ihn freundlich, ja überschwänglich begrüßt habe. Gerne könne er zum nächsten Termin seine Freundin mitbringen, ihm, Julian, sei ein familiäres Umfeld immer wichtig. Die Freundin habe dann ein Praktikum machen dürfen, während er selbst auf Dienstreise geschickt wurde, Hagen, Gelsenkirchen, bisschen immigrationporn schreiben, Vermüllung, Islamisierung, halt der übliche Kram, den er immer auch auf Insta poste. Und weil die Freundin sich bewährt habe, dürfe er jetzt über eine NGO schreiben, Anti-Antifa sei eh sein Ding. Als ich mich an dieser Stelle aus der Runde verabschieden will, fallen mir die feindseligen Blicke auf. Hegt man hier etwa Misstrauen gegen Fremde? Es scheint so: Man spielt mit den schussbereiten Gewehren, Hunde knurren, ich suche das Weite und bin froh, als ich Stunden später wieder die Zivilisation (Hagen, Gelsenkirchen) erreiche.

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