Kaum waren die ersten Nachrichten über die Razzia gegen eine mutmaßliche Verschwörung von AfD-Kadern, Querdenkern, Reichsbürgern und anderen Antisemiten durchgedrungen, lief die große Relativierungsmaschinerie aus der vornehmlich konservativen resp. afd-nahen Richtung an: Susanne Gaschke, ehemals SPD, ehemals – wenn auch nur kurz – Oberbürgermeisterin von Kiel und ehemals „Welt“, fragte in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Haben Deutschlands Sicherheitsbehörden womöglich mit Kanonen auf Spatzen geschossen?“ Auf der „Achse der Guten“ rätselte ein unter dem Pseudonym „Claudio Casula“ publizierender Whiskytrinker, „ob hier nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird, um das Narrativ der großen Bedrohung von rechts zu stützen.“ Ein „Narrativ“, das in den letzten Jahren, vorsichtig geschätzt, 14 Menschenleben gekostet hat, aber das muss an „Casula“ wohl vorbegegangen sein, was nicht verwundert, wenn er „harte Ermittlungsergebnisse“ fordert, die angeblich im Fall „eines Franco A. (…) auch nach Jahren allesamt weniger als dürftig kommuniziert wurden“. Es wäre zwar leicht sich zu informieren (s. zum Beispiel hier: https://hessen.nsu-watch.info/category/franco-albrecht-prozess/ oder hier: https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/Pressemitteilung-vom-12-12-2017.html ), aber wahrscheinlich meint „Casula“, als journalistische Kernkompetenz sei die Fähigkeit, Whiskysorten am Geschmack erkennen zu können wichtiger als Recherche.

Ebenfalls seine Leser für dumm verkaufen möchte Roland Tichy, Herausgeber des gleichnamigen Magazins: „Am Erschreckendsten aber ist, dass Nancy Faeser sich mit ihrer Inszenierung unwidersprochen des Staatsapparates bedienen konnte.“ In der Tat ein Skandal: die im Kabinett für die innere Sicherheit zuständige Ministerin setzt den Staatsapparat in Bewegung, wenn sie die innere Sicherheit bedroht sieht. Tichy richtet an die beteiligten Beamten einen schweren, wenn auch nicht allzu originellen Vorwurf: „Keiner hat die Traute zu sagen: Frau Ministerin, schießen wir hier nicht auf Kanonen auf Spatzen?“Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang der Hinweis auf „räuberische Clans“ (also kriminelle Migranten bzw. jeden, den Tichy dazu zählt), gegen welche die Beamten sinnvoller eingesetzt werden sollten.

Im weiteren Verlauf der Berichterstattung wurde über den „Rollatorputsch“ gespottet (übrigens von Leuten, die einen 70jährigen für einen fähigen Kriegshelden halten und einem 76jährigen dahingehend vertrauen, dass er eine Verschwörung aus QAnon und tiefem Staat aufdecken wird), die Prepperitis des Verschwörerclans wurde mit dem Hinweis auf „Raviolidosen“ ausgeschmückt und die anfangs nur spärlichen Waffenfunde banalisiert. Die Intention aber dieser propagandistischen Offensive dürfte klar sein: Sie soll davon ablenken, dass eine ranghohe Politikerin einer im Bundestag vertretenen Partei in eine Verschwörung, die einen rechten Putsch zum Ziel hatte, verwickelt war, eine Verschwörung, an der (nicht nur ehemalige) Elitesoldaten teilnahmen. Das redundante Geschwafel von den Spatzen, auf welche angeblich mit Kanonen geschossen werde, suggeriert, man dürfe die Bande erst dann dingfest machen, wenn sie mit Schusswaffen im Bundestag steht. Generös ignoriert wird dabei auch die zwielichtige Rolle, die Polizisten und Verfassungschützer bei vergangenen Manifestationen rechter Gewalt (NSU, NSU 2.0) spielten, von der Bundeswehr (Franco A. ist kein Einzelfall) ganz zu schweigen.

Zudem dienen die Verniedlichungsbemühungen der durchaus bewussten Abschreckung davor, sich mit dem rechten Milieu, das sich im Moment vor Zuwendung (CDU-MP trifft neurechten Dichter, den die „Welt“ zum „Dissidenten“ verklärt, CDU stimmt mit AfD gegens „Gendern“ usw.) aus dem noch nicht ganz so rechten Milieu kaum zu retten weiß, näher zu befassen. Jede*r weiß, dass die AfD in den letzten Jahren konsequent nach rechts gerückt ist, jede*r weiß, dass sie eine Bedrohung für alle ist, die von ihr und ihren Mitgliedern als „fremd“ gelesen werden, aber das hindert die Herrschenden nicht daran darüber nachzudenken, ob man sie nicht doch - irgendwann, bald oder irgendwann bald - gebrauchen kann, wenn es gilt, die Folgen der Krise auf die ganz Armen abzuwälzen.

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