Warum der Neoliberalismus uns zugrunde richten wird

Immer wieder schafft die Literatur Dystopien. Man denkt dabei meist an „A Brave New World“ oder „1984“. Ein sehr perverses Bild der Welt in der Zukunft schafft David Mitchell in seinem Roman „Cloud Atlas“. In einer Episode des Romans berichtet der Erzähler von Neo-Seol. Dort herrscht die Konzernokratie, ein mächtiges Bündnis aus Konzernen und großen internationalen Firmen über seine wichtigsten Bürger, die Konsumenten. Sie kurbeln die Wirtschaft an, indem sie kaufen, kaufen und noch mehr kaufen. Die andere Seite dieses grenzenlosen Konsums sind geklonte Sklaven, die die Konsumenten bedienen und in einer Art Konsumreligionsgemeinschaft mit einem Priester unterirdisch ein streng reglementiertes Dasein fristen müssen. In dieser Episode des Romans wird durch den Klon Somni 459 aufgedeckt, dass die meist weiblichen Arbeiterinnen nicht in ein Paradies geschickt werden, wie ihnen das von ihrem Priester versprochen wird, sondern werden diese Sklavinnen nach 7 Dienstjahren hingerichtet, geschlachtet und dienen den noch lebenden Sklaven als Nahrung. Klar ist, dass dies ein düsteres Bild von Zukunft ist, doch ist es bereits realisiert. Konzerne haben immer größeren politischen Einfluss, Entscheidungen werden vom Staat immer mehr weg geführt und damit die Stimme des Wählers und der Wählerin zusehends entmachtet.

Viele kennen bereits die prominentesten Auswüchse dieser neuen sich seit 40 Jahren anbahnenden Weltordnung: TTIP, Panama Papers, Bankenkrise, Griechenland, Flüchtlingskrise. Jedem sagen die Namen und Ereignisse etwas, doch die Strategie oder das politische System – also die Ursache hinter diesen Auswüchsen – sind den meisten nicht bekannt. Doch darin liegt die Macht dieses Systems Selbst Personen, die sich mit Politik beschäftigen, können dieses System meist auch nicht definieren oder gar beschreiben.

Die Rede ist vom Neoliberalismus. An und für sich ist die Idee des Liberalen keine schlechte. Sie geht noch zurück auf die Zeit, in der der Adel, der König oder Kaiser das Sagen hatte und leitet sich vom Wort „frei“ her. Ergo bedeutet Liberalismus die Idee der Freiheit des Bürgers von der herrschenden Klasse. Allerdings ist der Adel oder gar die Monarchie als gesetzgebende Kraft unlängst Geschichte. Deswegen kam es zu einer Neudefinition des Liberalismus zum Neoliberalismus. Der Neoliberalismus setzt das Freisein des Marktes von der Politik voraus; ein gigantischer Moloch, der sich nach der neoliberalen, politischen Philosophie selbst regulieren würde. Der freie Markt setzt den freien Bürger voraus. An und für sich ist das eine lobenswerte Idee, doch so funktioniert das leider nicht. Daher ist es vielleicht vonnöten, sich die Geschichte des Konzepts anzusehen.

1938 wurde das politische Konzept auf einer Konferenz erstmals definiert. Es sei ein System, das die Priorität von Preisregulierungsmechanismen, freiem Unternehmertum, einem freien Wettbewerb und nicht zuletzt einem starken, aber unparteiischen Staat voraussetzen würde. Ursprünglich geht die Idee auf zwei Österreicher im Exil, von Hayek und von Mises, zurück, die den Neoliberalismus als krasses Kontrastprogramm zum Sozialismus und Faschismus konstruierten. Vor allem von Hayek propagierte die Unfreiheit des Einzelnen durch die Kollektivierung von Sozialismus und Marktwirtschaft. Roosevelts sozialistischen New Deal sahen sie in einem ähnlichen Spektrum wie den Kommunismus oder den Faschismus. Von Hayek beschreibt in seinem Werk The Way to Serfdom (Der Weg zur Knechtschaft) wie der Faschismus in Italien und in Nazideutschland seinen Überlegungen nach eine Weiterentwicklung des Sozialismus sei und nicht eine Reaktion auf den Kapitalismus. Der totalitäre Staat ist demnach eine Reaktion der Umsetzung einer geplanten Wirtschaft nach sozialistischer Theorie. Geplante Wirtschaft ist durch die Unfreiheit des Marktes gekennzeichnet; ein minimales Eingreifen des Staates, um Monopole zu verhindern, sei die Kernidee des Neoliberalismus. Allerdings gibt es andere Theoretiker wie zum Beispiel Milton Friedman, die das Monopol als eine Belohnung wirtschaftlicher Effizienz betrachten. Von Hayek wurde zahlreich von reichen Lesern rezipiert, die darin eine Gelegenheit sahen, sich von Regulierung und Steuern zu befreien und die auch seine erste Organisation finanzierten, die Mont Pelerin Gesellschaft.

Eines der ersten Regierungssysteme, die auch der Opposition zufolge eine neoliberale Reform anstießen, war die Militärdiktatur von Pinochet in Chile (1974-1990) Auch von Hayek sprach sich für ein solches System aus, indem er festhielt: „My personal preference leans toward a liberal dictatorship rather than toward a democratic government devoid of liberalism“. Als dann Thatcher und Reagan gewählt wurden, zeigte sich klar, was der Neoliberalismus anrichten kann: Privatisierungen, Klassensystem in der Krankenkasse, Massenarbeitslosigkeit, Steuerfreiheiten für Reiche, Outsourcing und Lohndumping. Fast schon selbstverständlich heute, denn das Problem dieses Systems sind die Kernkonzepte.

Der Neoliberalismus geht nämlich von der Grundannahme aus, dass der Wettbewerb der Kern aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Damit nimmt der Neoliberalismus unterschwellig eine selten ausgedrückte, sozialdarwinistische Perspektive ein und definiert Bürger neu als Konsumenten. Deren demokratische Wahl ist charakterisiert durch das Kaufen und Verkaufen. Für Leistung gibt es Belohnung, für Ineffizienz Bestrafung. Laut dieser politischen Philosophie bietet der freie Markt Belohnungen an, die durch die Marktwirtschaft und Planung nie erreicht werden können. Dies scheint einleuchtend, doch verschleiert die Grundkonzeption des Neoliberalismus mehr, als sie eigentlich zugeben würde. Der freie Markt zum Beispiel klingt wie ein Naturgesetz ähnlich wie Gravitation oder Elektrizität. Doch „was der freie Markt will“, wollen meistens Großkonzerne. Auch das Wort Investment ist ähnlich maskierend. Laut Sayer bedeutet es sowohl die Finanzierung von produktiven und sozial nützlichen Aktivitäten, doch es bedeutet auf der anderen Seite auch das Anhäufen von Kapital durch das Melken von bereits existierenden Produkten, um Dividende, Renten und Rendite zu erhalten. Dieses Wort verschleiert die Quelle von Reichtum über die Verwirrung von Extraktion und Gewinn.

Doch wo finden sich sichtbare Auswirkungen des Neoliberalismus heute? Fest steht, dass unsere gesamte Gesellschaft von diesem Selbstläufer durchzogen ist. Der Einfachheit halber soll die Auswirkung in sechs Systemen aufgezeigt werden, auf die der Neoliberalismus wirkt, nämlich auf die Reichen, die Banken, die Politik und den Staat, die Mittel- und Unterschicht, auf die Globalisierung und nicht zuletzt auf die Armen.

Ursprünglich war der Neoliberalismus eine von Reichen finanzierte und getragene Bewegung. Sie werden auch nach wie vor in diesem politischen System begünstigt. Nach George Monbiots Buch How did we get into this? ist der Neoliberalismus ein politischer Glaube, fast schon im Sinne einer Religion, dessen Grundsätze von allen Betroffenen – denn wir alle sind heute neoliberal – ständig wiederholt werden. Die Reichen überzeugen sich, dass sie durch Leistung an ihr Vermögen gekommen sind; so ignorieren sie ihr Startvorteile wie Bildung, Erbschaft oder Stand, die eigentlich ihre Vermögenswerte erst begründen oder absichern. Da sie Gewinner in diesem System sind, ist es schwierig, so etwas erst aufzuhalten. Eine Oxfam-Studie bestätigt diese scheinbare Unaufhaltsamkeit; die reichsten 3% besitzen heute so viel wie die ärmsten 30%. Sie versuchen auch alles, um an der Macht zu bleiben. So sind die Panama-Papers, die die Süddeutsche Zeitung jüngst publizierte, nur das letzte dieser nicht probaten Mittel, um die eigene Macht zu erhalten. Für Reiche gelten in einer neoliberalen Welt andere Regeln. Finanzierung ist Andrew Sayer in Why We Can’t Afford the Rich überzeugt eine Auswirkung darauf, dass Reiche immer reichen werden. Nämlich akquirieren Reiche wichtige Mittel zum Kontrollerhalt über Ärmere: Geld. Grundstückpreise erhöhen sich und sobald Arme Schulden angehäuft haben, kommen die Banken, um aufzuräumen.

Exakt dieses Infrastruktursystem benötigen die Reichen, das Ihnen durch Banken zur Verfügung gestellt wird. Jedoch ist zusätzlich das Problematische an Banken im neoliberalen Gesellschaftssystem, dass diese auch etwas wollen, nämlich Geld. Der Neoliberalismus ist nicht nur zuletzt ein Diktat der Reichen, sondern auch der Banken. Die Vorsitzende der deutschen Linken, Sahra Wagenknecht, nennt Banken nicht umsonst Hochrisikowettbüros, die mit dreißigfachen Kapital der Realwirtschaft Wetten betreiben, sprich mit Geld, das nicht existiert. Denn nur das Geld in der Realwirtschaft existiert, das in der Finanzwirtschaft ist dreißig Mal erstunken und erlogen. Am Ende muss doch aber die Schulden der Banken der Steuerzahlen tilgen. So zahlt die Mittelschicht nicht nur durch das Diktat der Banken bei Verlust Steuern – im Fall der Hypo Alpe Adria vermutlich 19 Milliarden Euro, ausgeschrieben 19.000.000.000 Euro – sondern auch bei einer Bankenpleite als Gläubiger durch den Verlust und Verspekulation der Bank. Zudem sind Banken undemokratisch; oft besitzen Vorsitzende keinerlei demokratische Legitimation, wie der Vorsitzende der EZB. Eng verbunden mit der Operation von Banken sind multinationale Konzerne und Global Players, denn diese sind de facto der freie Markt, der im neoliberalen System ja begünstigt wird. Diese Firmen haben einen höheren Umsatz als ganz europäische Nationalstaaten und dem Staat entgehen zahlreiche Steuern, entweder durch Niedrigsteuern oder durch eine Weigerung zu zahlen wie im Fall von Apple oder IKEA. Global Players verdrängen kleine Firmen und die eigene Produktion und machen von ihnen finanziell und strukturell abhängig. Der Konzern Monsanto zum Beispiel erhält in den USA ein Saatgutmonopol; kleine Farmer mit eigenem Saatgut sind kaum konkurrenzfähig. Benjamin Barber nennt multinationale Konzerne in seinem Werk Jihad vs. McWorld einflussreicher als Nationalstaaten. Die Global Players seien diesen sogar feindlich gesinnt, weil Nationalstaaten ihnen Grenzen auferlegen würden. Für ihn sind sie post- oder sogar antinational.

Weniger Begünstigung erfahren die Politik und der Staat, weil seine Domäne zusehends reduziert wird. Die Fähigkeit, durch die eigene Stimme etwas zu bewirken oder zu verändern sowie diese Änderung durch Wahlen herbeizuführen, wird massiv beschnitten. Die neoliberale Philosophie besagt nämlich, dass Änderungen im System vor allem durch die Kaufkraft des einzelnen bewirkt werden können. Diese Kaufkraft in Form von Geld ist jedoch auf gewisse Gruppen beschränkt. Es erfolgt also eine Entmachtung des Mittelstandes und der unteren Schichten. Auch der Staat ist im Nachteil, weil dieser nicht länger Kontrolle ausüben sowie Respekt erhalten kann durch – wie es der Neoliberalismus nennt –Services. Diese werden alle privatisiert und ebenso an die Kaufkraft der Wähler gebunden. Ein Beispiel ist wohl die Eisenbahnergewerkschaft in England, die unter Thatcher privatisiert wurden. In den letzten 30 Jahren allerdings mussten laut Berechnung des dortigen Finanzministeriums zahlreiche staatliche Förderungen in den Ausbau fließen und das obwohl Ticketpreise stiegen und Stellen eingespart wurden. In eine staatliche Bahnlinie hätten nur halb so viele Subventionen fließen müssen. Um aber weiterhin Respekt zu erlangen, muss ein Staat Macht und Autorität ausüben. Der totalitäre Staat wächst entgegen von von Hayeks Befürchtung mit dem Neoliberalismus. Dieses Beispiel wurde durch die Pinochet-Diktatur gezeigt, aber zeigen erfolgreich gerade Polen und Ungarn. Zudem finanzieren ja jetzt schon reiche Menschen Parteien. Zu einem Gutteil werden unter anderem die NEOS in Österreich von Hanspeter Haselsteiner finanziert, die Tea Party in den USA erhält ihr Geld von Charles und David Koch. Dadurch können reiche Menschen Gesetze kaufen und auch direkte Demokratie untergraben und manipulieren.

Die Leidtragenden sind demnach allen voran die Bürger aus Mittel- und Unterschicht. Der Neoliberalismus hält nämlich nur für die Reichen ein teleologisches Mantra bereit, sondern auch für die Mitte der Gesellschaft. Es geht hier um die schicksalshafte Annahme des eigenen Zustandes und der Aussage nichts ändern zu können. Die Welt des Wettbewerbs kennt zudem Außenseiter, das sind jene, die im Wettbewerb zurückfallen und Loser sind. Diese Loser werden auch noch hoch besteuert und niedrig belohnt und zwar so niedrig dass wir in entwickelten Ländern von den niedrigsten Löhnen seit dem Zweiten Weltkrieg ausgehen können, wenn es zumindest nach George Monbiot geht. Zwar wird immer wieder gesagt, dass unsere Gesellschaft es möglich macht, alles zu erreichen, wenn man nur will, während sie immer mehr Druck auf ihre erschöpften Bürger ausübt und zur gleichen Zeit Privilegien verstärkt. Eine große Zahl an Menschen fühlt sich laut Verhaegae in seinem Buch What about me? zunehmend gedehmütigt, schuldig und beschämt. Laut ihm werde uns immer gesagt, dass heute freier denn je sind, unser Leben selbst zu bestimmen, doch die Freiheit zur Wahl außerhalb des Erfolgs ist nach wie vor eingeschränkt. Zudem wird denen vorgeworfen, die verlieren, dass sie unser soziales Sicherheitsnetz ausnutzen würden. Dies zeigt sich vor allem an der Debatte zur Kürzung der Mindestsicherung. Eine neoliberale Wertegesellschaft ist vor allem auf dem Gedanken aufgebaut, dass der Erfolg vor allem an dem individuellen Einsatz und dem individuellen Talent liegen würde und das somit möglichst viel Verantwortung beim Individuum liegt. Autoritäten sollten Menschen möglichst viel Freiheit geben, um ihre Ziele zu erreich. Für jene, die an das Märchen der uneingeschränkten Freiheit glauben, sind Selbstbeherrschung und Selbstmanagement die wichtigsten politischen Messages. Laut Verhaeghe wird diese Idee des sich perfektionierenden Individuums begleitet von der größten Unwahrheit der Welt: die unlimitierte Freiheit der westlichen Welt. Laut Verhaeghe sind die Resultate des Scheiterns Epidemien von Selbstverletzungen, Sozialangst, Einsamkeit, Depressionen und Essstörungen.

Eingangs war in diesem Text die Rede von Sklaven, auf deren Leichen sich die Konzernokratie gründet. Auch der Neoliberlismus kennt solche Leichen, und zwar sind das die Umwelt und die dritte Welt. Die Umwelt wird durch das ständige Wachsenwollen immer weiter ausgebeutet und zerstört und der vermeintliche Wohlstand der westlichen Welt fußt auf der großen Armut der dritten Welt. Der Neoliberalismus ist also ein System des ständig Nach-unten-Tretens.

Nach wie vor ist es so, dass die globalen Monarchen ihr Geld erhalten durch diese Politik und jeden in dieses Schema pressen. Das ist wohl anders als es die Theorie vorhergesagt hat. Hayek, Friedman und deren Schüler – zahlreiche Wirtschaftsschulen, der IWF, die Weltbank, das OECD und fast jede moderne Regierung, haben bis dato argumentiert, dass je weniger sie die Reichen besteuern, sie Arbeitsrechte schützen, desto reicher wird jeder werden. Das ist jedoch vollkommener Blödsinn, betrachtet man den Grund, warum es Wirtschaftswachstum nach dem zweiten Weltkrieg gab: Reiche wurden vor allem hoch besteuert. Den freien Markt aufzulösen gilt jedoch als feindlich gegenüber der Freiheit. Jeder Versuch die entstandene Ungleichheit vonseiten des Staates zu reduzieren wird als Schaden an der Effizienz des Marktes genommen, der wie ein Zombie jeden fressen zu scheint. Die Apostel des Neoliberalismus haben 30 Jahre lang ein Experiment durchgeführt. Die Resultate sind da: Totales Scheitern.

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Erkrath

Erkrath bewertete diesen Eintrag 18.04.2016 10:16:28

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