Es gibt ihn in Hamburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, den Schwer-in-Ordnung-Ausweis. Andere Bundesländer werden in Windeseile folgen, jede Wette.

Schwer-in-Ordnung-Ausweis? Noch nie gehört? Dann wird es aber Zeit. Ein Ausweis ist dieser im eigentlichen Sinne zwar nicht. Es handelt sich bei ihm nur um eine Ausweishülle, die mit dem amtlichen Schwerbehindertenausweis genutzt wird. Wird dieser in die Hülle geschoben, verschwindet der Schriftzug „Schwerbehindertenausweis“ und statt dessen ist nun zu lesen „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“. Denn inzwischen ist man offensichtlich in immer mehr Bundesländern zu der Auffassung gelangt, dass bereits das Wort „Schwerbehindertenausweis“ eine unzulässige Diskriminierung darstellt. Die Diskriminierung lauert heute halt überall, selbst da, wo man sie nicht vermutet hätte wie beim Schwerbehindertenausweis. Denn der berechtigt doch zu Vergünstigen wie z. B. kostenlosen Bahnfahrten für Schwerbehinderte oder sollten wir besser auch dieses Wort vermeiden und statt dessen z. B. von „besonderen Menschen“ sprechen?

Ja, die Zeiten, in denen behinderte Menschen noch respektlos als Krüppel oder Idiot bezeichnet wurden, sind endgültig vorbei. Doch nicht nur das. Wir gehen heute so weit, dass selbst das Wort "behindert" schon so konnotiert wird, als habe da jemand "Krüppel", "Idiot" oder was auch immer gesagt. Inklusion, also die Negierung von Behinderung, ist das Zeichen der Zeit. Auch schwer geistig behinderte Kinder können z. B. selbstverständlich Regelschulen wie das Gymnasium besuchen. In Bremen wurde dies gerade höchstrichterlich festgestellt, indem das Bremer Verwaltungsgericht die Klage der Leiterin eines Gymnasiums abwies, die sich weigerte, an ihrer Schule eine Integrationsklasse mit bis zu fünf auch geistig behinderten Schülern einzurichten. Und ganz aktuell: Über die Sommerpause wollen die Koalitionsfraktionen in Deutschland das Wahlrecht ändern, so dass auch die rund 81.000 geistig Behinderten, die bislang kein Wahlrecht besaßen, bei Bundestags- und Europawahlen wählen können. Interessant ist dies insofern, als es sich hier um Personen handelt, die in allen Lebenslagen einen Betreuer benötigen, intellektuell also nicht in der Lage sind, ihr Leben selber zu meistern. Besonders engagiert ist hier die SPD. Vielleicht stellt die dann ja auch Betreuer ab, die zeigen, wo das Kreuz zu machen ist. Nötig haben die Genossen das ja. Wir sehen: Alles ist möglich, Behinderungen sind nur Einbildung, wir machen uns die Realität, wie sie uns gefällt.

Ja, wir sollten auf diesem Weg weiter kräftig voran schreiten und überall alles, was uns unangenehm und böse erscheint, einfach wegformulieren. Statt Kinder mit einer „Lese-Rechtschreibschwäche“ zu stigmatisieren, sollten wir diesen z. B. besser eine „Lese-Rechtschreibstärke – anders“ bescheinigen. Bei Menschen mit Depressionen sollte keine „bipolare Störung“ mehr diagnostiziert werden, sondern vielleicht besser von einer „bipolaren Gedankenvielfalt“ die Rede sein. Und wenn es ans Ende der Tage geht, so ist es Zeit, dass auch für den „Totenschein“ endlich ein positiverer Ausdruck gefunden wird. Wie wäre es denn mit „Bin-kurz-mal-weg-Attest“?

Apropos tot, während unter uns lebende Menschen mit schweren Behinderungen heute mit „Schwer-in-Ordnung-Ausweisen“ ausgestattet werden und die Botschaft lautet: "He, das ist doch alles nicht so wild, ihr seid nicht behindert, ihr seid völlig normal, ihr könnt alles, wir haben euch lieb", ist das mit der Liebe gegenüber ungeborenen schwerbehinderten Kindern irgendwie noch nicht so richtig ausgeprägt. So ist es weiter möglich, diese auch nach dem dritten Schwangerschaftsmonat abzutreiben, sogar bis kurz vor der Geburt, also zur Not auch im neunten Monat. Mehr als 2.700 Abtreibungen nach dem 3. Schwangerschaftsmonat gab es 2017 in Deutschland. Mehr als 650 davon sogar erst nach dem 5. Monat. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, da es keine Meldepflicht für Spätabbrüche gibt. Da das Kind bei einer Spätabtreibung schon zu groß ist, muss eine Geburt eingeleitet werden. Damit das Kind dabei nicht womöglich lebend zur Welt kommt, wird es zuvor mit einer Kaliuminjektion ins Herz getötet.

Eigentlich doch ein Widerspruch sollte man meinen, Kinder, die "Schwer in Ordnung sind", zu töten. Doch wer sich an die Widersprüchlichkeiten in dieser dem Mainstream hinterher heuchelnden Gesellschaft gewöhnt hat, den wird auch das nicht wundern. Denn es ist nicht nur en vogue sich voll für Behinderte einzusetzen, es ist auch en vogue Abtreibungen fortschrittlich zu finden. Da haben dann alle, die "Schwer in Ordnung" sind, halt doch oft das Nachsehen. Da hilft auch keine Aussicht auf den "Schwer-in-Ordnung-Ausweis", den Platz in der Inklusionsklasse des Gymnasiums oder das Recht, die Genies des Deutschen Bundestages zu wählen. Ja, auch das ist letztlich aber wohl "Schwer in Ordnung" und gewollt und niemanden stört's.

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