Gestern saß ich mit einem Arbeitskollegen in der Kantine. Das ist erst einmal unspektakulär. Man kommt rein, trifft fast immer jemanden von der eigenen Dienststelle. So sitzt man dann gemeinsam am Tisch und trinkt einen Kaffee, oder zehn. Als wir gerade über das übliche, arbeitsbezogene Tun sprechen, vibriert mein Handy. Ich schaue nach: es ist die FAZ-App. Mir wird eine Eilmeldung eingeblendet, die von gewaltigen Explosionen in Istanbul berichtet. Für einen Moment habe ich nicht mitbekommen, was mein Kollege mir gerade erzählt hat. Er ist 26 Jahre alt, stammt aus der Türkei, kam vor knapp 8 Jahren zu uns, um zu studieren. Seine Familie lebt in einem Istanbuler Arbeiterviertel.

"Hast du schon mitbekommen, was gerade in Istanbul passiert ist?" frage ich ihn. "Nein", antwortet er, "was denn?"

Ich gebe ihm mein Handy mit dem kurzen Bericht über die Explosionen. Seine Hände beginnen zu zittern, seinem Gesicht entschwindet die Farbe. Er zückt sein Handy, um seinen Vater anzurufen. Anrufbeantworter. Darauf ruft er seine Schwester an, diese nimmt offenbar ab, denn er beginnt, auf türkisch in den Hörer zu sprechen. Das Gespräch dauert keine drei Minuten. Als er auflegte, war er zornig. Ich schlug ihm vor, zum rauchen auf den Balkon zu gehen, ich dachte, das könnte er jetzt brauchen. Die Zigarette konnte er nicht richtig halten. Wenn er sprach, bebte seine Stimme, er rang um Worte.

Er begann das Gespräch:

"Weißt du, warum machen diese verdammten Hunde so etwas?"

Ich fragte ihn, ob seine Familie in Sicherheit sei und ob sie etwas mitbekommen hätten. Er bejahte die erste Frage und verneinte die zweite. In Istanbul wisse im Moment niemand, der es nicht genau mitbekam, was passiert war. Nur, dass es laut knallte in der Nähe des Fußballstadions.

Die Familie meines Kollegen ist, wie ich seit gestern weiß, ein wenig gespalten. Der Vater aus Antalya, die Mutter Kurdin aus dem tiefsten Südosten, nahe syrisch-türkischer Grenze. Alpay erzählt, seine Mutter und sein Bruder würden Erdogan und die AKP bis aufs Blut hassen, sein Vater könne das nicht wirklich verstehen, lebt aber damit. Er habe von der Wirtschaftspolitik der letzten Jahre profitiert, einen sichereren und besser bezahlten Job bekommen, religiös ist die Familie kaum, sodass die Islamisierung der Politik sie nur wenig tangiert, man kümmere sich um die eigenen Angelegenheiten.

Doch nun wieder: eine Bombe explodiert, Menschen sterben. Noch ist nicht bekannt, wer dafür verantwortlich ist, später wird sich die Gruppe "Freiheitsfalken Kurdistans", eine Splittergruppe der PKK, dazu bekennen. Alpay ist wütend. Er mutmaßt, "die Kranken Schweine von Daesh (IS)" seien dafür verantwortlich. Obwohl: wenn das Ziel Polizisten waren, wäre wohl eher die PKK schuld an dem Blutbad. Momentan ist es einerlei. Der junge Kollege regt sich noch eine ganze Weile auf, flucht und beruhigt sich dann ein wenig. "Diese Bastarde stürzen uns in den Krieg!" meint er. Wen er denn genau meine, frage ich. "Alle! Erdogan, PKK, Terroristen!" Er erinnert sich an seine Schulzeit vor 10 Jahren, in der niemand daran dachte, dass es so etwas noch einmal geben wird.

Welche Auswirkung hat die Lage in der Türkei auf die bei uns lebenden Türken, deren Kinder und Kindeskinder? Auswüchse davon sieht man in Straßenschlachten, die sich Kurden und AKP-Anhänger auf deutschen Straßen liefern. Einen Auftritt Erdogans in einem Fußballstadion, in dem er den türkischen Nationalismus heraufbeschwört und von abertausenden Deutschtürken bejubelt wird. Und dann gibt es meinen Kollegen Alpay, der mit all dem am liebsten nichts zu tun haben möchte. Einer, der das Gefühl hat, ihm wird ein Konflikt aufgezwungen, den sein Herz nicht will. Ich habe noch eine halbe Stunde mit ihm verbracht und ihn auf einen Tee eingeladen. Dann ging es zurück an die Arbeit.

Ich glaube nicht, dass er der einzige ist, dem es so geht. Ich habe mehrere türkische Arbeitskollegen und auch private Freunde. Viele wollen diesen Hass nicht. Von ihnen wird verlangt, pro oder contra zu sein. Pro Erdogan, von einigen Landsleuten und Funktionären, die in AKP-Lobbyorganisationen in Europa aktiv sind. Hinter der PKK sollen sie stehen, sagen andere Verbände.

Leider nehmen wir nur diejenigen wahr, die am lautesten schreien. Vergessen wir nicht die anderen, die seit Jahrzehnten in unserer Mitte leben, von denen viele noch das demokratische Erbe Mustafa Kemal´s im Herzen tragen. Wenn wir jedoch weiterhin den politischen Zugriff auf die Diaspora aus Ankara zulassen, nichts gegen dieses Abdriften tun, dann wird es vermutlich keine Entspannung der Lage zu feiern geben. Warum überlassen wir die Fürsorge für die deutsch-türkische Community Organisationen, die durch die Hintertür Kontake zur Muslimbruderschaft pflegen, die sogar direkt dem türkischen Religionsamt Diyanet unterstellt sind und arbeiten auf staatlicher Ebene mit selbigen zusammen?

Es ist unsere Gesellschaft, nicht Erdogans, mit allen, die friedlich darin koexistieren wollen, ob Müller, Öztürk oder Demirtas.

Shutterstock/Urheberrecht: deepspace

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Peter Fuchs

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