Wo liegt sie nun, die Grenze zwischen Wahrnehmung und Wahrheit? Nehme ich die Wahrheit wahr oder nur meine eigene Interpretation davon? Ist die Wahrheit absolut oder relativ? Und vor allem: Wem, verdammt, gehört die Wahrheit denn nun? Wenn wir uns eine handelsübliche Tomate ansehen, wird kaum ein Streit darüber geführt werden, ob sie rot ist, könnte man meinen. Sie ist rot, das ist die Wahrheit, oder? Aber was ist denn dann mit den gelben Tomaten? Die gibt es doch auch. Ja, sehr einfaches Beispiel, jedoch mit einer Bedeutung, die sich ins Große übertragen lässt. Die Schlussfolgerung, es sei wahr, dass Tomaten rot sind, erfordert einen einzigen Schritt. Ist die Aussage nun falsch, weil es auch gelbe Tomaten gibt? Nein, denn einige Tomaten sind trotzdem rot. Das bedeutet, man müsste der Korrektheit halber sagen, Tomaten sind mitunter rot. Sie sind auch mitunter gelb und manche sind braun. 3 diskutierende Menschen, der Eine behauptet, Tomaten sind rot, der Andere, sie sind gelb, für den Dritten sind sie braun. Alle 3 haben teilweise Recht, alle 3 äußern einen Teil der nicht ganz so absoluten Wahrheit, denn es gibt auch grüne Tomaten, auf keinen Fall aber sind Tomaten per se rot. So verhält es sich mit nahezu jeder Sache, in der es darum geht, die Wahrheit zu ermitteln, beziehungsweise zu finden. Nun sucht der Eine die Wahrheit, während ein Anderer steif und fest für sich beansprucht, sie gefunden zu haben. Analog dazu verhält es sich mit dem Begriff der Realität, der in den letzten Monaten die Debatte prägt. Jeder beansprucht für sich selbst, die treffendste Auffasung der Realität zu vertreten, während abweichende Sichtweisen meist als verblendet oder schlicht falsch abgetan werden können. Vor einigen Wochen las ich hierzu einen bezeichnenden Facebookkommentar. Der Kommentator verkündete seine Wahrheit und teilte der Community mit, alle, die seine Wahrheit nicht erkennen, sollten ihre eigene Verblendung endlich sehen, um seine Wahrheit als absolut anzuerkennen. Wenn sie das nicht tun, hätten sie "nichts anderes verdient, von den Musels aufgehängt oder geköpft zu werden." Charmantes Kerlchen.

Das Internet weiß mehr.

Natürlich, das Internet. Das Internet weiß mehr als jede Zeitung, jedes Buch und es weiß mehr als irgendeiner der über 7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten in seinem Gehirn zu speichern vermag. Jeder kann seine persönliche Wahrheit/Realität in die Weiten des Netzes einspeisen. Hierzu sagte bereits Voltaire: "Es steht im Internet, also ist es wahr."

Beispiel: Wir alle wissen, was eine Impfung ist. Die meisten von uns haben wohl auch irgendwann einmal eine Spritze bekommen, damit wir keine unangenehmen Krankheiten wie Mumps, Röteln, Masern oder Ähnliches bekommen. Unzählige Wissenschaftler haben Jahrzehntelang an Impfungen geforscht, an ihren Wirkungen und Nebenwirkungen. Offensichtlich kam man zu dem Schluss, dass Impfen alles in allem, wenn auch mit Einschränkungen, sinnvoll ist. Man könnte meinen, das sei die Wahrheit, doch selbst die Wissenschaft ist sich nicht in jedem Detail einig. So gab es berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit von beispielsweise Vogelgrippe-Impfungen.(Hat davon noch mal irgendjemand was gehört?)Jetzt kommt Hans U.P. Tolzin, Anhänger der sogenannten "neuen germanischen Medizin", ins Spiel, der hin und wieder wirre Beiträge für den Kopp-Verlag schreibt. Hans ist gelernter Molkereifachmann, er besitzt keinerlei medizinische Ausbildung, aber er kennt die Wahrheit. Impfen ist nicht nur Blödsinn, es ist sogar gefährlich. Generell, immer. Und es geht noch schlimmer: in seinem Weltbild sind die Impfgegner die Juden der heutigen Zeit, da sie so massiv verfolgt werden. Da der Mann nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen ist, kann er seine Thesen auch begründen. Dazu werden beispielsweise Bilder von weinenden Kindern beim Impfen gezeigt, mit der Beschreibung, Kinder wüssten instinktiv, was ihnen schadet. Dem versierten Leser muss nebenbei erklärt werden, was instinktiv bedeutet, deshalb Tolzin´s Randvermerk: "Instinktiv = unbewusst." Ganz genau, deswegen benötigen scharfe Putzmittel auch eine Kindersicherung am Deckel, da die Kinder bereits im jungen Alter verstanden haben, wie gesund Waschbenzin oder Chlorreiniger ist. Wissenschaftliche, auf Forschungsergebnissen basierende Grundlagen sucht man in seinen Werken jedoch vergebens.

Dies ist nur ein einziges von unzähligen Beispielen von selbst ernannten Netzpropheten, die die Wahrheit kennen. Ein Jürgen Elsässer präsentiert auch gerne mal widerlegte Falschmeldungen als Beleg für seine persönliche Wahrheit, während "Die rote Fahne", ein Magazin, dass sich als marxistisch ausgibt, jedoch eher maoistisch wirkt, erklärt analog zum Compact-Magazin, warum der Russe immer der Gute und der Amerikaner immer der Böse ist. Und sowieso sind Heiko Maas und Angela Merkel generell daran Schuld, dass die Welt scheisse ist. Ergo gibt es auf unserem Planeten viele Millionen Wahrheiten zu ein und dem selben Thema. Schade, es könnte so einfach sein. Worauf will ich mit diesem Text hier eigentlich hinaus? Ich will nichts anderes behaupten, als dass in den meisten Fällen, die nicht an die Gesetze der Natur gebunden sind, DIE EINE Wahrheit schlichtweg nicht existiert. Das trifft auf die Islamdebatte, Migrationsdebatte, Wirtschaftsdebatte, Gesellschaftsdebatte, Rechts-/links-Debatte, Impfdebatte, Sicherheitsdebatte und sonstige Debatten, die die Gesellschaft eben gerade führt, zu.

Solange jeder nur das glaubt, was er glauben will, ohne von seinem versteinerten Standpunkt abzurücken, werden wir die wahrste Wahrheit vermutlich nicht finden, denn wer seinen Standpunkt nicht zu verlassen bereit ist, der steht unveränderlich, wer unveränderlich steht, der kann nicht mehr suchen und schlussendlich muss er dabei bleiben, zu glauben, er habe die Wahrheit gefunden. Lasst uns nicht aufhören zu suchen.

"Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheit."

- Albert Camus

"Es gibt ebensowenig die hundertprozentige Wahrheit,

wie es hundertprozentigen Alkohol gibt."

- Sigmund Freud

"Die Wahrheit ist zu schlau, um gefangen zu werden."

-Wilhelm Busch

"Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache."

- Sir Arthur Conan Doyle

Und mein persönlicher Favorit:

"Glaube denen, die die Wahrheit suchen, zweifle an denen, die sie gefunden haben."

- André Gide

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Silvia Jelincic

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