Flow
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Ach, wie liebe ich Wikipedia. Du brauchst als Weltbürger heutzutage nichts mehr wissen. Du brauchst nur WLAN-Zugang. Das drahtlose lokale Netzwerk konnekted dich mit Cyberspace. Bald musst du auch nicht mehr tippen. SIRI, die Sprachinterpretations- und –widergabeschnittstelle, - anschlussstelle, - nahtstelle, - übergangsstelle, perfektioniert sich gerade selbst und wird in Kürze sogar analphabetisches Gestammel in einen internettauglichen Befehl verwandeln können, da es sich mittels kontextualer Reize, wie die verbesserte Google Glass oder Schweißfilmerkennungssensoren an der i Watch, in die Erwartungswelt des Users hineindenken kann.
Soweit die erlebte Realität.
Heute interessiert mich aber mehr die soziale Komponente dieser omnipräsenten Wissensverfügbarkeit.
Darum auch die vielen Gesellschaften, die ich an den Beginn dieser niedergeschriebenen Gehirnststürmübung gestellt habe, weil brainstormen ist cool. Ich darf wie bei der Werbung für Heilmittel auch gleich darauf hinweisen, dass über Wirkung und mögliche unerwünschte Wirkungen eines Leseprozesses nicht Gebrauchsinformation, Arzt oder Apotheker sondern Psychologe und Sozialtherapeut informieren. Der Text geht über eine Seite – eine mittlerweile für Entscheidungsträger eingeführte DIN/ÖNORM-Norm - hinaus.
Wir versuchen so gern, unsere Menschengemeinschaft zu definieren. Wer gehört zu wem? Wer gehört zu was? BoBo-s haben mir in letzter Zeit am besten gefallen. (bourgeois – bohémien). Boboville nennt Andrea Maria Dusl gewisse Wohnteile Wiens. Nach den nonkonformistischen Hippies und den turbomaterialistischen Yuppies haben wir eine neue Randerscheinung, die Hipsters, aufgeklärt intellektuell, die wenn sie mit dem rechten Rand in Berührung kommen zu Nipsters werden. Dabei hatten wir die Hipsters bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als jazzverliebte Schwarzbrillenträger mit Baskenmütze, die als Begriff, wenn auch in komplett anderer Erscheinungsform ihren Weg in die Sowjetunion fanden, dort als „Stilyagi“ nach Stalins Tod aufleben durften, bis sie wegen Systemzersetzung und Vaterlandsverrat in Arbeitslager kamen.
Spaßgesellschaft kommt mir in den Sinn. Bei ravender Gesellschaft musste ich selbst ins Wikipedia wechseln. Die Occupy Bewegung ist fast schon Ewigkeiten (2011) her. Beim Institut für Jugendkulturforschung in Wien wird eine Fülle von Jugendszenen untersucht. Szene klingt besser als Gesellschaft in hip-hopen Ohren.
Aber meine Gehirnstürmerei bringt mich in immer neue Verästelungen und ich werde bald den Baum vor lauter Zweigen nicht mehr sehen.
Dabei habe ich einen ganz klaren Zielbegriff, um den ich Gedanken zusammentragen wollte.
Flow
Wikipedia definiert: „Flow“ kann bei Steuerung eines komplexen, schnell ablaufenden Geschehens im Bereich zwischen Überforderung (Angst) und Unterforderung (Langeweile) entstehen. Dieser Schaffens- oder Tätigkeitsrausch, diese Funktionslust wurde vom Glücksforscher Mihály Csikszentmihály beschrieben und als Theorie geschaffen.
Ich möchte nun eine neue, aktuelle Gesellschaft vorstellen:
die Flowgesellschaft
Die Besonderheit der Flowgesellschaft liegt darin, dass sie generationenübergreifend, ja fast generationenunabhängig ist. Von 8 bis 80 wie ein anderer Glücksforscher bzw. Trend- und Zukunftsforscher, Matthias Horx, die tägliche Unterrichtsstunde „Glückskunde und Selbsterkenntnis“ verpflichtend fordert, so gleiten diese Zeitgenossinnen und –genossen der 72-jährigen Zeitspanne durch Gesellschaft und Raum. Die Gendergerechtigkeit dieser Gesellschaft versteht sich von selbst.
Ideengeschichtlich bin ich natürlich versucht auf Heraklit (520 – 460 v.Chr.) und seine panta rhei – Lehre zurückzugreifen. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Ich bin mir aber nicht sicher, dass diese über Platon (428 – 348 v. Chr.) an uns überlieferte Seinsdefinition für die „Flowgesellschaft“ voll zutreffend ist. Besonders der Aspekt der Vergänglichkeit, der von Hölderlin und Hegel hervorgehoben wird, scheint im „Flow“ nicht vorhanden zu sein.
Die fließende Bewegung erscheint vielmehr zeitlos, zeitaufgehoben, denn Zeit ist etwas, was man permanent nicht hat (Überforderung) und im Multitasking vergisst, da jede Minute ohne Beschäftigung das Maul der Langeweile (Unterforderung) aufreißt.
Wir sehen sie jeden Tag, im urbanen Kontext deutlicher, an jedem öffentlichen Ort. Das Smartphone ist ihr wichtigstes Utensil. Das Lesen von Büromails, die Lautdiskussion über die Konsistenz des Mittagessens, das Checken der Facebook-Eintragungen, was sich in den letzten zehn Minuten verändert hat, die Instagram – Frohbotschaft, die Verabredung mit der „Wo-treffen-wir-uns-heute-Gruppe“ in WhatsApp bis zum selteneren Lesen von Nachrichten – all dies spielt sich vor unseren Augen ab, wenn wir die Zeit hätten, die Augen von unserem Screen zu erheben.
Der bekennende Marxist und Philosoph, Slavoj Žižek, bemerkt launisch zu diesem Netzverhalten: „Das Netz ist so groß, dass sie dort nur finden, wonach sie suchen. In einer Zeitung dagegen werden sie auf Sachen gestoßen, von denen sie nichts wussten.“ In einem tiefgehenden Pendelausschlag in die andere Richtung analysiert derselbe Žižek in „Körperlose Organe: Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan“ den „flow“ als Beschreibungen für die Modelle des Virtuellen, einerseits als „Ort des produktiven Werdens“ („the pure flow of Becoming“), andererseits als „Ort des sterilen Sinn-Ereignisses“ („the sterile flow of surface becoming“, the pure effect of corporeal causes).
Damit sind wir schon voll in der Gegenwartsphilosophie, die in ihrem postmodernen Selbstverständnis einem ästhetischen Non-konformismus frönt. Der flow von Hegel zu Marx zu Heidegger zu Foucault zu Deleuze zu Derrida mündet im globalen Ozean mit Inseln wie Seyla Benhabib, Homi K. Bhabha, Manuel de Landa, Fredric Jameson, Antonio Negri, Edward Said, Peter Sloterdijk, Slavoj Žižek und Joseph Vogl. Ein zweiter flow entspringt bei Freud zu Jung zu Frankl zu Fromm zu Lacan und endet in mittlerweile mehr als 200 Psychotherapie- und Selbsterfahrungsmethoden, wovon 22 in Österreich als Verfahren zugelassen sind. Irgendwie kommt mir dabei Egon Friedell in den Sinn, der schon 1931 schrieb: “Die experimentelle Psychologie und die experimentelle Physik gelangen zu demselben Resultat. Die Seele ist überwirklich, die Materie ist unterwirklich. Zugleich aber erscheint ein schwacher Lichtschimmer von der anderen Seite. Das nächste Kapitel der europäischen Kulturgeschichte wird die Geschichte dieses Lichts sein.“
Von all diesem metaphysischen und existenziellen Überbau hat die überwältigende Mehrheit der Angehörigen der „Flowgesellschaft“ keine Ahnung, will sie auch nicht haben, da die Beschäftigung mit vertiefendem Wissen die eigene Beweglichkeit einschränken und damit das Mitfließen erschweren würde.
Bernhard Heinzlmaier beschreibt in jugendkultur.at den „konformistischen Individualismus“, eine Form des Individualismus, die nicht als exzentrisches Rebellendasein, sondern als angepasste Massenexistenz gelebt wird, und zum dominanten „institutionellen Erwartungsmuster“ geworden ist. Wo Individualismus zur Pflicht für alle wird, entsteht eine homogen denkende und handelnde pseudoindividuelle Masse, in der der Einzelne aber trotzdem das Gefühl haben muss, dass er etwas Einzigartiges und Besonders ist.
Es wird also ein Medium benötigt, das die Illusion aufrecht erhält, keine Massenexistenz zu sein. Dieses symbolische Medium ist die Mode. Sie hat zwei Funktionen. Zum einen hilft sie, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Anlehnung zu erzeugen, indem sie den Einzelnen „auf die Bahn führt, die alle gehen“ (vgl. Simmel 2008: 48). Zum anderen befriedigt die Mode den Willen des Menschen nach individueller Einzigartigkeit, in Zeiten einer nach Werten und Einstellungen uniformen Individualität ihr wohl wesentlicherer Funktionsaspekt.
Die hoch interessante – post-marxistische – Analyse postuliert weiter, dass mit der postmodernen Jugend ein neuer Denktypus in die Welt gekommen ist, dessen Grundkompetenz sich von einem logozentrischen zum ästhetischen Denken verlagert hat. Der Grund für diese Verschiebung liegt in der Wirklichkeit selbst, die heute bereits wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über Prozesse medialer Wahrnehmung konstituiert wird. (vgl. Welsch 2003) Das bedeutet: Das Handeln der Jugend ist selten reflexiv, d.h. von der Vernunft geleitet (logozentrisch). Häufiger ist es eine spontane Reaktion auf ästhetische Impulse, die aus der sozialen und medialen Umwelt kommen (ästhetisch).
Die Bilderflut bedeutet das weitgehende Ende einer „diskursiven Kommunikationskultur“ und diese wird ersetzt durch die „präsentativ-symbolische Kommunikation“, die unmittelbar das Gefühl anspricht. Das digitale Hochgeschwindigkeitsmedium ist vom „affectum“ geprägt. „Das affectum schreit und erregt. Es bringt nur sprachlose Erregung und Reize hervor, die ein unmittelbares Gefühl auslösen.“ (Han 2015: 80)
In diese Kerbe schlägt wohl Marc Zuckerberg, wenn er im März 2015 von Facebook als Teil einer großen App-Familie spricht. Bereits 600 Millionen Menschen würden Facebooks Messenger App nutzen, neben 1,4 Milliarden Usern der Facebook-Plattform, 700 Millionen WhatsApp-Nutzern und 300 Millionen Instagram-Nutzern. Der nächste Schritt sei nun die „Messenger Plattform“, also die Möglichkeit, Inhalte wie animierte GIFs (Graphics Interchange Format) oder Videos oder andere Multimedia-Inhalte mit Freunden direkt im Messenger zu teilen. Messenger-Chef David Marcus erklärte, dass die neuen Funktionen für den Messenger auch die Lücke füllen sollen, die entsteht, wenn Menschen versuchen Emotionen auszudrücken. Emoticons seien dafür nur bedingt geeignet, Videos und GIFs könnten diese viel besser ausdrücken.
Überrieselt nicht ein feiner (Elektro-)Schauer den Rücken, wenn wir unsere Gefühle den besseren Techniken übergeben sollen? Denn ab wann bestimmt der User das Tool oder geben die Tools ganz bestimmte Inhalte zur Verfügung des Users?
Aber auch von diesen Fragen möchten die Angehörigen der „Flowgesellschaft“ verschont bleiben. Wer hat schon die Zeit, sich mit all diesen Entwicklungen der Zukunft zu beschäftigen, wenn die Bewältigung der Gegenwart schon genug Mühe erfordert? Auf der Höhe der Zeit zu sein, das neueste Phone zu haben, das Tablet der letzten Generation zu besitzen, die trendige Kluft in die angesagten Lokale auszutragen – und all dies gilt für jede Einkommens- und Altersstufe. In den Ballungszentren, in denen angeblich 2030 bereits 70% der Bevölkerung leben werden, ist es sichtbarer, weil unmittelbar über- und nebeneinander. Als Phänomen ist es flächendeckend.
Eine Facette dieser Flowgesellschaft ist auch eine weitgehende „Printabstinenz“. Als printabstinent bezeichnet man Menschen, die Tageszeitungen nur sporadisch benutzen und auf ein sehr enges boulevardeskes Spektrum von Zeitungen beschränkt sind. Die Gratiszeitungen helfen das Leseverhalten zu steigern und die Meinungsvielfalt zu verflachen. In Organisationen und Großfirmen wird angeraten, von der Printausgabe auf die digitale Version umzusteigen. Ich verweise auf die Aussage von Slavoj Žižek etwas höher.
Von nachstehender Grafik bin ich schlicht begeistert.
Dabei geht es mir nicht um die verschiedenen Prozentsätze, sondern um die Bezeichnungen! Die „Adaptiv – Pragmatische“! Der „Digitale Individualist“! Sie machen bereits 36% der Jugend aus, und wenn sie in eine Koalition mit den „Konservativ – Bürgerlichen“ eintreten, haben sie eine demokratische Mehrheit!
Abseits dieser Lebensmodellunterscheidung fällt mir eines auf – alle sind potentielle Mitglieder der „Flowgesellschaft“, oder sind sie es nur, weil ein Mitglied der „Flowgesellschaft“ diese Typisierung und Benamung durchgeführt hat? Das Ergebnis bleibt sich wohl gleich.
Bei einem kurzen Gedankenaustausch mit einem eminenten Philosophen unseres Landes kam auf meine Vorstellung der „Flowgesellschaft“ die scharfzüngige Replik: „Wer hätte gedacht, dass einmal die Mitschwimmer das Sagen haben werden“. So bonmotig die Bemerkung erscheint, enthüllt sie bei genauerem Hinsehen die Realität unserer gesellschaftspolitischen Entwicklung.
Wie entstehen Entscheidungen in den höchsten Führungsebenen von Politik und Wirtschaft? Es wird eine Markterhebung gemacht, es werden Meinungsumfragen zu allen Lebensbereichen durchgeführt. Die Ergebnisse über das Konsumentenverhalten oder die aktuellen Befindlichkeiten werden nach ihren Prozentanteilen kategorisiert. So wissen wir (oder glauben zu wissen), dass Sicherheit der höchste Wert der Menschen in unserem Kulturkreis und auf unserer Entwicklungsstufe ist. Will eine wahlwerbende Partei Aufmerksamkeit erhalten, spricht sie das Sicherheitsthema an. Um auch über die Grenzen Österreichs hinaus zu kommentieren, erleben wir in Deutschland die typische Siegesstrategie radikalerer Verkünder. Die angesprochene Kategorisierung kanalisiert das politische und wirtschaftliche Verhalten in den nächsten Abschnitt des vitalen Stromes. Die basisdemokratische Markterhebung hat aus ihrem Fluss die strömungsabgestuften Fahrrinnen zu erkennen gegeben. Jetzt liegt es nur daran, die Produktion von Waren, Dienstleistungen und politischen Aussagen diesen Strommarkierungen anzupassen. Wenn es zu unvermutet abrupten Stromverhaltensänderungen kommen sollte, wird eine „Kurskorrektur“ vorgenommen.
Was wäre daran verwerflich? Nichts, sonst würde es nicht bereits seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, gut funktionieren, spätestens seit dem Siegeszug der Marktforschung.
Ich erlaube mir aber die Frage nach der vielgepriesenen Innovation, der Kreativität, der Richtungsentscheidungen, der Politikgestalter, der Wirtschaftsvisionäre.
War jener der sagte: „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“, ein „Flowgesellschafter“? Er hat die Entwicklung vom Gestalter zum Verwalter jedenfalls begünstigt.
Eigentlich ist es ja eh lustig. Glück, Spaß, Freiheit, Gemeinschaft, Verantwortungsabstinenz, Globalempathie, und noch viele positive Perspektiven.
Ich persönlich habe daher nichts gegen die „Flowgesellschaft“. Sie ist mir nur zu wenig. Wenn ein Fluss auf der Vertikalen strömt, zieht er eine schöne Spur durch die Landschaft. Was mir allerdings fehlt, ist die Vertikale. Die jeden Tag neu zu treffende Definition, wo ich bin, woher ich komme und wohin ich will muss um die Definition meiner Wertvorstellungen und Prinzipien ergänzt werden. Ein politisch Verantwortlicher sagte einmal: „Hab nicht viele Prinzipien, nur ein paar, aber steh zu ihnen!“