Zur Geschichte der österreichischen Psychiatrie, Teil 2

Zur Dominanz der organisch-biologischen Auffassung in der Psychiatrie der Wiener medizinischen Schule und den Anfängen der Psychopharmakotherapie

Das Tollhaus, für das sich bald die Bezeichnung „Narrenturm“ durchsetzte, wurde im Zuge der Errichtung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses 1784 errichtet. Die Unterbringung der Geisteskranken im Bereich des zentralen Großkrankenhauses sowie die ärztliche Betreuung der verwahrten Kranken war der bedeutende Schritt in der Entwicklung der Anstaltspsychiatrie, wobei die Erarbeitung theoretischer Grundlagen der Geisteskrankheiten bis Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Schwerpunkt der Wiener medizinischen Schule darstellte.

Die Psychiatrie war in Ländern wie Frankreich, England, Deutschland bereits fortgeschrittener als in Wien, wo erst 1817 ein eigener Primarius für die Betreuung der Geisteskranken bestellt wurde. Ab 1821 gab es zwar eine Verordnung zur Einführung eines klinischen Unterrichtes über Wahnsinn und Kinderkrankheiten, aber eine umfassende Auseinandersetzung mit der Entstehung psychischer Erkrankungen erfolgte auf Wiener Boden erst durch Ernst von Feuchtersleben - dem ersten, der 1843 eine Vorlesung zur „ärztlichen Seelenkunde“ an der Wiener Universität abhielt. Feuchtersleben vertrat auf psychologisch-anthropologischer Grundlage eine ganzheitliche Auffassung im Sinn der Einheit von Körper (Leib) und Seele.

Primarius Michael Viszánik, Repräsentant der neuen Fachdisziplin, verfasste eine Schrift über die Leistungen der Irrenheilanstalt seit Gründung und erbrachte die erste Reflexion über die Anstaltspsychiatrie.

Die psychologisch-anthropologisch ganzheitliche Anstaltspsychiatrie erfuhr entsprechend der Durchsetzung des naturwissenschaftlichen, organischen Prinzips in der Medizin keine Weiterentwicklung. Wilhelm Griesinger stelltemit seinem Werk aus dem Jahr 1845 „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ die Psychiatrie auf eine hirnorganische Grundlage.

Die durch den Pathologen Carl Rokitansky und Josef Skoda vertretene pathologisch-anatomische Auffassung nahm in konsequenter Weise auch in der Psychiatrie Einzug, Theodor Meynert, Privatdozent für Bau und Leistung des Gehirns und Rückenmarks und späterer Prosektor der Wiener Landesirrenanstalt, erlangte vor allem für die Hirnforschung Weltgeltung. Meynert, seit 1870 außerordentlicher Professor für Psychiatrie und Vorstand der, in der niederösterreichischen Landesirrenanstalt errichteten, psychiatrischen Klinik, geriet mit Ludwig Schlager, der die niederösterreichische Landesirrenanstalt leitete, über den Gegenstand Psychiatrie in Konflikt.

Schlager sah in der rein hirnorganischen Orientierung eine Gefahr der Vernachlässigung von Humanisierungsbestrebungen und bemühte sich um Reformen der Irrengesetze.

Theodor Meynerts Bedeutung auf dem Gebiet der Forschung, - zu einer Zeit zu der noch kein Mikrotom zur Verfügung stand -, war über Österreichs Grenzen gegeben, durch die Einbeziehung der Neurologie hat er eine zusätzliche rein organische Dimension in der Psychiatrie geschaffen. Er arbeitete mit Schnitt- und Präparationstechniken, beschrieb Aufbau und Schichtung der Hirnrinde wie deren morphologische Elemente und wurde zum Begründer der Zytoarchitektronik. In anatomischen Studien gelang es ihm, die Lage der Rückenmarksbahnen am Querschnitt zu erklären. Aus dem Bestreben, psychische Verhaltensweisen anatomisch-physiologisch zu erklären, resultierte auch seine Affektlehre, in der er sich auf die Durchblutung des Gehirns stützte.

Julius Wagner-Jauregg befasste sich mit dem in steirischen Gebieten gehäuft auftretenden Kretinismus und konnte als Ursache eine Unterfunktion der Schilddrüse aufgrund von Jodmangel angeben. Er schlug als erster die Verabreichung von jodiertem Kochsalz vor. 1927 wurde Wagner-Jauregg als bisher einzigem Psychiater der Nobelpreis für Medizin für seine Beobachtung, dass sich manche Psychosen unter Einwirkung fieberhafter Erkrankungen deutlich bessern. Dies machte er sich zu therapeutischen Zwecken nutzbar und behandelte erfolgreich Paralytiker durch künstlich hervorgerufenes Fieber mittels Impfmalaria.

Die Dominanz der organisch-biologischen Auffassung erklärt die zögerliche Akzeptanz der Psychoanalyse Siegmund Freuds, der um die Jahrhundertwende seine ausschließliche Hinwendung zur Psychotherapie und Neurosenlehre begann und der allgemein verbindlichen organisch-biologischen Auffassung den Rücken kehrte.

Paul Schilder, in den zwanziger Jahren an der Psychiatrischen Klinik unter Wagner-Jauregg tätig, sah als erster zwischen der organisch-biologischen und der psychoanalytischen Auffassung keinen Widerspruch.

Die organisch-biologische Auffassung blieb jedoch weiterhin dominierend. Constantin Economo beschrieb als erster die Encephalitis lethargica epidemica und identifizierte ein Schlafsteuerungszentrum im Hirnstamm. Auch Otto Pötzl war vorwiegend an der Hirnforschung interessiert. In seinen Vorlesungen berücksichtigte er aber psychoanalytische Erkenntnisse und versuchte in aufwendiger experimenteller Arbeit, die Freud‘sche Traumtheorie hirnorganisch zu belegen. Er unterstützte Manfred Sakel, welcher 1925 an der Wiener Universität promoviert wurde und anschließend in Berlin tätig war, bei der Entwicklung der Insulinschocktherapie der Schizophrenie. 1935 erschien die Monographie „Neue Behandlungsmethoden der Schizophrenie“, womit Sakel die Behandlbarkeit einer endogenen Psychose unter Beweis stellte.

Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg ist von einem deutlichen Wandel gekennzeichnet. Beispielsweise Hans Hoff vertrag die Auffassung der multifaktoriellen Kausalität der psychiatrischen Erkrankung, woraus sich für die Therapie die Einbeziehung von organisch-biologischer und psychodynamischer oder psychohygienischer Auffassungen ergab.

Die Bedeutung der Psychopharmaka wurde klar erkannt, die Auseinandersetzung damit setzte früh ein. So erfolgte in der Wiener Medizinischen Wochenschrift die 1. Veröffentlichung über ein Psychopharmakon (Largactil) im deutschen Sprachraum bereits 1952. Bertha in Graz und Ottokar H. Arnold und Hoff in Wien waren gemeinsam mit Harrer und dem damals aus Berlin kommenden Hippius, Pichot aus Frankreich sowie Kielholz aus Basel am Aufbau dieser Therapieform beteiligt.

Viktor Frankl beschäftigte sich mit der Kombination der Pharmako- mit der Psychotherapie und stellte fest, dass beide Techniken ein und dasselbe bezwecken „und in glücklichen Fällen auch erreichen“.

Die Stellung der Psychopharmaka im Gesamtbehandlungsplan der Psychiatrie wurde bereits im Mai 1960 auf einem in Wien abgehaltenen, internationalen Symposium betont, - die Forscher dachten damals neuroanatomisch, nicht neurochemisch wie heute -, es war jedoch dennoch klar, dass die Wirkung von Medikamenten nicht alle Facetten menschlichen Daseins umfassen würde können.

Während Wagner-Jauregg, der an den Fenstern überall Gitter anbringen hatte lassen, noch vom Gedanken, ein Patient könnte ein Streichholz oder ein Taschenmesser besitzen, geängstigt und beunruhigt war, betonte Hoff, dass Patienten aufgrund der effektiven Behandlung mit Psychopharmaka den Betreuern näher gerückt wären und sich verständlich machen könnten, sodass diese Ängste nicht mehr im selben Ausmaß bestehen würden.

Die Psychopharmakotherapie wurden differenzierter aufgenommen, die Wirkprinzipien von internationalen Autoren dargestellt und sohin die Grundlage für die weitere Entwicklung geschaffen. Die nächsten zwanzig Jahre nach Einführung der Psychopharmaka führten zur Realisierung sozialpsychiatrischer Behandlungsmaßnahmen, wodurch die moderne Zeit der Psychiatrie eingeleitet und die Ära einer differenzierten Behandlungsmethode von psychiatrischen Patienten eingeleitet wurde.

(vgl. Gröger, Helmut; Kasper, Siegfried (1997), In: Gröger, Helmut; Gabriel, Eberhard, Kasper, Siegfried (Hrsg.) (1997): Zur Geschichte der Psychiatrie in Wien, Christian Branksätter:Wien/München)

Seit dem Jahr 1907, der Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke „Am Steinhof“, befand sich in dem Gebäude der ehemaligen Landesirrenanstalt, das erst Anfang der siebziger Jahre dem Neubau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses weichen musste, die Psychiatrisch-neurologische Universitätsklinik.

BestandgeberIn: Archiv der Universität Wien, Bildarchiv UrheberIn: Foto-Kunstwerkstätte Martin & Mayer http://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/das-neue-allgemeine-krankenhaus-akh

Gruppe von Ärzten um Julius Wagner-Jauregg, Wien 1927. 1. Reihe Mitte: Julius Wagner-Jauregg; 3. von rechts: Paul Schilder; rechts außen: Otto Kauders; Hans Hoff in der 2. Reihe, 2. von rechts.

Gruppe von Ärzten https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Hoff_(Psychiater)#/media/File:Jauregg_and_coworkers_Vienna.JPG

Wilhelm Griesinger, Internist und Psychiater, wies auf die Notwendigkeit der Verbindung beider Fächer für den Irrenarzt hin.

Wilhelm Griesinger (1817–1868) https://en.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Griesinger#/media/File:Griesinger.jpg

Viele Auflagen erlebte das im Jahr 1886 erstmals erschienene Werk „Psychopathia sexualis“. Die Ausdrücke Fetischismus, Sadismus, Masochismus, Dämmerzustand, Zwangsvorstellung gehen stammen von Krafft-Ebing.

Psychopathia sexualis

Die 1853 geschaffene Niederösterreichische Landesirrenanstalt auf dem Brünnlfeld in Wien vermochte den rapide steigenden Bettenbedarf auf Dauer nicht zu decken.

Brünnlfeld http://gedenkstaettesteinhof.at/de/ausstellung/01-vom-narrenturm-zum-steinhof

Am 8. Oktober 1907 wurde an den Hängen des Gallitzinberges, Wien 14, die niederösterreichische Landes-Heil und Pflege-Anstalt für Geistes- und Nervenkranke „Am Steinhof“ eröffnet. Die Hauptdisposition des imposanten Komplexes von 60 Pavillons stammt von Otto Wagner, nach dessen Plänen auch die Kirche „Am Steinhof“ (Leopoldikirche) erbaut wurde. Die Anstalt diente der Unterbringung von 2200 Kranken.

Am Steinhof http://www.steinhof-gestalten.at/kontakt/

Am Steinhof, das sog. C-Gebäude http://gedenkstaettesteinhof.at/de/ausstellung/01-vom-narrenturm-zum-steinhof

Das Jugendstiltheater (Gesellschaftshaus) Am Steinhof http://www.steinhof-erhalten.at/Bilder/Jugendstiltheater/alte_ansicht.jpg

Malariablutentnahme in Anwesenheit Wagner-Jaureggs. Links im Bild Otto Kauders.

Malariablutentnahme https://en.wikipedia.org/wiki/Julius_Wagner-Jauregg#/media/File:Pyrotherapy_1934_image.jpg

Historische Aufnahme vom Allgemeinen Krankenhaus http://mediawien-film.at/film/300/

Vorschau nächste Blogs:

* Geschichte der Krankenpflege in Ö

* der Wiener Steinhof

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