Es ist ein Thema, das nicht neu ist, und seit einigen Jahren mit der ganzen unsinnigen Klimadiskussion wieder an Relevanz gewonnen hat (als ob ein Paar Fahrräder statt Autos mehr oder weniger hier einen Unterschied machen will, was auch die Absurdität dieser ganzen Diskussion aufzeigt). In diesem Fall geht es aber nicht um Klimadiskussion, und ebensowenig soll es eine Anpreisung des PKW in den Städten sein. Diese Extreme, Klima-Aktivismus gegen PKW-Besessenheit sind ein interessanter Mikrokosmos unserer polarisierten Diskussionskultur.

Es soll auch nicht Sinn und Zweck sein, das Fahrrad als Verkehrsmittel generell schlecht zu machen. Wie so Vieles, was zumal als Allheilmittel angepriesen wird oder als teuflisch angeprangert wird, hat das Fahrrad seinen Nutzen und seinen Platz. Die Frage, die man sich in aller Ehrlichkeit aber stellen sollte, ist ob es in dicht besiedelten Städte, welche bereits über verschiedene Möglichkeiten der Fortbewegung verfügen, zu Fuss, mit den öffentlichen Verkehrsmittel, oder, wenn nötig, auch der PKW, angemessen ist, nochmal zusätzlichen Platz für ein relativ begrenztes Fortbewegungsmittel zu schaffen, welches einerseits gute körperliche Verfassung erfordert, durch die Landschaft stark eingeschränkt sein kann, und generell für eher kurze Strecken nützlich ist. Wenn denn nun kurze Strecken zu Fuss bewältigt werden können, und für mittlere und längere die öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung steht, kann man wirklich sagen, dass diese zusätzliche Möglichkeit unerlässlich ist?

Ein Argument, das zumeist hier entgegen gehalten wird, ist, dass in vielen Städten sowieso viel zu viel Platz für Individualverkehr aufgewendet wird. Dies ist absolut richtig, doch ebenso fehlt in ebendiesen Städten zumeist Platz für Fussgänger und ÖPNV, Arten der Fortbewegung, die absolut unverzichtbar sind, wo hingegen das Fahrrad nur innerhalb eines gewissen Spektrums nützlich ist. Anders gesagt: Jeder kann sich zu Fuss und mit ÖPNV fortbewegen, aber nicht jeder mit dem Fahrrad. Hier gilt insofern das gleiche Argument, welches auch generell gegen den PKW verwendet wird, nämlich dass es eben nicht ein für alle zugängliches Fortbewegungsmittel ist, sei es aufgrund physischer oder finanzieller Begrenzung.

Trotzdem sind natürlich Strassen niemals völlig verzichtbar, wie manche ideologisch Verblendete gerne weiss machen wollen. Ein Teil des motorisierten Verkehrs ist völlig unverzichtbar, Lieferdienste, städtische Dienstleistungen (Wartung, Reinigung, Müllabfuhr, usw.), sowie Fälle, in welchen der PKW fast die einzig praktische Möglichkeit darstellt (Fahrt zum Flughafen oder Bahnhof mit viel Gepäck und/oder Kindern, Begleitung alter oder physisch behinderter Menschen, sonstiger Transport schwerer Güter, usw.). Somit muss also festgehalten werden: Notwendige Arten der Fortbewegung sind zu Fuss, mit ÖPNV und Strassenverkehr. Alle anderen Arten der Fortbewegung sind Optional: Roller, Fahrräder, Skateboards, usw.. Dies sollte in jeder pragmatischen Betrachtung miteinbezogen werden.

In erster Linie müssen also die drei notwendigen Arten der Fortbewegung untergrebracht werden, und die Erfordernisse mit den Möglichkeiten des Stadtraums abgewogen werden. Vor allem beim Strassenverkehr ist die konstante Sättigung des Strassenraums eine Falle, welche in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg zu grossen stadtplanerischen Fehlern geführt hat: Die Idee hierbei sei, dass eine gesättigte Strasse mehr Raum für den Verkehr erfordert, und sich dann diese Sättigung bzw. der Verkehr auflösen wird. Bietet man allerdings diesen zusätzlichen Raum, so schafft dies einen Ruf-Effekt, was sogleich dazu führt, dass der neu erweiterte Raum sogleich ebenfalls gesättigt wird. Zugleich behindert die Investition in Strasseninfrastruktur den Ausbau des ÖPNV. Ein Teufelskreis droht. Es ist oftmals zu beobachten, dass gerade Städte mit begrenztem Raum für Strassenverkehr weniger Stau aufweisen als andere mit mehr solchem Raum, vor allem, wenn ein guter ÖPNV angeboten wird. Eine Überwindung von Verkehrsproblemen durch Strassenausbau wurde aber in Städten ab einer gewissen Grösse praktisch nie erreicht.

Es kommt also die Frage auf, wie der Raum verteilt werden soll, zumal der Strassenverkehr dazu tendiert, allen Raum der zur Verfügung steht zu sättigen. Die Betrachtung muss hier umgedreht werden: Den Fussgängern und vor allem dem ÖPNV muss ersteinmal ein angemessener Raum geboten werden, und der restliche Raum kann dann für den Strassenverkehr verwendet werden. Die Stadt Zürich war hierin bisher ein exzellentes Beispiel: Generell gibt es genügend Raum für Fussgänger, und ebenfalls einen ausgezeichneten ÖPNV auf Grundlage von Strassenbahnen und S-Bahnen (aber keine U-Bahn oder Stadtbahn). Der restliche Raum ist für den Strassenverkehr. Im Stadtinneren bedeutet dies begrenzen Strassenraum und folglich ist die PKW Verwendung unpraktisch und wird von Vielen gemieden. Zugleich bleibt die Möglichkeit des PKWs erhalten, falls es die Notwendigkeit dazu gäbe. Für Fahrräder hingegen steht sehr begrenzte Infrastruktur zur Verfügung, lediglich teilweise Fahrradspuren, welche eng sind und nur durch Farbe gekennzeichnet, d.h. keine physisch abgetrennten Fahrradwege. In der Praxis ist die Verwendung von Fahrrädern nur in sog. gemischtem Verkehr möglich, also auf dem gleichen Raum wie der Strassenverkehr. Dies ist für wenig geübte Radfahrer ungünstig. Jedoch gibt eben stets andere praktische Möglichkeiten zur Fortbewegung.

Der Wunsch nun in dieses delikate Gleichgewicht nun eine weitreichendere Fahrradinfrastruktur einzubringen zeigt auf, wie dies mehr Probleme schafft, als das es löst: In einem Fall wurde auf einer engen Unterführung die Busspur aufgehoben, was den ÖPNV benachteiligt, welcher auf solche Möglichkeiten der Vorfahrt angewiesen ist, um den Zeitplan einzuhalten und eine schnelle, praktische Fortbewegung zu ermöglichen. In einem anderen Fall wurde aus Platzgründen der Fahrradweg direkt über den Bahnsteig einer Strassenbahnhaltestelle geführt, und mit einem ad hoc System farbiger Lampen am Boden ausgestattet, welche aufzeigen sollen ob die Fahrräder vorfahrt haben, oder, wenn die Strassenbahn kommt, die Fahrgäste. Dieses System funktioniert ausserordentlich schlecht, da es nur in diesem einen Fall zum Einsatz kommt, und somit von der grossen Mehrheit an Fussgängern, ÖPNV-Fahrgästen sowie Radfahrern nicht verstanden und nicht respektiert wird. Radfahrer, ÖPNV und Fussgänger werden hier benachteiligt. Denn es ist eben nicht möglich, alle diese Verkehrsmöglichkeiten unter einen Hut zu bringen.

Die Situation in Zürich ist allerdings für europäische Städte nicht typisch, da es eher üblich ist, dass die Problematik in zu gross ausgebauten Strassen und unzureichendem ÖPNV liegt. Der ÖPNV ist teuer in Ausbau und Unterhalt, somit sehen viele Städte mit den üblichen Verkehrsproblemen einen günstigen Ausweg darin, den Strassenraum einzugrenzen und stattdessen Fahrradwege einzurichten, in der Auffassung, dass mehr Autofahrer dann auf das Fahrrad umsteigen werden. Dies ist ein Trugschluss: In den meisten mittleren bis grossen Städten ist ein grossteil des Verkehrsaufkommen nicht innerstädtische Fortbewegung, sondern Pendler die aus den Vororten kommen, denn meistens ist trotz überdimensionierter Strassennetze das Autofahren innerhalb der Städte bereits wenig praktisch und teuer. Die Fahrradwege begünstigen also vor allem eben die Anwohner der Stadt und nicht der Vororte, welche sowieso schon die schlechteste Ausgangslage in der Fortbewegung haben, da der ÖPNV in den Vororten zumeist unzureichend ausgebaut ist, noch in Erbschaft der Zeiten vor einigen Jahrzehnten, wo noch weniger aus den Vororten gependelt wurde. Das Phänomen der Pendler hat sich in den letzten ca. 50 Jahren massiv verbreitet, und der ÖPNV hat vielerorts nicht mit dieser Entwicklung mitgehalten. Erneut gelte das positive Beispiel von Zürich: Dort wurde die S-Bahn als solche erst in den frühen 90er Jahren eingerichtet, und in nunmehr ca. 30 Jahren massiv ausgebaut, gar mit zwei neuen unterirdischen Durchmesserlinien und auch in Kombination mit schnelleren Zügen für das äussere Einzugsgebiet. Und trotzdem funktioniert dieses System fast an den Grenzen der Kapazität, und weitere Ausbauschritte sind in Planung. Das Beispiel zeigt auf, welcher Aufwand nötig ist, um den Vorortverkehr angemessen zu bedienen, und dies in einer Stadt, welche an sich keine halbe Million Einwohner hat, und mit einem Einzugsgebiet von zwischen 1,2 und 1,8 Millionen Einwohnern, je nach Betrachtung.

Schon das Phänomen des Pendlerverkehrs ist illustrativ dafür, wie eine Radweg-Politik im Grunde ein Kampf gegen Windmühlen ist. Er setzt das Verständnis der Problematik und folglich den Lösungsansatz komplett falsch an, und begünstigt schlussendlich die Bevölkerungsgruppen, die bereits in der besten Situation waren: Die Bewohner der Innenstadt und der zentraleren Wohngebiete, welche generell ein höheres Einkommen haben (da Wohnraum in der Stadt am teuersten ist), für gewöhnlich über die besseren ÖPNV Verbindungen durch die städtischen Verkehrsbetriebe verfügen, und mehr ihrer Fortbewegung zu Fuss bewältigen können.

Die Problematik der verfehlten Verkehrspolitik der 60er-70er Jahre, welche zu sehr auf Strassenverkehr setzte, wird also durch die Radwege nicht nur nicht gelöst, sonder verschlechtert, weil das Potenzial für die Verbesserung des ÖPNV-Angebotes gehemmt wird, die Ressourcen wenig nützlich angewendet werden, und der Strassenverkehr kaum reduziert wird, wohl aber der Raum für diesen. Denn ebenso wie Strassenraum fast sofortig von Strassenverkehr eingenommen wird, umso schwieriger ist der umgekehrte Vorgang, da erst eine angemessene Alternative angeboten werden muss, die mit dem PKW kompetitiv ist. Selbst der skandinavische Fahrrad-Mythos beruht auf einigen speziellen Faktoren, wie zum Beispiel extrem geräumige Strassen, welche den Platz für zusätzliche Fahrradinfrastruktur bieten ohne Fussgänger oder ÖPNV zu beeinträchtigen, ein bereits grosszügig ausgebauter ÖPNVs, und auch vergleichsweise geringer und kürzerer Pendlerverkehr: z.B. in Copenhagen ist die Stadtbevölkerung etwa 2/3 der Bevölkerung des ganzen Einzugsgebietes. Die Voraussetzungen, welche gerade der Sonderfall Copenhagen darstellt, sind so einzigartig verglichen mit mitteleuropäischen Städten, dass die Idee, diese Stadt als nachzuahmendes Beispiel zu nehmen völlig unsinnig erscheint, nicht etwa weil deren Verkehrspolitik nicht gut sei, sondern weil es einfach ein Fall ist, der sich auf die meisten Städte nicht übertragen lässt.

Die verkehrstechnische Städteplanung beharrt auf einem Konzept, welches oberflächlich positiv scheint, aber die tatsächlichen Probleme verfehlt. Man präsentiert freudig die Renderings von verkehrsberuhigten Strassen mit glücklichen Radfahrern, doch man kehrt das Hauptproblem des Pendlerverkehrs unter diesen Teppich der fröhlichen Radfahrer. Die Pendler haben derweil keine andere Wahl als entweder lange Zeit im Stau zu verbringen, oder unzuverlässige und überfüllte öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Auch hier ist ein Grundproblem von selektiver Realitätswahrnehmung, Ausblendung ungemütlicher Tatsachen, und Lösungen, die wenig mehr sind, als schöne Fassaden zu finden. Wenn diese Realitäten anerkannt werden sollen, dann muss ebenfalls verstanden werden, dass der Wunschtraum, eine Stadt voller Radfahrer und ohne Verkehr zu haben, eben wenig mehr als ein Wunschtraum ist.

Simon Wierzba/unsplash https://unsplash.com/photos/AOw57UzfXxc

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