Wie der gesellschaftliche Konsens verloren ging

Das „Overton-Fenster“ beschreibt was man öffentlich sagen kann. In den 1920igern lag dieses Fenster wo anders als in den 1990igern und in New York anderswo als in Moskau. Aber warum?

Der Schöpfer des Begriffs argumentierte, dass die Chance einer Idee sich durchzusetzen weniger davon abhängt ob sie wahr, gut oder funktionell ist, viel mehr ist die Frage ob sie zum Richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort existiert. Die 30 Stundenwoche etwa klingt heute gut, im antiken Rom, wo die Menschen zwischen 40 und 60 Stunden die Woche arbeiteten und gerade so überlebten, hätte es vermutlich zu Kopfschütteln geführt. Dafür waren Götter hoch im Kurs die sich heute nicht mehr verkaufen lassen.

Was <möglich ist> verändert sich, genau wie die Nachfrage nach Ideen. In einer Welt in der menschliche Produktion unbedeutend ist, funktioniert etwa Sozialismus recht gut, weil weder „was wir nehmen“ noch „was wir geben“ relevant ist. Ironischerweise interessiert sich in so einer Welt aber dann wohl auch kaum noch wer für die Politik der Güterverteilung, weil ja jeder hat was er braucht oder gar will.

Spannend ist daher diese Politik genau in einer Zeit in der sie nicht funktioniert aber es so wirkt als könnte sie funktionieren.

Das Overton-Fenster wird also durch „was (fast) möglich“ und „interessant ist“ limitiert, zusätzlich aber auch durch Moralvorstellungen der Gesellschaft. Diese Moral wird durch Autoritäten kommuniziert. Früher war das der Pfarrer und König, dann war es der Politiker und die Massenmedien, mit dem Internet änderten sich aber die Spielregeln.

Früher hatte der Bauer keine Wahl, er hatte einen Priester und einen König und was die sagten war die öffentliche Meinung. Die meisten Menschen übernehmen die verordnete Meinung als ihre an und jeder der abwich wurde als „der Andere“ unterdrückt. Das bestätigte die Masse, dass sie, indem sie gehorchte, die Guten waren und führte zu mehr Gehorsam, was zu einer stabileren Gesellschaft führte und natürlich zu einem sichereren Sitz für König und Priester.

Und daran hat sich auch Nichts geändert.

Mit dem Internet konnte man aber zuerst plötzlich in andere Overton-Fenster blicken und anderen Autoritäten folgen um später (und das ist die revolutionäre Änderung) selber eine solche Autorität mit Millionen von Folgern werden und damit ein eigenes Overton-Fenster definieren.

Die Emanzipation der Meinung ging also scheinbar mit einem Zerschlagen des Overton-Fensters einher. In den 1980igern war die Meinung die in den Nachrichten berichtet wurde die Massenmeinung und wenn eine Woche das Gegenteil von dem gesagt wurde von dem was eine Woche davor verlautbart wurde, dann änderte sich die Meinung mit. Man musste ja dazugehören. Heute aber kann man gegen die Nachrichtenmeinung sein, weil es nicht mehr so wichtig ist zu seinen Nachbarn „dazuzugehören“. Man gehört ja „seiner Gruppe“ an und die sind die Guten. Die Overton-Fenster sind also noch da, denn innerhalb der Gruppen gibt es noch immer Dinge die man sagen muss und nicht sagen darf. Der Geographische Faktor ist nur kleiner geworden.

Die Zerrissenheit unserer Gesellschaften ist also nichts Neues, wir waren nur Jahrtausende gewohnt, dass diese Grenzen eben etwas mit Geographie zu tun haben müsse, dass „der Schwede“ eben eine „schwedische Meinung vertritt“ weil er halt „ist wie die Schweden halt sind“. Jetzt stellt sich eben heraus, dass es überall alle Meinungen gibt, schwedische Kommunisten und Kapitalisten, Autoritäre und Libertäre, Gläubige und Ungläubige.

Die Alten wollen also, verständlicherweise, zurück zu diesem System wo der Kanzler sprach und alle lauschten und bestenfalls darüber jammerten, dass der eigene Kandidat das Gleiche besser gemacht hätte, eine Zeit in der man sich zwar ständig stritt aber die Unterschiede, im Vergleich zu heute, recht überschaubar waren.

Wohin die Reise geht ist unklar. Historisch braucht profitiert die Stabilität eine Gesellschaft von einem engen Overton-Fenster in dem klar ist was richtig und was falsch ist.

Aber was wenn diese Gesellschaften in der Zukunft nicht mehr örtlich gebunden sind? Was wenn die „Internet Bubbles“ einfach die Funktion des „Volkes“ übernehmen? Was wenn der gesellschaftliche Konsens nicht verloren gegangen ist sondern nur das Konzept des Volkes als Träger der Gesellschaft?

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Tourix

Tourix bewertete diesen Eintrag 09.05.2023 01:23:31

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