Boris Palmer ist ein ungewöhnlicher Politiker, da er mit vielen Eigenschaften aufwartet. Manche widersprechen sich. Er studiert Geschichte und Mathematik für das Lehramt, wird jedoch kein Lehrer, sondern geht für die Grünen in die Politik. Seit 2007 hat er das Amt des Oberbürgermeisters von Tübingen inne. Seine politische Heimat sollten die Grüne sein, mit denen er in vielen Punkten zerstritten ist. Um seine Ideen zu klären, hat er das Buch geschrieben:

Erst die Fakten, dann die Moral! Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss

von Boris Palmer

Siedler Verlag September 2019

ISBN-13: 978-3827501240

20 € 240 Seiten

Der OB berichtet aus seiner tagtäglichen Arbeit, über seine Erfolge und seine Niederlagen. Das, was er schreibt, klingt ehrlich. Weltliteratur kann man nicht erwarten. Auch findet der Leser Widersprüche im Buch und auch mit der Realität.

„Du bist kein schlechter Mensch, wenn du dir Sorgen machst wegen der Migration“ lautet ein Satz aus der dänischen Sozialdemokratie. Dass diese Aussage den deutschen Grünen nicht gefällt, liegt auf der Hand: Sie verweigern sich der Realität. In Dänemark lässt sich die Realität nicht mehr verdrängen. Die schriftliche Moral akzeptiert die Wirklichkeit. Die Kernkompetenz der (dänischen) Sozialdemokratie ist der Wohlfahrtsstaat, nicht die Einwanderung. Der rasche Niedergang der deutschen Sozialdemokratie erklärt sich durch die Leugnung der (deutschen) sozialdemokratischen Kernkompetenz.

Das Credo des OB lautet: Daten müssen genutzt werden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen! Parteien, die zu lange an der Macht sind, haben ein solches Credo verloren.

Der OB ist davon überzeugt, dass eine Mietpreisbindung die Wohnungspreise senkt. Damit setzt er die Gesetze des Kapitalismus (freie Marktwirtschaft) außer Kraft. Das Ergebnis ist Mangel an Wohnungen mit anschließender hoher Obdachlosigkeit. Aus Baugebot wird schnell eine Baupflicht, die nur mit Abschlägen, wie schlechte Qualität, eingehalten wird.

An andrer Stelle hält der grüne OB ein Dieselfahrverbot nicht nur für unverhältnismäßig, sondern auch für unwissenschaftlich. Er wird sich in seiner Partei nicht durchsetzen.

Etwas später erfährt der Leser, dass Wirtschaft = Psychologie und Klima = Physik ist. Ich würde die beiden Attribute andersherum zuordnen. Zudem erfahren wird, dass er (B. Palmer) die Argumente der Windkraftgegner vollständig widerlegt hat. Dort, wo er wohnt, gibt stören keine Windräder.

Der OB glaubt, dass der Atomausstieg mit dem Einstieg der Windkraft zusammenfällt, weil Deutschland die Sicherheitsrisiken der Atomkraft nicht eingehen will, und dass, obwohl er Geschichte und Mathematik studiert hat, wenn auch nur fürs Lehramt. Jetzt verstehe ich besser die Forderungen der Schüler bei FFF. Geschichte und Mathematik sollte nicht von Amateuren, also Lehrern, gelehrt werden! Denn nimmt man das Sicherheitsrisiko ernst und nicht nur nach Bedarf, so sollte man niemals ins Bett gehen: In Deutschland sterben die meisten Menschen im Bett!

Das 5. Kapitel ist das beste! Es behandelt den deutschen Sicherheitswahn, dessen Konsequenzen jedem Bewohner Deutschlands bekannt sind: galoppierende Preise bei Großprojekten, regelmäßige Zugausfälle, der Berliner Flughafen ... Auch der überaus teure, hastige und politisch motivierte Ausstieg aus der Atomkraft ist Hauptschuldiger an ständig steigenden Strompreisen, die sich bald ärmere Schichten bald (spätestens beim Rücktritt der Kanzlerin) nicht mehr leisten können. Nur gut, dass die Winter dank Klimawandel wärmer werden. Noch gibt es keine Statistik über Erfrierungstote in Abhängigkeit vom Geldbeutel. Der deutsche bürokratische Sicherheitswahn definiert ein Risiko nach Jahren, d.h. dass ein Ereignis innerhalb einer vorgesetzten Zeit erfolgt. Nach dieser Zeit steigt das bürokratische Risiko automatisch, obwohl es realiter unverändert bleibt!

Interessant ist auch das nachfolgende Kapitel über gefühlte Statistik.

Hier erfährt der interessierte Leser, dass es eine schwierige Entscheidung ist, ein Tierleben für das Wohlergehen von Menschen zu opfern. Da irrt sich unser OB gewaltig. Das Töten von Tieren oder Menschen durch Menschen oder Tieren ist genetisch verankert. Die theoretische Entscheidung mag schwierig erscheinen, die Tat selbst ist jedoch einfach. Wer das nicht glauben will, sollte keinen Zoo oder Tierhandlung besuchen und sich auch keinen Hund und keine Katze zulegen. Auch rate ich von Kriminalromanen und seriösen Geschichtsbücher ab. FFF hingegen ist o.K.! Seit Urzeiten tötet der Sieger den Besiegten, häutet ihn und isst ihn auf.

Etwas später trifft man auf den Satz: Geld kann man nur einmal ausgeben. Schon Marx weiß, dass es Unsinn ist: nachzulesen in der „Zirkulation des Kapitals“! Niemand vernichtet das Geld nach einer Transaktion.

Interessant ist das Kapitel über das Prestigeobjekt Stuttgart 21. Stuttgart 21 erfüllt die Aufgabe der Pyramiden Ägyptens, mehr nicht. Fraglich, ob Stuttgart in zwei Jahrtausenden Touristen aus Ägypten anlocken wird. Wegen eines vom Palmer bemängelten Werbeplakates der DB mit drei dunkelhäutigen Bahnfahrern muss sich Palmer anhören, dass er zu Rassismus neigt. Palmer wirft der Bahn lediglich vor, mit den schwarzen Akteuren die bekannten Unzulänglichkeiten der Bahn zu kaschieren (Identitätspolitik, Tugendterror). Viele echte Rassisten nutzen das Werbeplakat, um die Bahn zu verunglimpfen: Nur noch Schwarze fahren mit der Bahn!

Gegen Ende des Buches befasst sich der OB ironisch mit der „Klimareligion“. Die CO2-Erhöhung in der Atmosphäre sei nicht Ursache, sondern Folge des Klimawandels. Die Erderwärmung sei von der Sonne verursacht. Dabei trifft er den Nagel ziemlich gut auf den Kopf. Doch seine Ironie produziert keine brauchbaren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Leider vergisst er die Hauptfrage der Klimaleugner zu beantworten:

Was geschieht, wenn die Menschheit es mit viel Arbeit (europäische Mittelschicht) und Geld (europäische Mittelschicht) und Entbehrungen (3. Welt) in der Tat schafft, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zu senken? Kehrt sich die Klimaerwärmung um? In welchem Zeitraum: 10 Jahre, 100 Jahre, 1000 Jahre, 10.000 Jahre? Welche Antwort erteilt uns der grüne Aberglaube?