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Mein Sofa ist im Wohnzimmer zentral positioniert. So habe ich rundum alles im Blick, die Tür zum Vorzimmer wie auch die Fenster links und rechts im Raum. Das vermittelt mir ein wenig das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle, sollte mir ein unerwartetes Geräusch zu Ohren kommen kann ich es schnell orten. Aber oft schaue ich auch einfach nur so aus dem Fenster. Ich sehe in die verrückte Welt da draußen, lasse meine Gedanken ein wenig fliegen. Im Blickfeld, die gegenüberliegenden einstöckigen Reihenhäuser, ein Baum und eine Straßenlaterne. Abgesehen von der Jahreszeit, die an dem Baum ablesbar ist, hat sich in all den Jahren hier nicht allzu viel verändert. Die Straßenlaterne spendet schon immer ausreichend Licht in der Dunkelheit. An Sonn.- und Feiertagen stellt sie ihren schlanken Unterkörper als Träger von Plastiktaschen für Zeitungen zur Verfügung. Hin und wieder klebt ein Zettel an ihr, worauf Menschen ihre verzweifelten Suchaufrufe zu abhanden gegangenen Haustieren geschrieben haben. Die Laterne trotzt unaufhörlich jeder Witterung und sei es noch so stürmisch oder eisig. Die Straßenlaterne hat sie allesamt standhaft überwunden.

Eines Tages, bei einer meiner nachdenklichen Blicke aus dem Fenster, landete auf dieser Laterne eine Krähe. Zielsicher kam sie angeflogen, positionierte sich kurz da Oben und blickte interessiert um sich. Ich beobachtete sie neugierig von meinem Sitzplatz auf der Couch. Der schwarzgraue Vogel starrte ebenso wie ich in der Gegend herum. Seltsam, dachte ich, der sieht zu mir hinüber, oder täusche ich mich? Sein kleines Auge ist eindeutig auf mein Fenster gerichtet. Bewegungslos guckt er geduldig zu mir in die Wohnung. Was er wohl entdeckt hat? Die Katzen sind nicht in der Nähe, also beobachtet die Krähe scheinbar mich. Ich winke ihr spontan, sie neigt ein klein wenig ihren Kopf, als würde sie auf mein Gestikulieren reagieren. Das gegenseitige Begutachten endet abrupt, die Krähe breitet ihre Flügel aus und hebt ab.

Dieses beidseitige Ausspähen passierte von nun an täglich. Immer zur selben Uhrzeit. Ja, ich wartete regelrecht schon auf den gefiederten Freund auf der Laterne. Anfangs bezeichnete ich ihn als Spion, der regelmäßig meine Gepflogenheiten beobachtete. Doch da gab es nicht viel zu sehen und schon gar keinen dunklen Geheimnisse, die er jemanden erzählen könnte. Natürlich fragte ich mich, was die Krähe für einen triftigen Grund hat, Tag für Tag auf ihren Beobachtungsposten zu landen und durch das Fenster zu gucken. Neugierde?

Im Laufe der Zeit empfand ich die tägliche Wiederkehr als vertrautes Ritual. So als käme netter Besuch auf einen Plausch zu mir. Schon bald erhielt die Krähe von mir einen Namen. Den Namen, den auch mein verstorbener Freund trug. Ein besonders wertvoller Mensch, der mir nach wie vor sehr fehlt. In unzähligen Lebenslagen, der vergangenen Jahre, hätte ich mir so sehr gewünscht, dass er noch da wäre. Jene innige Vertrautheit, die ich als Seelenverwandtschaft bezeichne, habe ich seither nie wieder erlebt. Selbst bei völlig unterschiedlichen Ansichten oder Meinungen, war da diese absolute Einigkeit. Eine Art autarke Abhängigkeit von und zueinander. Wir passten gegenseitig aufeinander auf. Hitzige, intensive Diskussionen, aber auch besonders wertvolle lehrreiche Gespräche, die uns Beide weiter brachten, standen bei jedem Aufeinandertreffen an erster Stelle. Aber auch stille Momente, wo wir gemeinsam nur den Klang von Musik lauschten und Kaffee genossen.

Die Krähe ist er. Er passt auf mich auf. Täglich sieht er nach mir. Ein Schutzengel, in ein schwarzgraues Federkleid gehüllt. Du wolltest ja zu Lebzeiten schon immer fliegen.

Corvus corone – Dein Landeplatz auf der Straßenlaterne ist jederzeit frei für Dich.

Schön, dass Du mich nicht vergessen hast. Schön, dass Du weiter für mich da bist. Ich vermisse Dich.

Das Leben ist endlich, doch ich denke es endet nicht mit dem Tod. Die Natur ist ein genial durchdachter Kreislauf. Warum soll dann nicht nach dem menschlichen Leben, ein anders Leben auf mich warten. In welcher Art und Weise auch immer. Mein Freund hat nun sein Dasein als fliegender Seelentröster für mich gefunden.

Leben und Tod, mehr als chemische Prozesse, mehr als nur unzählige Hormonausschüttungen im Gehirn.

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liberty

liberty bewertete diesen Eintrag 06.01.2016 17:07:13

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