Wie die Seenot im Nordatlantik zu einem Glücksfall wurde. Gewidmet meinem Freund Šime, 1944–2017

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.Bonaca (ital., gespr.: bonatza) ist die spiegelglatte Adria in Dalmatien, nur gelegentlich von einem Windhauch gestreichelt.

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Das Auto seiner Träume

Als junger Mann isst Šime "das Brot mit den sieben Krusten". So sagt man in Dalmatien, wenn jemand als Seefahrer sein Geld verdient. Er ist zwar aus Ložišća, aber tagsüber und abends findet man ihn seit 1972 zuverlässig in der Marina Bar im Hafen von Sutivan. In Ložišća schläft Šime nur seinen in Sutivan angelegten Rausch aus. Und dorthin gelangt er mit seinem auf ganz Brač bekannten Auto, einem Hillman Hunter GLS Baujahr 1972 mit Rechtssteuerung. Dem einzigen in ganz Kroatien.

Zu einer Zeit, als Jugoslawien eine sozialistische Volksrepublik ist, stolz die blockfreien Nationen anführt und von England nicht viel hält, außer die Hand auf, wenn der schlaue Tito einen Kredit braucht, damit er nicht allzu freundlich zu Leonid Breschnew sein muss, kauft Šime dieses Auto und lässt es aus England privat importieren.

Fragt man mich und Šime, so ist Titos Politik geschickt, heiter und zynisch und obendrein ein Glücksfall, weil man in seiner Volksrepublik Probleme mit Geld aus der Welt schaffen kann. Und 1972, als der Hillman Hunter GLS, der später seiner ist, frisch vom Band läuft, hat Šime die Hosentaschen randvoll mit Geld, um alles zu schmieren, damit das Auto des Klassenfeindes problemlos bis nach Brač gleitet.

Das gefolterte Schiff

Nur ein Jahr zuvor sind seine Hosentaschen noch leer, Šime liegt noch nachts in seiner Koje und stemmt Beine und Arme gegen die Wände der Kajüte. Anders lässt sich eine auch nur mäßig stürmische Nacht im Nordatlantik nicht verbringen, ohne morgens Prellungen, Beulen und sogar Knochenbrüche zu haben. Und dieser Sturm ist gar nicht mäßig. Der Nordatlantik, so sagt mir Šime, ist ein fast immer garstiges und wütendes Meer und nicht wie unsere sanfte Adria, die nur manchmal ihre Zähne zeigt.

Der Name seines Schiffes ist mir längst entfallen, ein spanischer Frauenname oder der Name eines Sterns im Orion vielleicht. Sicher ist nur, dass in dieser Nacht im Nordatlantik ein Generator tief im Schiffsbauch Feuer fängt und es lange niemand bemerkt, weil die gesamte Besatzung seit zwei Tagen nur damit beschäftigt ist, sich gegen Stahlwände zu stemmen. Šime erzählt, dass so ein Sturm im Inneren eines Schiffes zu einer unerträglich lauten Symphonie wird. Sie besteht aus allen Geräuschen, die der Nordatlantik zu bieten hat, wenn er ein Schiff gnadenlos foltert. So schläft niemand, spricht niemand, und es hört niemand den Brandalarm, bis der Brandgeruch eine Panik auslöst.

Der schlaue Bračanin

Šime sagt, es sei ihm einfach so eingeschossen, dass Panik ihn nicht retten wird. Sondern ein anderes Schiff. Dann fügt er hinzu, dass Hubschrauber damals keine Option sind, weil die nächste Küste zu fern ist. Und Šime sagt noch: "Ganz sicher war ich aber, dass ich zurück nach Brač wollte. Und nie mehr weg!"

Also läuft er zur Kabine des Zweiten Offiziers, der für die Navigation zuständig ist. Der Navigator ist wie Šime aus Dalmatien und versucht gerade panisch, gleichzeitig seine Tasche zu packen und eine Schwimmweste anzulegen. Šime zerrt den Navigator auf die Brücke. "Der war größer als ich ... aber ich hatte den großen Schraubenschlüssel!" Vor dem Funkgerät brüllt er dem Navigator ins Gesicht: "Position feststellen! SOS absetzen! Position durchgeben! Sofort! Oder, beim heiligen Rochus von Sutivan, ich breche dir alle Knochen!" Als er mir in der Marina Bar die Geschichte erzählt, lachen wir, weil Šime meint, er habe aus dem Navigator einen Autopiloten gemacht – nur durch Anbrüllen!

Anschließend übernehmen Šime und der Navigator, der seine Panik herunterschluckt, das erste Gefecht mit dem Brand. Alle Besatzungsmitglieder kommen dazu, am Ende auch der feige Kapitän, und alle lassen sich von den beiden kommandieren. Doch bald ist klar, dass der Brand sich nur eindämmen lässt, bis das Schiff, das den Notruf empfangen hat, hier sein kann. Nach zehn Stunden ist es so weit. Nicht nur ist ein Schiff da, sondern auch der Nordatlantik zeigt ein kurzes Lächeln, das die Rettung problemlos gestaltet. Doch Šime geht nicht von Bord.

Glücksfall Seenot

Als er über Funk hört, dass die Reederei befiehlt, alle Löschmaßnahmen einzustellen und das Schiff dem Atlantik zu überlassen, wird Šime, wie er selbst sagt, "ganz ohne Spinat zu Popeye The Sailor". Denn er weiß, dass nun dieses Schiff und seine gesamte Ladung – so will es das internationale Seerecht – demjenigen gehören, der es doch noch rettet. Das Schiff hat zwar auch vor der Havarie nur Schrottwert, aber die Ladung ist ein halbwegs wertvolles Erz.

Nun ist Šime kein wagemutiger Held, sondern nur schlau. Als man ihn zum Brandherd schickt, um nachzusehen, wie schlimm das Feuer ist, und er feststellt, dass der Brand zwar viel Rauch erzeugt, aber nur wenig Feuer übrig ist, weiß Šime, dass er seinen Mund halten muss. Offenbar wirken die Eindämmungsmaßnahmen doch noch ganz gut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Feuer von ganz alleine ausgeht. Doch Šime schüttelt nur stumm den Kopf, als ihn der Kapitän fragt, was er der Reederei berichten soll. Und alle, einschließlich der Reederei, glauben seinem schlauen Kopf, der die Geste der Hoffnungslosigkeit vorspielt.

Anschließend gelingt es Šime, die Underdogs aus dem Schiffsbauch zu überzeugen, heute sei ihr Tag endlich gekommen. Šime sagt ganz oft: "Payday, big time!" Zwei Afrikaner, ein Malaysier und ein Italiener, allesamt Leichtmatrosen, verstehen wenig von Seerecht, aber viel von Dollarzeichen, und als der dalmatinische Navigator dazukommt, der ihnen nach Šimes Payday-Mantra mit der Autorität seiner zwei Streifen ganz oft sagt "Yes! Yes! Big Dollar!", schließen sie sich an.

So viele Jahre später, in der Marina Bar in Sutivan, sagt mir Šime: "Bin ich ein Brandexperte?! Was haben die mich überhaupt gefragt?! Wieso hat dieser eierlose Kapitän nicht selbst nachgesehen ob's da unten noch schlimm brennt?! Ausbeuter, allesamt! Hol sie der Teufel, hab' ich mir gedacht! Heute ist mein Zahltag!"

Krabben im Orion

Trotz seiner Zuversicht ist alles ein gewagtes Spiel. Tatsächlich kämpfen die Matrosen, angeführt von Šime, noch einige Stunden mit dem Brand. Erst als es ihnen mit einem Schlauch gelingt, einen Teil des Maschinenraums zu fluten, erlischt das Feuer, und der Rauch verzieht sich zum Horizont.

Šime schwört, dass im selben Augenblick sogar der Himmel plötzlich blau wird und kein Windhauch mehr zu spüren ist: "Bonaca! Manchmal lacht sogar der Nordatlantik!" Alles danach ist nur Papierkrieg, und bald füllt Geld Šimes leere Hosentaschen. Er fährt nie wieder zur See. Stattdessen fährt er mit seinem Hillman Hunter GLS auf Brač herum, meistens aber nur von Ložišća in die Marina Bar nach Sutivan. Und abends wieder zurück. Šime sagt: "Ich sitze ganze Tage hier, trinke Pelinkovac und tratsche und kann mich gar nicht sattsehen an jeder Bonaca."

Zehn Jahre später sind Šimes Hosentaschen wieder leer und der Hillman Hunter ein Schrotthaufen. Es ist nicht der Alkohol, der seine Taschen leert, und auch das Auto verrottet von ganz alleine, weil es aus England ist. Šime selbst mag es nicht zugeben, dass sein Kopf zwar schlau ist, aber seine Seele weich, und dass er ausgenommen worden ist. Viele borgen sich Geld von Šime, selten gibt es einer zurück. Šime hat eh genug!, so sagen sie.

Der Traum vom Malen

Šime aber wird nicht bitter und hasserfüllt, sondern erfindet sich neu. Schon während er noch die Bergungsprämie mit vollen Händen ausgibt, widmet er einen Teil davon dem Kauf von Ölfarben, Leinwand und Staffelei und erfüllt sich den Traum vom Malen. Weil er noch Geld genug hat, malt er nur, wie es ihm gefällt. Und nur im Vollrausch, wenn er abends aus der Marina Bar nach Hause kommt.

So entstehen fantastische Krabben vor brennenden Himmeln im Sternbild des Orion, riesige Meeresungeheuer, die über die Hügel von Brač kriechen und Schafe und Maultiere fressen, und noch viele andere Phantome aus den Albträumen eines Alkoholikers. Doch niemals malt er das Meer oder verkauft ein einziges seiner Bilder. Nicht weil er nicht könnte, sondern weil er nicht will. "Das ist nur meins!", sagt Šime.

Als sein Geld dann Anfang der 80er-Jahre ausgeht, beginnen auf ganz Brač Coffee-Bars zu sprießen, und Šime wird ein begehrter Schildermaler. Bald wollen auch die Discobesitzer, dass ihre Disco innen von Šimes Krabben, Meeresungeheuern und brennenden Himmeln überzogen ist. So kann er bis zum Anfang der 90er fast jeden Tag vor der Marina Bar in Sutivan sitzen, Pelinkovac trinken und die Bonaca anstarren. Nur für die Hin- und Rückfahrt ist Šime jetzt auf die Güte jener angewiesen, die ein Auto haben und nicht geizen, den alten Seemann auch dann zu fahren, wenn sie gar nicht nach Ložišća oder Sutivan müssen.

Der letzte Pelinkovac

Nach dem Krieg ist Šime fast mittellos. Er lebt von einer kroatischen Armutsrente, dem wechselnden Wohlwollen seiner Familie und der wenigen Stivanjani und Ložišćani, deren Dankbarkeit für geliehenes Geld nie erloschen ist.

Viele, die in die Marina Bar kommen oder sie gerade verlassen, zahlen Šime einen Pelinkovac. Viele setzen sich dazu und tratschen mit ihm, was es gerade zu tratschen gibt. Doch immer öfter starrt Šime auf die Bonaca, als ob er hinter dem Horizont den Rauch eines brennenden Schiffes sehen kann. Seine meerblauen Augen werden trüb, er wird immer magerer, die Hose bindet er bald mit einem Strick, und wenn er im Korbsessel vor der Bar sitzt, könnte man glauben, jemand habe dort einen Haufen alter Kleider abgelegt.

Dann, vor wenigen Wochen, stirbt Šime an Prostatakrebs. Ewige Bonaca dir, mein Freund ...

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Markus Andel

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