Sitzungsprotokoll.

Es war ein paar Tage vor Heilig Abend. Es war draußen. Der Wald verschneit. Der Vollmond strahlend. Die Sterne schillernd. Klirrende Kälte hatte alles fest im Griff. Es war wie im Weihnachtsbilderbuch. Das Glänzende. Die Stimmung. Die Farben. Die Ruhe. Spuren im Schnee. Von Rehen, Hasen und Füchsen. Und den Vögeln. Jedes Tier hatte am tiefgefrorenen Boden schon nach Essbarem gesucht. Mit mehr oder weniger Erfolg. Gegraben. Gepickt. Geschnüffelt. Etwas Gras da. Ein paar Nüsse dort. Recht viel gibt dieser Winter aber nicht her. Wir haben kein gutes Jahr. Das kann bis zum Frühjahr noch knapp werden.

Aber nicht nur die Tierwelt war heute im Wald versammelt. Auch die Gier, die Vernunft und die Liebe hatten sich hier verabredet. Unter der großen Tanne. Nahe dem Bächlein. Mitten im dunklen Wald. Wie immer um diese Zeit. Knapp vor Weihnachten. Ein Jour fixe quasi. Ein Treffen der Gegensätze. Ein brisantes Zusammenkommen. Ein Aufeinandertreffen von Gesinnungen. Dieses Jahr hatte die Liebe den Vorsitz dieser Dreier-Konferenz. „Herzlich Willkommen. Schön, dass ihr da seid.“ Die Liebe eröffnete den Reigen und verlas gleich einmal die Tagesordnung. Mehrere Punkte standen auf der Agenda. Unter anderem ein etwas heikler. Die drei wollten diskutieren, wie zwischen allen für die bevorstehenden Feiertage ein sinnvolles Gleichgewicht hergestellt werden könnte. Sie wollten diskutieren, welchen Stellenwert jeder einzelne bei den Menschen in dieser Zeit haben soll und darf.Da war einmal die Gier. Ein Begehren, welches sich im Laufe der letzten Weihnachten immer breiter gemacht hatte. Durch das üppige Angebot an allem von allem ist sie gewachsen. Regelrecht explodiert. Manche Menschen haben durch ihren Wohlstand die Gier noch weiter genährt. Sie haben ihr Zuflucht gegeben. Sie von innen nach außen getragen. Adoptiert. Einige scheuen nicht einmal davor zurück, sie öffentlich zu präsentieren. Die Folge? Gier frisst Hirn. Und somit die Vernunft. Das wissen alle Beteiligten. Hier im Wald. Die Sitzung ist also nicht ohne Brisanz und Spannung. Die Liebe hatte ihre Mühe, die zwei Streithähne auseinanderzuhalten. Ein ständiges Hin und Her. Die teils unkontrollierte Gier versus die stark beobachtende und denkende Vernunft.  Keine leichte Aufgabe für die Liebe. Wie viel Gier und wie viel Vernunft sollte sie den Menschen geben, ohne selber dabei zu kurz zu kommen?

Alle drei begannen zu feilschen. Die Gier wollte natürlich alles. Die Vernunft suchte die goldene Mitte. Und die Liebe war bereit, auf alles zu verzichten. Was natürlich dem Gleichgewicht nicht wirklich gedient hätte. Man feilschte weiter. Die Vernunft versuchte, die Gier davon zu überzeugen, nicht so zu sein. Die Gier verstand es nicht und war kaum bereit, Abstriche zu gewähren. Die Vernunft war hartnäckig. Sie verwendete ihre Fähigkeit, zu denken und stellte Regeln und Prinzipien auf. Sie bat die Gier, danach zu handeln. Stellte dabei jede Menge moralischer Fragen. Wer, wenn nicht sie sollte das machen. Die Liebe hingegen versuchte, die Herzen der beiden zu erreichen.

In der Zwischenzeit verdunkelte sich der Himmel. Dicke Schneewolken zogen über das Land. Das mächtige Tief war im Anmarsch. Jenes, das weiße Weihnachten bringen sollte. Überall. Während die Gier, die Vernunft und die Liebe noch diskutierten, fing es an zu schneiden. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten in Windeseile die verbliebenen grünen und braunen Flecken im Wald. Der Schnee blieb dank der niedrigen Temperaturen sofort liegen. Die Spuren im Schnee waren im Nu verschwunden. Winterwonderland. Eine angenehme Stimmung machte sich breit.

„Schaffen wir noch eine Lösung bevor es uns einschneit?“ Die Vernunft hatte es jetzt eilig und übernahm das Kommando. „Gebt mir, was mir zusteht und wir sind fertig“, konterte die Gier. „Was willst du?“, fragte die Vernunft. „Mehr als ihr“, die gierige Antwort. Die Liebe hielt sich heraus. Die Vernunft überlegte und grübelte in ihrer typischen Manier weiter. Sie war nahe am Verzweifeln. Es ging eine Weile so weiter. Die Menschen waren in der Zwischenzeit in Ermangelung der drei Diskutanten lieblos und irrational, dafür aber selbstbeherrscht. Und das kurz vor Weihnachten. Es wäre Bestandteil einer eigenen Geschichte, die Auswirkungen dieses Zustandes zu schildern. Aber dafür fehlt uns die Zeit. Eine dicke Schneedecke hatte mittlerweile den Wald unter einen weißen Mantel gehüllt. Es war jetzt stiller als sonst. Kaum ein Rauschen war zu hören. Nur ab und zu ein Knarren. Die alten Bäume und Äste. Sie waren der Kälte ausgeliefert. Gier, Vernunft und die Liebe waren immer noch dort. Ihre Tagesordnungspunkte hatten sie fast abgearbeitet. Nur der eine Punkt war noch offen. Eine Einigung war aber leider nicht in Sicht. Zu groß die Divergenzen. Zu fest die Knoten. Bis plötzlich alles anders wurde. Es passierte. Als ob eine höhere Gewalt in das Drehbuch eingegriffen hätte. Ein Oberregisseur. Der winterliche Zauber des Waldes erreichte jetzt auch die drei. Angesteckt von der festlichen Idylle und der magischen Stimmung erlebten sie ganz allein im Wald, umgeben von Ruhe und Glitzer, einen intensiven und starken Moment. Ein emotionales Erdbeben. Ein Wachrütteln. Wie aus dem Nichts. Alle drei gleichzeitig. Alle drei spürten plötzlich die feierliche Liebe. Alle drei begriffen umgehend die weihnachtliche Vernunft. Und keiner der drei vermisste im Moment die unangebrachte Gier. „Das ist es“, schrie die Liebe. „Endlich“, antwortete die Vernunft. „Mir wurscht“, murmelte die Gier.

In diesem Moment war allen klar, was wirklich passiert war. Sie erlebten, was der gemeinsame Nenner ist und was das Gleichgewicht zwischen allen halten kann. Es war das Gefühl. Das Gefühl, mehr an andere Menschen zu denken, als an sich selbst. Das Gefühl, verzichten zu wollen. Das Gefühl der Wärme im Herzen. Das Gefühl von Weihnachten. Ende der Sitzung.

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