Es war einmal ein Land, in dem waren die Menschen unglaublich stolz auf ihre Häuser. Sie hielten sich für große Architekten und Baumeister.

Eines Tages ging ein Tornado durchs Land und zerstörte einen großen Teil der Bauwerke. Die Regierung erließ sofort eine Order, dass die Gebäude wieder aufgebaut werden sollten. Und weil man wusste, wie wichtig der Mythos vom großen Baumeister war, wurde den Menschen streng verboten, über die Katastrophe und ihre Folgen zu sprechen. Bei Verstoß wurden empfindliche Strafen verhängt.

Die Bürger machten sich also gleich ans Werk. Es gab einige, die über das Thema offen sprachen. Viele von ihnen wurden verhaftet. Es gab welche, die nur im Bekanntenkreis hinter vorgehaltener Hand darüber redeten, und die Masse, die sich nicht nur dem Gesetz fügte, sondern selbst darauf achtete, dass niemand dagegen verstieß. Niemand sollte freier sein, als sie, die sich mit ihrer unfreien Existenz abgefunden hatten. Mitunter schwärzten sie die, die hinter vorgehaltener Hand flüsterten, bei der Obrigkeit an. Misstrauen war allgegenwärtig.

Nach zwei Monaten hatte man die Häuser wieder aufgebaut, das heißt, in ihren Ursprungszustand versetzt. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter und pries die Baukunst im Lande. Hier wusste man für die Ewigkeit zu bauen. Viele von denen, die das Schweigegesetz erst nicht eingesehen hatten, waren nun doch ganz froh darüber. Blieb nicht alles beim Alten, genau wie vor dem Tornado?

Aber im nächsten Herbst ging wieder ein Tornado durchs Land und zerstörte viele Häuser. Die Regierung wies auf die erlassenen Gesetze hin und die Menschen machten sich schweigend ans Werk. Es gab nur wenige, die noch den Mund aufmachten. In zwei Monaten war wieder alles aufgebaut. Man lobte die Weisheit der Regierung und die eigene Baukunst.

Im dritten und in den folgenden Jahren wiederholte sich alles. Die Menschen überboten sich jetzt in der Einhaltung und Kontrolle des Schweigegebots. Man konnte schon angeschwärzt werden, wenn man das Wort „Wind“ aussprach.

In einem der Häuser wohnte Familie Klartext. Der Vater schimpfte hinter verschlossener Tür und mit wenigen vertrauten Freunden oft über das Schweigegebot und darüber, dass man nicht die Konsequenzen aus den jährlichen Zerstörungen zog, sich eingestand, dass es mit der Baukunst wohl doch nicht so weit her war und nach stabileren Haustypen forschte. „Ich lasse mir in meinem Haus meine Meinung nicht verbieten“, pflegte er zu sagen. Aber natürlich sprach er das aus Rücksicht auf seine Familie nicht öffentlich aus.

Eines Tages aber nahm ihn seine Frau zur Seite und sagte: „Schau, Mann, du und ich wissen, dass du Recht hast. Aber unsere Tochter ist nun zwei Jahre alt und versteht schon so einiges. Im nächsten Jahr kommt sie in den Kindergarten. Du weißt, was geschieht, wenn sie dort etwas von dem erzählt, was sie hier gehört hat. Sie wird ausgeschlossen und es gibt eine Untersuchung. Vielleicht nehmen sie uns das Kind weg. Es ist für uns alle besser, wenn du schweigst.“

Das überzeugte den Vater. An diesem Abend brachte er das Kind zu Bett und erzähle ihm von der unvergleichlichen Baukunst des Volkes. Bei Tisch lobte er oft das Qualitätsbewusstsein und die handwerklichen Fähigkeiten seiner Mitbürger. Den Kontakt zu seinen systemkritischen Freunden baute er immer weiter ab. Er wollte sich nicht als ein Verräter vorkommen.

Und so kam es, dass in dem Land jedes Jahr ein Tornado durchs Land fegte und die Menschen Jahr für Jahr zwei Monate lang die Häuser wieder in den Ursprungszustand versetzen. Keiner sprach mehr darüber. Dafür gab es jedes Jahr, wenn die Häuser wieder aufgebaut waren, einen „Tag des seligen Schweigens“, an dem die Bürger ihre Baukunst und ihre Schweigsamkeit ausgelassen feierten….

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Beate K.

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