No-Deal-Brexit als Tory-Strategie, um das tory-kritische Schottland loszuwerden ?

Die angebliche Angst davor, dass ein Brexit, insbesondere ein No-Deal-Brexit das Vereinigte Königreich auseinanderreissen könnte, wurde von vielen Kontinentaleuropäern, auch Österreichern als ein Grund angeführt, warum die Briten eigentlich gegen einen Brexit, insbesondere einen No-Deal-Brexit sein müssten.

Aber aus Tory-Sicht könnte durchaus das genaue Gegenteil stimmen:

in Schottland sind die Tories, also die britischen Konservativen als Großpartei politisch mehr oder weniger tot und erzielen dort zeitweise Zustimmungsraten von ca. 10% wie bei den Schottland-Wahlen von 2011 (bei der Schottland-Wahl von 2016 erzielten die Konservativen mit ca. 20% zwar ein wesentlich besseres Ergebnis, aber immer noch eines, das weit entfernt ist von den 40-50%, die sie in England erzielen). Die beiden dominanten Parteien in Schottland sind Labour und Scottish National Party.

Mit anderen Worten: bleibt das Vereinigte Königreich zusammen, so haben die Konservativen in Zukunft ziemlich schlechte Chancen auf Mehrheiten.

Ganz anders im Falle einer Abspaltung Schottlands: dann wäre eine Tory-Mehrheit bei der nächsten Wahl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine fixe Sache.

Der Riesenfehler der EU und der Kontinentaleuropäer beim Brexit war also, zu glauben, es ginge beim Brexit um den Brexit, während es in Wirklichkeit wahrscheinlich immer um etwas ganz anderes ging, den Katalysatoreffekt, den der Brexit für die Abspaltung Schottlands und damit für das Zum-Tragen-Kommen der konservativen Mehrheit im Rest des Landes haben könnte.

So gesehen ähnelt Boris Johnson - bei aller Unterschiedlichkeit der Personen und Situationen - Slobodan Milosevic, der an die serbische Dominanz und die Dominanz seiner Partei im Rest Jugoslawiens glaubte, wenn erst einmal "diese widerspenstigen Slowenen" aus dem jugoslawischen Staatsverband rausgeekelt würden. Aber wie das mit dem Rausekeln halt so ist: wenn man damit erst einmal anfängt, dann kann es sich leicht zur allgemeinen Technik werden, die dann jeder gegen jeden im Sinne von Thomas Hobbes "homo homini lupus" ("Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" ) anwendet.

OGL 3 / UK Government https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Johnson#/media/Datei:Boris_johnson_%28cropped%29.jpg

Boris "Ich kann ohne Schottland regieren, aber nicht mit ihm" Johnson

und

CC / Kragujevic https://de.wikipedia.org/wiki/Slobodan_Milo%C5%A1evi%C4%87#/media/Datei:Stevan_Kragujevic,_Slobodan_Milosevic,_portret.jpg

Slobodan "Ich kann ohne Slowenien regieren, aber nicht mit ihm" Milosevic, der übrigens in Den Haag in Zusammenhang mit einem Kriegsverbrecherprozess gegen ihn verstarb. Im jugoslawischen Föderationsrat des Jahres 1990 gab es ständig ein 4:4-Patt zwischen dem serbischen Block (Serbien, Montenegro, Kosovo und Vojvodina) und den anderen vier Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien). Milosevic´s Lösungsmethode für dieses Problem der Entscheidungsunfähigkeit war, die Slowenen ziehen zu lassen, wodruch sich eine serbische 4:3-Übermacht ergeben hätte. Allerdings kam alles anders als geplant, die Dinge eskalierten, serbische Militäreinheiten kontrollierten zwar kurzfristig weite Teile Kroatiens und Bosnien, verloren diese oder große Teile derselben aber auch wieder und langfristig aus das Kosovo.

CC / Wright-Gemälde von 1669 https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hobbes#/media/Datei:Thomas_Hobbes_(portrait).jpg

Thomas Hobbes, ein Vertreter des Absolutismus, der glaubte, dass nur eine absolutistische Monarchie, aber niemals die Demokratie den Krieg Aller gegen Alle verhindern könne.

Auch im Jugoslawien der 1980er Jahre entwickelten sich Demokratisierung und Bürgerkrieg koevolutiv, Hand in Hand.

In Zusammenhang damit stellt sich auch die Frage, ob die einfachen Bürgerinnen und Bürger in der Lage sind, politische Entwicklungen richtig zu analysieren, oder ob Politik nicht doch eine Elitensache ist, insbesondere Aussenpolitik.

Bereits der Politikwissenschafter J.J. Mearsheimer (Universität Chicago) hat in seinem Buch "Why leaders lie" (deutscher Titel: "Lüge - vom Wert der Unwahrheit" ) darauf hingewiesen, dass es in der Aussenpolitik sehr leicht ist, das einfache Volk zu belügen.

CC https://de.wikipedia.org/wiki/John_J._Mearsheimer#/media/Datei:John_Mearsheimer.jpg

John Mearsheimer

Der frühere britische Premier Chamberlain sprach einmal von der Tschechoslowakei als ein "far-away-country, of which we know nothing" (ein weit entferntes Land, von dem wir nichts wissen). Da Tschechien und Österreich benachbarte Länder sind, ist Großbritannien umgekehrt aus unserer Sicht genauso ein "far-away-country", ein weit entferntes Land, von dem wir nichts wissen.

CC / Stoneman https://de.wikipedia.org/wiki/Neville_Chamberlain#/media/Datei:Neville_chamberlain1921.jpg

Arthur Neville Chamberlain, britischer Premier der 1930er Jahre, beschrieb das Verhältnis zwischen Großbritannien und Kontinental- bzw. Mitteleuropa als eines des völligen Unwissens, ein Verhältnis, an dem sich seither nichts geändert hat, was auch die krasse Fehleinschätzung der Hintergründe des Brexit durch mitteleuropäische Politiker und Medien erklärt.

CC / RaviC https://de.wikipedia.org/wiki/Britische_Unterhauswahl_2017#/media/Datei:2017UKElectionMap.svg

Jeweils stimmenstärkste Partei im Wahlkreis bei den britischen Unterhauswahlen (Parlamentswahlen) 2017: Tories/Konservative in Blau, Labour in Rot, Scottish National Party in Gelb, Walisische Parteien in Grün

Zum eingeblendeten Euronews-Video über den Backstop, also die Regelung für die britisch-irische Grenze:

ich habe schon seit langem, schon lange vor dem Brexit-Verhandlungs-"Ergebnis" für die britisch-irische Grenze eine ganz andere Lösung vorgeschlagen als den Backstop, und zwar eine Neuziehung der brtisch-irischen Grenze nach dem Reziprozitätsprinzip, u.U. nach einer Abstimmung; also, nach dem Grundsatz, dass die Grenze so neugezogen werden muss, dass genauso viele Bekenner als Katholiken oder Iren in Großbritannien leben müssen wie Protestanten oder Briten in Irland leben müssen.

Bei der damailgen Grenzziehung spielte nämlich auch die Machtfrage eine wesentliche Rolle: Großbritannien war viel mächtiger als Irland, daher wurden die Grenzen so gezogen, wie Großbritannien es wollte, weitgehend unabhängig vom Willen der betroffenen Bevölkerung oder Willen der betroffenen Mehrheitsbevölkerung.

Aber es stellt sich natürlich die Frage, ob eine Neuziehung der Grenzen zugunsten von Irland und zuungunsten von Großbritannien nicht auf noch größere Ablehnung in Großbritannien stossen würde als der Backstop.

Jedenfalls erstaunlich ist, wie defensiv, argumentlos und initiativlos die EU-Seite auf verbale Vorstösse von z.B. Dominic Raab reagiert.

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