Über ungleiches Wahlrecht und demokratiewidrige Wahlsysteme

Der Chefredakteur der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit", Giovanni Di Lorenzo, erregte bei der letzten EU-Wahl 2014 Aufsehen, indem er doppelt wählte (bzw. dies zumindest behauptet hatte). Als deutsch-italienischer Doppelstaatsbürger hatte er sowohl in Italien als auch in Deutschland Wahlrecht für die EU-Wahl und damit das doppelte Wahlrecht dessen, was ein Einfachstaatsbürger an Wahlrecht bei dieser Wahl hatte.

Di Lorenzo hatte nicht nur dieses doppelte Wahlrecht, sondern er machte auch - laut Aussage in einer Sendung mit Jauch - Gebrauch davon und wählte möglicherweise sowohl mit deutschem als auch mit italienischem Wahlzettel.

Erleichtert wird das dadurch, dass in den EU-Gesetzen kein gleiches Wahlrecht gibt, sondern nur allgemeines, unmittelbares, freies und geheimes. Allerdings wäre ein derartiges Vorgehen gesetzeswidrig gemäß deutschem Europawahlgesetz.

Und eben weil das gleiche Wahlrecht nicht in den EU-Gesetzen verankert ist, ist Doppelt-Wählen bei der selben Wahl a la Di Lorenzo auch so gesehen legal.

Das hat nicht nur einen, sondern sogar mehrere Österreich-Bezüge:

1.) Die schwarz-blaue Bundesregierung beschloss ja Doppelstaatsbürgerschaft für Südtiroler und -innen, bzw. dessen Angebot.

Für diese Doppelstaatsbürgerschaft gilt natürlich dasselbe wie für Giovanni die Lorenzo: Südtiroler und Südtirolerinnen würden mit dieser Doppelstaatsbürgerschaft auch doppeltes Wahlrecht bei EU-Wahlen genauso wie Giovanni Di Lorenzo erhalten.

Seltsamerweise befürwortet die FPÖ damit etwas, was ihr auf europäischer Ebene noch massiv schaden könnte.

2.) Bei der niederösterreichischen Landtagswahlen gab es Debatten rund um die Zweitwohnsitzbesitzer: die Bürgermeister erhielten das Recht, Zweitwohnsitzbesitzer, die aus ihrer Schätzung keinen oder einen zu geringen Bezug zur Wahlgemeinde haben, von der Wahlliste zu streichen.

Die Problematik, die so manche Rechtsanwälte und Verfassungsjuristen übersehen zu haben scheinen, könnte meiner Meinung nach darin bestehen, dass landesgrenzenübergreifende Zweitwohnbesitzer (also beispielweise jemand, der seinen Hauptwohnsitz in Wien und einen Nebenwohnsitz in Niederösterreich hat, in beiden Bundesländern Wahlrecht hat/bekommt, und beide Male von diesem Wahlrecht Gebrauch macht) ein doppeltes Wahlrecht bzw. Vertretungsrecht für den Bundesrat besitzen: ihr Wahlverhalten geht mit dem doppelten Stimmgewicht in den Bundesrat ein, verglichen mit dem Stimmrecht bzw. -gewicht, die ein Bürger hat, der nur einen Hauptwohnsitz, aber keinen Nebenwohnsitz hat.

3.) Die NEOS schlugen in einem Strategiepapier "europäische Listen" bei gleichzeitiger Reservierung einer gewissen Zahl von Mandaten für eben diese europäische Listen vor. Da manche Parteien ohnehin schon europäisiert sind, wie zum Beispiel die Mutterpartei der NEOS, die ALDE (die Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa) haben sie dadurch einen Vorteil und können doppeltes Wahlrecht lukrieren, währenddessen zahlreiche andere Parteien, aus welchen Gründen auch immer, momentan bzw. langfristig schlechtere Chancen auf diese europäischen Listen und damit auf Mandate haben.

Diese NEOS-Konzepte ähneln übrigens den Konzepten des britischen Liberalen Andrew Duff, der vor ca. 10 Jahren ein ähnliches Wahlrecht vorgeschlagen hatte, der aber - vielleicht auch wegen diesen Wahlsystemvorschlags - aus dem Parlament flog (die britischen Liberalen verloren 10 ihrer 11 Mandate, darunter auch dasjenige von Andrew Duff).

D. Knoflach

Dankes-Plakat des Südtiroler Heimatbundes für die Doppelstaatsbürgerschaft und das damit verbundene potenzielle doppelte Wahlrecht bei EU-Wahlen.

Ich habe jetzt auf die Schnelle das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) durchgesehen, ob nun ungleiches Wahlrecht für den Bundesrat explizit verboten ist oder nicht.

Und mein Eindruck auf die Schnelle war: ungleiches Wahlrecht für den Bundesrat (in dem landesübergreifende Mehrfachwohnsitzer in mehreren Bundesländern Wahlrecht haben, und aus diesen mehrfachen Wahlrechten mehrfache Vertretung für den Bundesrat abgeleitet wird) ist nicht explizit verboten.

Es sieht so aus, als würde das B-VG von der impliziten Annahme ausgehen, wenn auf Ebene der einzelnen Länder gleiches Wahlrecht gälte, dann müsse es auch auf daraus abgeleiteter Bundesratsebene automatisch gelten, was aber nicht der Fall ist.

Selbst, falls ein Verbot des Mehrfachwahlrechts bzw. der Mehrfachvertretung von einer Gruppe von Mehrfachwohnsitzern im Bundesrat nicht explizit verankert sein sollte, so sollte Mehrfachvertretung im Bundesrat eben dennoch verboten sein, weil das gleiche Wahlrecht eben eine Grundlage der Demokratie ist.

Gerade bei den Mehrfachwohnsitzern stellt sich die Frage nach der sozialen Schichtung: Mehrfachwohnsitzer dürften im Durchschnitt wohlhabender sein, womit ein Mehrfachvertretungsrecht von zahlreichen Mehrfachwohnsitzern auch eher einen Trend in Richtung Timokratie, der Herrschaft der Besitzenden, und weg von Demokratie darstellt.

Es besteht auch vielleicht ein Zusammenhang zwischen derartigen Formen der Timokratie sowie Jason Brennan´s Epistokratie, in der zumindest eine unterschiedliche Gewichtung des Wahlrechts bzw. des Stimmgewichts in Abhängigkeit vom Bildungsstand vorgenommen wird.

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