Nein, dieses Jubiläum ist kein Grund zum Feiern. Nicht wegen dem, was dieser Beitritt damals angerichtet hat, und auch nicht angesichts dessen, was diese Mitgliedschaft heute anrichtet. Die NATO war immer die Waffe gegen ein friedliches Deutschland.
Von Dagmar Henn
Ja, tatsächlich, am 6. Mai 2025 ist die Bundesrepublik seit 70 Jahren Mitglied der NATO. Natürlich wird man schon diesen ersten Punkt falsch erzählt bekommen – wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede in Brüssel zu diesem Jubiläum schon vor einigen Tagen getan hat: Deutschland sei seit 70 Jahren in der NATO. Und es überrascht nicht, dass Steinmeier auch sonst mit der Geschichte so seine Probleme hat, die hatte er schon immer.
"'Dankbarkeit' erfasst nicht einmal im Ansatz, was es für Deutschland bedeutet hat, wieder einen Platz am Tisch zu bekommen, unter den Schirm von Artikel 5 genommen zu werden, sogar sich wieder bewaffnen zu dürfen."
"Sich wieder bewaffnen zu dürfen"? Eine Formulierung, die an den historischen Tatsachen vorbeigeht; beispielsweise an der, dass der erste jemals von der SPD gestellte Bundespräsident, Gustav Heinemann, eine im Gegensatz zu Steinmeier höchst integre Persönlichkeit, aus dem Kabinett Adenauer zurücktrat, als klar wurde, dass Adenauer auf eine Remilitarisierung abzielte. Unter anderem übrigens, weil die Remilitarisierung und die NATO-Mitgliedschaft die deutsche Spaltung zementierten, die von den USA betrieben worden war. Oder dass der spätere Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß 1949 noch gesagt hatte: "Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen."
Ja, richtig, die Sowjetunion machte immer wieder Angebote, alle Besatzungstruppen abzuziehen, mit Deutschland einen Friedensvertrag zu schließen und im Gegenzug zu einer Einheit in Neutralität volle Souveränität zu gewähren. Es waren die Westmächte, insbesondere die USA, die bereits kurz nach Ende des Krieges begannen, Nazikader aus SS und Wehrmacht zwischenzulagern, weil man sie ja für einen künftigen Krieg gegen die Sowjetunion noch brauchen könnte. Und die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO war kein Geschenk, für das "Dankbarkeit" angebracht gewesen wäre, sondern eine spalterische Handlung, die die zukünftige Existenz einer deutschen Nation in Frage stellte.
Eine Tatsache, die damals sogar die SPD noch aussprach und versuchte, die Unterzeichnung der Pariser Verträge, die die Grundlage dieser Aufnahme darstellten, zu verhindern. Sogar mit einer Volksbefragung im Jahr 1954. Gustav Heinemann hatte übrigens noch im Januar 1955 bei einer Kundgebung in der Frankfurter Paulskirche erklärt: "Wer militärische Blockbindung betreibt, kann dabei die Wiedervereinigung wohl vielfältig im Munde führen, aber er verhindert sie zugleich."
Und es ist mitnichten so, dass die Deutschen der Westrepublik darauf versessen gewesen wären, endlich wieder in Reih und Glied zu marschieren. Waren sie nicht. Als die Pläne zur Remilitarisierung gefasst wurden, gab es eine breite Bewegung dagegen, bis hin zu Überlegungen zu einem Generalstreik (den die SPD, ihrer Tradition treu, unterband). Das Verbot der KPD und aller mit ihr verbundenen Organisationen (der Jugendverband FDJ wurde bereits 1951 verboten) erfolgte vor diesem Hintergrund, mit Blickrichtung auf den Widerstand, der gegen die Wiederbewaffnung bestand und der mit allen Mitteln gebrochen werden musste.
Das ist auch der Hintergrund, warum Gustav Heinemann in den Jahren nach dem Verbot immer wieder angeklagte Kommunisten vor Gericht verteidigte. Weil ihm der Frieden am Herzen lag, und auch ein einiges, friedliches Deutschland. Wenn man heutige Gestalten wie Steinmeier oder Pistorius betrachtet, denkt man, es muss sich um einen einmaligen Betriebsunfall gehandelt haben, dass dieser ehemalige CDU-Minister und überzeugte Christ in der SPD landete. Oder auf eben jenem Posten, den Steinmeier derzeit bekleidet.
Selbst der Spiegel gesteht den Zusammenhang zwischen Verbot und Remilitarisierung ein (oder gestand es zumindest noch vor vier Jahren):
"Als die Freie Deutsche Jugend (FDJ) im April 1951 eine Volksbefragung gegen die Wiederbewaffnung vorbereitete, verbot die Adenauer-Regierung erst die Aktion, dann am 26. Juni die FDJ in der gesamten Bundesrepublik."
Es ist selbsterklärend – eine Volksbefragung, die eine Mehrheit für die Remilitarisierung ergeben hätte, hätte man nicht verbieten müssen, oder? Die FDJ hatte übrigens, wenige Monate vor dem Verbot, mit einer Besetzung der Insel Helgoland dafür gesorgt, dass die britische Luftwaffe sie nicht mehr als Zielübungsplatz missbrauchte; die FDJ hatte die Sprenglöcher zubetoniert, die die Briten gebohrt hatten, um den Loreleifelsen zu sprengen. Was die CDU derweil trieb, lässt sich in ebendiesem Spiegel-Artikel auch finden:
"Unter der Tarnbezeichnung 'Zentrale für Heimatdienst' hatte die Regierung ab Mai 1950 ein Amt geschaffen, um die Wiederbewaffnung vorzubereiten. Dort beschäftigt waren auch Generäle aus Hitlers Generalstab wie Adolf Heusinger und Hans Speidel, der als Generalmajor am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion teilgenommen hatte."
Ja, das ist ein wirklich hübscher Artikel, weil er bei aller Voreingenommenheit passend beschreibt, mit welchen Methoden damals dafür gesorgt wurde, die Westdeutschen wieder in den Wehrdienst zu treiben:
"Bereits im Juli 1951 stimmte der Bundestag einem Strafrechtsänderungsgesetz zu. Es brachte die Straftatbestände 'Hochverrat', 'Staatsgefährdung' und 'Geheimbündelei' zurück, 1934 unter Hitler eingeführt und 1945 von den Alliierten suspendiert: ein fatales Signal an Richter und Staatsanwälte, die einst vor allem Sozialisten und Kommunisten in Gefängnisse gesteckt hatten."
Ja, Nazigeneräle, Nazigesetze und Nazirichter, die, passend zu dieser politischen Verfolgungswelle, im Mai 1951 durch Änderung des Grundgesetzes im Artikel 131 den Anspruch erhielten, wieder ins Amt zurückkehren zu können.
Und das alles sollten die Deutschen mit "Dankbarkeit" quittieren? Waren die Menschen jenes anderen Teils Deutschlands, denen gegenüber der NATO-Beitritt fast schon eine Kriegserklärung war, etwa keine Deutschen? In der wirklichen Welt war dieser 6. Mai 1955, zusammen mit der Gründung der Bundeswehr noch im selben Jahr, der Schlussstein des Verrats an der deutschen Nation, den die Adenauer-Regierung betrieben hatte.
"Vor 70 Jahren war dies eine Entscheidung von bemerkenswerter strategischer Weitsicht und Wirkung. Ich kann uns und all unseren Verantwortungsträgern heute nur ein ähnliches Maß an strategischer Weisheit wünschen – denn der vor uns liegende Weg sieht wohl noch ungewisser aus als damals."
Nun, der Sozialdemokrat Steinmeier hat ein ähnliches Talent, den Frieden zu verraten, wie einst Konrad Adenauer. Immerhin war er einer der entscheidenden Akteure dabei, ein enges Verhältnis zur Maidan-Ukraine zu schmieden, einschließlich jenes Besuchs in Odessa wenige Tage nach dem Massaker, bei dem er die verantwortliche Putschregierung pries. Ja, die NATO steckt so tief in diesem Mann, dass er gar nicht imstande ist, eine Welt ohne sie und die von ihr erwählten Feinde zu denken, und er blendet alles aus, was nicht in die Erzählung passt.
Sei es die Geografie, in der es von Mariupol keine Landbrücke zur Krim gibt, was er 2014 monatelang erzählte, oder die jüngere Geschichte der NATO selbst: "Putin hat den Krieg zurück auf diesen Kontinent gebracht." Als hätte nicht die NATO 1999 Jugoslawien bombardiert … und als hätte nicht Steinmeier selbst damals, durch seine Beteiligung an der Täuschung der Minsker Vereinbarungen, mitgeholfen, den ukrainischen Bürgerkrieg wachsen und gedeihen zu lassen.
Übrigens war Steinmeier auch jener deutsche Außenminister, der damals, 2015, eine Rede hielt, die einen deutschen Führungsanspruch erhob. Eine Vorstellung, die er nicht loszuwerden scheint: "Deutschland wird gerufen – und wir haben den Ruf gehört." Und: "Die wichtigste Aufgabe der deutschen Regierung ist es, unsere Bundeswehr zu stärken."
Welche Mühe man sich gegeben hat, die NATO in den 1990ern am Leben zu erhalten, als ihre Daseinsberechtigung plötzlich entschwand! Dreißig Jahre lang hat man daran gearbeitet, das heutige Russland zu dem Feind zu machen, den man in Brüssel brauchte. Steinmeier und seine Fantasien deutscher Führung waren dabei sehr nützlich. Er steht in der Tradition Adenauers, nicht der Heinemanns.
Es ist eine interessante Frage, wie ein Gustav Heinemann gehandelt hätte, wäre er in der Position Helmut Kohls gewesen. Wahrscheinlich wäre das Ergebnis eben nicht ein Anschluss gewesen, kein Raubzug, auch kein antikommunistischer Rausch, der es heute so leicht macht, zum Jahrestag des Sieges der Völker über den Hitlerfaschismus ausgerechnet mit den Anhängern der Nazikollaborateure in der Ukraine zu schmusen, die sogar die Gebeine ihrer eigenen Vorfahren, die gegen die Hitlerarmee gekämpft hatten, in Lwow aus der Erde graben, um sie entsorgen zu können.
Hätten die Deutschen 1990 die Wahl gehabt, sie hätten immer noch für ein neutrales Deutschland gestimmt. Sie hätten mitgeholfen, diese NATO zu entsorgen, statt ihr die Gelegenheit zu geben, ihren Ostlandritt als Zombie wiederauferstehen zu lassen. Dass diese Möglichkeit genommen wurde, das ist der nächste große Verrat in der jüngeren deutschen Geschichte.
Bizarrerweise ist das heutige Vorgehen gegen die AfD ein verschobener Klon des KPD-Verbots; denn das eine, was nicht sein darf, ist, den Kriegszielen der NATO die Gefolgschaft zu verweigern. Jede andere politische Frage scheint dahinter zurückzutreten, an diesem Punkt gibt es keine Bedenken, auch wenn sich nichts in der deutschen Geschichte als so verheerend erwiesen hat wie dieser penetrante Drang nach Osten. Die NATO mag für andere Länder Westeuropas mehr oder weniger nützlich, mehr oder weniger erstrebenswert sein – für Deutschland war sie immer aufgezwungen, immer das Ergebnis von Verrat, immer das zweischneidige Schwert, das ebenso nach innen gerichtet ist wie nach außen.
Und auch wenn jetzt am 6. Mai die ganze deutsche Mainstream-Presse diesem Militärpakt zujubeln wird, der das Land über Jahrzehnte zum auserkorenen Schlachtfeld machte und Pläne schmiedete, um Deutsche gegen Deutsche in den Krieg zu schicken – im Grunde genügt ein einziges Detail, um zu erkennen, wozu die bundesdeutsche Mitgliedschaft in der NATO diente und nun abermals dient: Es gab nach dem Inkrafttreten der Pariser Verträge, die die BRD in die NATO aufnahmen, einen Festakt. In Paris. Aber nicht am 6. Mai. Die Feier der Aufnahme der Bundesrepublik in das gegen einen ehemaligen Alliierten, die Sowjetunion, gerichtete westliche Militärbündnis fand einige Tage danach statt. Am 9. Mai. Mehr muss man über den Moment, als die Nazigeneralität ihre Stellung in diesem Pakt erhielt, nicht wissen.
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Historische Dokumente sind Fakt (im roten Paket, von Henkel, wissenschon). Letzte Woche löste ich die Bibliothek meines Vaters auf. Heraus kam ein Tagebuch meiner Mutter, das ich ganz vorsichtig lese. Man will ja nicht unter einem plötzlichen Einsturz bisheriger Gewißheiten begraben werden, nicht wahr.
Also nähert euch langsam der Wahrheit. Sie will nicht blenden sondern die Augen sehend machen, und jedes Auge hat seine Zeit, das linke wie das rechte.