Unruhe - Fluch der Zeit - „So eile den zufrieden“ (Hölderlin)

Wenn man nach „Ruhe“ oder „Unruhe“ googelt, findet man außer ein paar Duden-artige Kurzeinträge nicht viel, außer ein paar Psycho-Tipps, wie „Gedankenfokussierung“ , damit die Seele ruhig wird oder „Atemtechniken“, "ZEN-buddhistische Meditationstechniken" oder angefangen vom „Johanniskrauttee“ alle möglichen Kräutertees ausprobieren. Ratgeberbücher dazu gibt es jedoch unzählige, sie bleiben jedoch meist an der Oberfläche hängen.

Ein guter Weg, um Ruhe zu finden, ist das Schreiben, weil wir dadurch gezwungen werden, unsere oft wirr daher kommenden Gedanken zu ordnen, zu fokussieren. Wir müssen auch die Angst, im Leben etwas zu vergessen, ablegen lernen.

Nachstehend eher eine philosophische Übung, wie sich Ruhe/Unruhe in unserer Kultur verorten lässt, statt einem Rezept dagegen einfach nur einmal darüber nachzudenken.

Unruhekultur:

Was ist das eigentlich für eine Kultur, die sich, ohne dies jemals beschlossen zu haben, der Unruhe verschrieben hat?“. Die Unruhe als Fluch der Zeit. Um die theologische Mythologie zu bemühen - sagt der Kieler Philosoph Ralf Konersmann - besteht dieser Fluch seit der Vertreibung aus dem Paradies, denn das Paradies kannte keine innere Unruhe. Unruhe ist jedoch auch wiederum für die Menschen die Antriebsfeder ihres Tuns. Warum lieben die Menschen diese Rastlosigkeit und manche lassen sich bis ins Burn-out hineindrängen?

Aktivismus , Optimierungswahn und Controllingwahn unserer Zeit, warum – wofür - cui bono? Wie kam es dazu, die Lebenshaltung der Muße, in der man Dinge auf sich beruhen lies, abzulegen? Auch das Unbestimmtheitsgefühl der Zukunft schafft Unruhe insb. in Zeiten zugenommener Unordnung, wie wir sie derzeit erleben.

Treiben und Getrieben-Sein! Wir lassen Unruhe immer mehr zu, geben ihr immer mehr Raum! Diese Entwicklung ist jedoch keine "conditio humana". Deswegen bin ich auch ein scharfer Gegner des neoliberalen Wertesystems.

«Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein», prophezeit bereits die Bibel den Menschen. Auch der spätantike Philosoph Augustinus beklagt die unruhigen Herzen - keine rosigen Aussichten also. Mythen enthalten einen Fundus von Grundüberzeugungen, die auch von nicht theoligischen Menschen geteilt werden, sie geben empirische Orientierungen ab. Auch die Jung'sche Archetypenlehre spielt hier hinein.

Der Jetztzeit aber sind Stillstand und Unveränderlichkeit ein Gräuel, und so etwas wie Schicksal gibt es nicht mehr, alles lässt sich managen. Die Frage stellt sich, warum die Rastlosigkeit bereits seit der beginnenden Neuzeit (um das 17.Jh.) plötzlich positiv bewertet wurde und wie aus dieser ursprünglichen Gottesstrafe (Paradiesvertreibung) die Sehnsucht nach immer mehr wurde.

Im Gegensatz zu Hunger und Not wie in früheren Jahrhunderten scheinen in unserer heutigen westlichen Welt Stress und Unruhe die neuen Menschheitsgeiseln zu sein. Viele nehmen dann Zuflucht zu sogenannten "Entschleunigungsratgebern" . Aber ist die immerfort zunehmende Unruhe überhaupt therapierbar oder ist sie eine eine unveränderbare historische-kulturelle Erscheinung geworden.

Man fragt sich auch, warum Menschen Ruhe und Frieden aufgeben, um ihr Glück in der beständigen Veränderung suchen und die mögliche Welt bis hin zur virtuellen Welt mehr schätzen als die bestehende.

Es ist der Zwang zu Wachstum in der Wirtschaft, der Aktivismus in der Politik oder der Optimierungswahn im Privaten oder Zielsetzungsfetischismus, immer neue Ziele ohne einmal innezuhalten. Unruhe führt heutzutage meist in das erschöpfte Selbst.

Zwei gegensätzliche Positionen sind hier wichtig:

a)stoische Philosophie (Diogenes,Seneca, Marc Aurel) sie besagt, dass das Glück des Menschen nach Ruhe verlangt. Diogenes hat sich der Unruhe entzogen und wurde mit dem Spruch: "Geh mir aus der Sonne" berühmt. Sokrates mit seiner Aufforderung "Erkenne dich selbst" hat damit schon Unruhe in uns gebracht, es fordert uns oft zu Veränderungsbereitschaft auf, obwohl er auch die "vita contemplativa" (Beschaulichkeit) schätzte. Wir sind aus damaliger Sichtweise in ein kosmisches Ordnungsprinzip eingebettet, das erforderte uns darin entsprechend einzufügen, nicht mehr. Die "vita contemplativa" spielt auch in der Mystik des Meister Eckhart eine Rolle.

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/selbstbetrachtungen-roem-kaiser-marc-aurel-helmut-schmids-lieblingsbuch-16906

b) Die andere Position zur Unruhe stammt aus der biblischen Genesis: "Rastlos und ruhelos wirst du auf Erden sein". Wegen des Brudermordes Kains wurde der Mensch zum Zeichen seiner Sündhaftigkeit mit der Unruhe geschlagen, so die Genesis. Der Mensch ist geschlagen mit dem Schicksal der Unruhe. Mythen - auch Homers Odysee - sind deshalb interessant zu lesen, weil sie "anthropologische Konstanten" des Menschen zum Ausdruck bringen.

Heraklit mit seiner "alles fließt" Philosophie wäre wiederum als Unruheprotagonist einzuordnen, jedoch glaubte Heraklit an eine kosmische Gesamtordnung und keine Unordnung.

Die Neuzeit (um das 17.Jh) und die aufkeimenden Wissenschaften begannen wiederum die Lebensweise der Ruhe abzulehnen, weil Fortschritt und Zukunftschancen wahrnehmen laufender Veränderung und Unruhe bedarf. Altes muss zerstört werden, damit Neues entstehen kann (Innovation, Disruption, "creative Destruction" - Ökonom Schumpeter, Digitalökonomie).

Voltaire ("Candide";) = wir müssen unseren Garten einrichten (creative).

Das Paradies setzt sich plötzlich des Verdachtes der Langeweile aus als defizitärer Zustand, weil darin keine Entwicklung herrscht.

Die zunächst noch positiv bewertete Unruhe, bis ein Ziel erreicht wurde führte soweit, dass immer neue Zielsetzungen zu einer endlosen, unruhigen Infinitesimalkette führen. Dort stehen wir heute!! Ist das klug?

Schiller, Kant, Hegel, Marx,Schumpeter, etc..sahen die Unruhe in ihrem Denken als notwendige Impulse jeden menschlichen Fortschritts in ihrer je eigenen Weise. Karl Marx etwa versteht die Unruhe als einen Prozess, in dem Beständiges stets zerstört werden muss. Die innere Logik der Geschichte als Ausdruck menschlicher Unruhe will Entwicklung, nicht Glück. Entwicklung und sonst weiter gar nichts. Diese Analyse provoziert natürlich die Frage nach dem Sinn.

Am Ende werde ich wiederum mit der Frage übriggelassen: Wie gehe ich persönlich mit der ständigen Unruhe um? Dazu gibt es unterschiedliche persönliche Zugänge, wobei jedoch die stoische Haltung und Gelassenheit noch lange nicht passe sind.

Ich glaube persönlich sogar, dass sie in Zukunft wieder mehr denn je Bedeutung gewinnen wird. "Das Schwierigste beim Gehen ist das Stillestehen" (Balthasar Gracian). Dieses Stillestehen ist noch wichtiger für Menschen, die immer schneller laufen wollen. Nur im klugen Zusammenspiel von Ruhe und Unruhe, im "zufriedenen Eilen" (Hölderlin) gelingt das Leben. Bei den klugen Benediktinern gilt die Formel: "ora et labora et lege". Wenn das sich immer schneller drehende Hamsterrad der Arbeit ("labora";) keinen Platz mehr für "ora" und "lege" zulässt, dann sind wir auf dem falschen Weg.

Es sollte daher versucht werden, ein Gleichgewicht zwischen Ruhe und Unruhe anzustreben, der moderne Ausdruck dafür "Work life Balance". Eine mit Recht von der jüngeren Generation am Arbeitsplatz geforderte, neue Arbeitskultur , jedoch die Umsetzung scheitert zumeist an der Realität.

Wir lassen uns weiterhin von einem nicht ausbalancierten Übermaß an Arbeit versklaven. "Wir arbeiten nicht , um zu leben, sondern wir leben zunehmend nur mehr , um zu arbeiten". Viele Arbeitnehmer haben jedoch nicht das Glück, eine kreativ sinnstiftende Arbeit machen zu können, um dem Argument der Sinnstiftung gleich ein bisschen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Wir müssen einen besonnenen Umgang mit der Unruhe finden:

Nur wer mit sich gelassen umgehen kann, kann auch wieder die Dinge lassen, wie sie sind. Lernen wir, nach einem erreichten Ziel nicht gleich ein neues dranzusetzen, sondern zwischendurch auch stehenzubleiben, innezuhalten, nachzudenken. Etwas gut sein lassen (Muße zwischendurch). Ruhe ist das ,was uns abhandengekommen ist. Diese protestantische Bewährungsethik, wonach wir uns für den Eintritt ins Paradies zuerst auf Erden bewähren müssen. Ich greif mir manchmal auf den Kopf. Neugierde, Hunger nach neuem Wissen ja, aber keine entgrenzte Beschleunigung in den Hamsterrädern des Neoliberalismus.

PS:

Ratgeberliteratur (GU-Verlag, etc..) bleiben an der Oberfläche hängen. Wenn zB. ein Buch "Johanniskrauttee" gegen Burnout empfiehlt oder "offene Fenster" gegen Schlafstörungen oder "Lichtlampen" gegen (schwere) Depressionen,etc... können sie es gleich wieder zuklappen, denn eine wirksame! Dosierung würde schwere gesundheitliche Nebenfolgen für Niere oder Auge haben. Wir müssen uns an die Ursachen herantasten, nur dann wird auch eine Therapie erfolgreich. Dazu ein anderer Beitrag von mir:

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/burnout-bewaeltigen-die-krankheit-des-neoliberalismus-16255

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Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 11.04.2016 15:45:35

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