Es ist Wahljahr. Und in einem Punkt liegt Emmanuel Hollande – pardon! – Macron richtig: Es ist Wahljahr in einer einzigartigen Zeit. Letzthin kursierte in den sozialen Medien die humoristische schematische Darstellung eines Menschenlebens. Letzteres repräsentiert durch eine Linie, die an ihrem linken Ende durch das Wort „Birth“, an ihrem rechten durch „Death“ begrenzt wurde. Der Strich selber, also das Leben, war mit „What the Fuck …?!“ überschrieben. Das Schmunzeln des Betrachters über den jeder Idee von Einflussname, Verstehen und freiem Willen ins Gesicht lachenden Fatalismus währt nur kurz und weicht rasch der Weigerung, die Möglichkeit des eigenen Lebens als zwangsläufigen Prozess vor dem Hintergrund individueller Ratlosigkeit wahr- geschweige denn hinzunehmen.

Wendet man das Schema jedoch auf den zeitlichen Abschnitt an, auf die Stunde, in der wir uns als Gesellschaften befinden, dann gibt es kaum ein passenderes Bild. Die Linie, die unsere Zeit darstellt, wird dann an ihrem Linken Ende von den Worten „Nicht mehr“, an ihrem rechten von den Worten „Noch nicht“ begrenzt. Dazwischen stehen wir. Das Alte, die Ordnungen unserer Vorfahren, die allgemeingültigen Regeln des Zusammenlebens haben wir überwunden. Die Würde der traditionellen Familie, die Unantastbarkeit des Lebens und des Eigentums, die grundsätzliche Ablehnung persönlicher Vorteilnahme durch Denunziation und neidgetriebenes Handeln und Reden – eine Zusammenfassung der biblischen Gebote fünf bis zehn – haben ihre Gültigkeit verloren. Eine neue Ordnung, die sich aus den Trümmern individueller, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und monetärer Exzesse ergeben wird, ist noch nicht da. Die Annahme, dass der symbolische Strich zwischen Vergangenem und Künftigem ein Abgrund ist, ist nicht bloss Schwarzmalerei und Pessimismus. Gerade das, was sich Wahlkampf nennt, offenbart, dass das „Dazwischen“, in dem wir uns befinden, für viele in Wahrheit ein „Nirgends“ ist.

Ich bin ein Mensch wie Ihr. Ich kenne Euch und Eure Erwartungen. Eure Zweifel, Eure Ängste, Euren Groll. Es ist Zeit für Gerechtigkeit. Ich werde dafür sorgen, dass Sorgen und Nöte nicht zu Angst werden. Und dass die Ritter der Angst nicht aus Angst Hass machen. Wir sind das Bollwerk gegen jene, die hetzen, die für alles einen Sündenbock brauchen und die die Völker aufeinanderhetzen wollen. Wir werden das Land und die Völker vereinigen, wiedervereinigen und zusammenführen durch Hoffnung und Optimismus. Fürchtet Euch nicht. Ich liebe Euch. Wir errichten eine positive Zukunft unter dem Schutz des Höchsten. Wir sorgen dafür, dass jeder seinen Platz findet. Ich frage keinen danach, woher er kommt. Meine Zusage gilt allen, die daran glauben. Das ist ein Beginn und kein Ende. Und ich werde nie fern von Euch sein.

Nein – diese Sätze sind nicht die verbale Peitsche eines Sektenführers zur Spenden- und Unterwerfungs-Motivation seiner gehirngewaschenen Jüngerschar. Es sind – willkürlich zusammengefügt – Aussagen von Martin Schulz und Emmanuel Macron anlässlich verschiedener Auftritte. Der „Schutz des Höchsten“ ist in der Realität stets der „Schutz Europas“. Eine von Macrons liebsten Beschwörungsformeln: Sicherheit und Rettung eines jeden Lebensbereichs der Nation und des Individuums finden ihre diffuse und individuell zu interpretierende Erfüllung ausschliesslich in der Unterwerfung unter den schützend ausgebreiteten Flügel der EU. Dass dieser Flügel – es ist der linke – erstens lahm ist und zweitens der einzige eines flugunfähigen Ideologie- und Beamtensauriers, spielt dabei keine Rolle. Wer will schon fliegen, wenn er, glaubt man den Kandidaten, schon am Boden Angst hat. Aber darum soll es hier auch nicht gehen.

Die Frage ist vielmehr: Wie anders, als mit grosser Ratlosigkeit, Orientierungslosigkeit und einem beherzten „What the Fuck …!?“ ist zu erklären, dass ein grosser Teil der Menschen solch faktenfreiem Predigen zujubelt? Dass sie Messiassen und Heilsbotschaften huldigen, die fernab von Sachpolitik und Realitäten des Gemeinwesens, mit Gut und Böse, Licht und Finsternis, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wahrheit und Lüge, Hass und Liebe operieren? Der Mechanismus, der dabei greift ist erschütternd einfach: Fakten können nicht denunziert werden. Also hat man die Fakten jenen überlassen, die man denunzieren kann. Die „Anderen“, die „Rechten“, die „Ultranationalisten“, die „Hetzer“. Und keinem fällt es auf. Im Gegenteil: Wem es am besten gelingt, bei der Mehrheit quasireligiöse Schauer der Zustimmung und der Ablehnung auszulösen, wird gewählt werden. Europa wird sich ein weiteres Mal für den Antifaschismus entscheiden.

Ein Antifaschismus des „Wir“, das reine Maskerade ist und das Macron mit dem Satz: „Je ne serais jamais loin de vous“ (Ich werde nie fern von Euch sein) auf den Punkt bringt. Im Klartext: Ich bin zwar nicht bei euch, bin nicht unter euch, bin keiner von euch und schon gar nicht auf dem Strich im Nirgends stehend auf dem ihr darbt – aber ich werde nie fern sein. Dass dieses „Nie fern“ eine Parallelwelt ist, für die die Menschen nur den Versorgungsnachschub an realen Werten via demokratische Wahl zum Preis der Freiheit und aus Hoffnung auf Orientierung darstellen, wird nicht wahrgenommen oder gezielt unterdrückt und verdrängt. Was sich hier über allem schwebend als Erlöser inszeniert, als  Sicherheits- und Friedensgaranten, als Gerechtigkeitslieferanten und grosse Reparierer des irdischen Paradieses ausgibt, ist Repräsentant einer repressiven Verwaltungsmoral sogenannt demokratischer Institutionen. Festgehalten am Strich, auf dem die Massen stehen, durch die tonnenschwere Halteleinen der vierten Gewalt.

Kein schönes Bild – mehr eine dalìesk surreale Alptraumszenerie. Fürchterlich die dünne die Leere überspannende und zum Reissen gespannte Linie, die gedrängten Menschenmassen über dem Nichts. Und Europa wird wählen. Europa wir die Hoffnung, dass die Linie hält, wählen und damit den kurzfristigen Machterhalt jener, die sie über den Abgrund geführt haben und die selber längst von Bord sind. Europa wir das wählen, was immer gewählt wird, wenn Menschen sich vor der wunderbaren grenzenlosen Verantwortung drücken, die Leben bedeutet und hoffen, dass andere die Sache für sie regeln werden: Knechtschaft.

Indes: Darauf zu hoffen, dass einzelne Stimmen, echt freiheitliche Medien, faktenliefernde Quellen das Ruder herumzureissen vermöchten, die Mehrheit zu wecken, ist ebenso illusionär. Es mögen im Kleinen heilsame Fusstritte sein, Weckrufe – im Grossen und Ganzen wird jedoch als Opfertum kostümierter Opportunimsus die Oberhand behalten – „Reisst euch am Riemen!“, „Packt an!“, „Sorgt für Euch selber und für eure Nächsten“, „Lasst andere in Ruhe leben, reich sein und schaffen, wie es ihnen gefällt“ sind nicht die Botschaften, die ankommen. Solange, bis nichts mehr zu verschenken sein wird und die die Menschen merken, dass des Kaisers neue Kleider nur Parolen sind, dass das, worauf sie stehen heisse Luft ist und darunter der Abgrund gähnt, wird man auf das Recht pochen zu ernten, was andere gesät haben und es Gerechtigkeit nennen.

Wozu also rufen und schreiben und sich täglich durch den dumpfen Morast der Empörung quälen? Warum nicht vielmehr tun, was man von uns erwartet: Sich verhalten wie die „Köter“ und das „Pack“ (was im Englischen Rudel bedeutet), als das man die Menschen, die sich wehren nicht nur bezeichnet, sonder wohl vielmehr auch empfindet?

Wenn meine Hunde draussen im Garten sind und es unterlassen in regelmässigen Abständen die Köpfe zur Tür hereinzustecken oder drinnen eine Runde zu drehen, wenn es ganz, ganz, ganz still wird im Umkreis von hundert Metern und sie weder zu sehen noch zu hören sind, dann weiss ich, dass sie etwas ausbrüten. Dass sie sich entweder an einem Paar meiner Schuhe gütlich tun oder aber Schwerstarbeit in Sachen Zaunüberwindung leisten. Warum es nicht ebenso halten? Warum nicht still werden und in dieser Stille und in aller Ruhe etwas in Sachen Freiheit ausbrüten? Unauffällig und still dem Apparat entziehen, was ihn am Leben erhält – die Mittel, die wir erwirtschaften und die uns gehören und jede Macht über uns?

Ich glaube nicht, dass es jemanden oder eine Gruppe gibt, die das Ruder herumreissen kann. Es kann nur der Einzelne tätig beginnen, ansonsten bleibt es fremdes Fremdes Heil: eine Gnade, für die andere als wir selber zuständig sein sollen. Was wir indes können, ist den Weg – er führt erst einmal abwärts – bereits heute unter die Füsse nehmen, das Gedränge auf dem „Strich“ hinter uns lassen.  Gefasst auf die Möglichkeit materieller Bescheidenheit und in Sachen Freiheit und Verantwortung reich die Landschaft geniessen und Kraft tanken für den Moment, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und monetäre Illusionen nicht mehr halten werden. Und vor allem nie Knechte sein: Nicht jene einer gottspielenden Obrigkeit und auch nicht jene der eigenen Empörung.

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