Genauso, wie es einfachste ökonomische Grundprinzipien gibt, wie beispielsweise jenes, das da sagt, wo kein Kunde, da kein Markt, scheinen im Handbuch politischer Herrschaftsanleitung Tricks zu existieren, die für ein reibungsloses – sprich: mehrheitlich gewolltes oder ignoriertes – Gestalten und Durchregieren mit dem Ziel des Machtausbaus unerlässlich sind. Einer dieser Tricks ist die Relativierung des Gewissens. Ein Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit bedienender Kniff, der vorgibt, Gewissen – ob gut oder schlecht – sei nie absolut, sei vielmehr temporäres soziales, beziehungsweise materialistisches Konstrukt und tendenziell stets schon überholt. Mehr noch: Was uns heute noch als Gewissen anklage oder freispreche, habe dem modernen Menschen in Wahrheit und durchs Band Menschenrecht zu sein. Alternativlos und im Imperativ: Du kannst dein Gewissen verändern, also musst du es auch verändern wollen. Du kannst es ausschalten, also musst du es auch ausschalten wollen. Was am Schluss dieses „Emanzipation“ genannten Diktats noch Gewissen sein darf, ist die aufgetakelte Armseligkeit wirklichkeitsfremder und geistloser Fernsentimentalität im Ehe-für-alle- oder Refugees-Welcome-Modus.

Im Umkehrschluss wird lynchmobmässig und gerne auch politisch und medial angegriffen, wer es wagt, an diese angeblich voraufklärerische innere Instanz des „Du-sollst“ und „Du-sollst-nicht“ hinzuweisen oder gar zu appellieren. Das macht Sinn. Denn: Gewissen ist die Aufforderung zur Entscheidung für oder gegen Schuld. Für oder gegen Verantwortung. Sowohl Schuld, als auch Verantwortung sind verpönt in einer erneut durchpolitisierten Gesellschaft, in der sich 80 Prozent der Menschen in irgendeinem Lebensbereich als amtlich verifizierte Opfer fühlen dürfen und dafür Leistung verlangen. Egal, in welcher Form – egal, von wem. Und seien es nur die warholschen 15 Minuten Ruhm – heruntergedimmt auf zeitgeistgemäss armselige 15 Minuten Facebook-Mitleid.

Das Verrückte an der Sache: Das Gewissen lässt sich vergewaltigen, umdeuten, zu Brei verarbeiten und zertreten.  Man kann es mit grösster Sorgfalt und pädagogisch nach neuesten Standards in das Papier einer alten Zeitung einwickeln, irgendwo in einem dunklen stinkenden Hinterhof deponieren und versuchen, es zu vergessen. Töten lässt es sich offenbar allen Bemühungen zum Trotz nicht. Der Umstand, dass es Themen gibt, bei deren Diskussion alle Stricke in punkto Contenance, Respekt, Manieren und minimalen Anstands reissen sobald einer es wagt, vom Verantwortungs- und Schuldgedanken her zu argumentieren, spricht für sich. Ebenso die Tatsache, dass im Umkehrschluss teilweise fast schizophren anmutende Geistes-Spagate vollführt werden, um Entwicklungen, Sachverhalte und aus individuellem Handeln resultierende Konsequenzen als persönlichem Einfluss entzogen darzustellen und einem „modernen Gewissen“ zuzuordnen.

Darf man beispielsweise im Zeitalter krampfhaft fröhlichen Patchworks der Meinung sein, dass Trennung oder Scheidung von Elternpaaren Gewalt ist? Dass, wenn Familien zerbrechen (auch das keine politisch korrekte Formulierung), auch Kinder zerbrechen? Weil sie zerrissen werden zwischen zwei natürlichen Polen, deren beider sie naturgemäss und notwendigerweise bedürfen? Darf man beim Thema Abtreibung – pardon: Abbruch ungewollter Schwangerschaften – darauf hinweisen, dass die Fristen bei der sogenannten Fristenlösung nicht eine „rote Linie“ zwischen Zellklumpen und Kind darstellt, sondern ausschliesslich eine zwischen technisch machbar und technisch nicht machbar in Bezug auf die Absaugmethode? Darf man den Umstand, dass der Arzt nach erfolgtem Eingriff die Gewebeteile auf ihre Vollzähligkeit kontrolliert, dahingehend interpretieren, dass, wo Teile identifiziert werden, nicht von einem amorphen Fleischklumpen die Rede sein kann, und darf man das auch erwähnen? Darf man Bezügern – und zwar allen – von Transferleistungen ins Gesicht sagen, dass sie Schmarotzer sind und dass ihr Lebenskonzept zumindest teilweise auf dem parasitären Grundsatz des „Lebens auf Kosten anderer“, auf Klauerei basiert? Das also, was man gerne und oft den bösen Grosskonzernen und überhaupt der Wirtschaft vorwirft? Darf man darauf hinweisen, dass in erster Linie wir als Konsumenten und nicht die Unternehmer für Kinderarbeit, Tiermisshandlung im Mast- und Schlachtbetrieb, Ausbeutung und Umweltschäden verantwortlich sind, weil, wie man in der Schweiz sagt, keine Geiss der Welt das oben erwähnte einfachste aller ökonomischen Prinzipien wegschleckt, dass, wo kein Kunde ist, auch kein Markt existiert?

Darf man? Natürlich darf man. Wer die fürchterliche Unbeirrbarkeit scheinargumentativer Schlagwaffen nicht fürchtet, wer nicht Arzt ist oder sonst einen Job zu verlieren hat, wer keine Freunde braucht, keine Kinder hat, die aufgrund falscher Meinungen gemobbt werden können oder Wähler, von denen er lebt, der sei dazu herzlich eingeladen. Die Bezeichnungen „Ewiggestriger“, „Chauvinist“, „Nazi“ oder „Frauenfeind“ bilden in der Folge oft nur das Präludium eines Begrifflichkeitsreigens, der sich nicht selten rasch einer Sprache zuneigt, die ihren Wortschatz aus den Tiefen des Verdauungs- und Fortpflanzungsvorgangs schöpft. Ende der Diskussion. Oder anders gesagt: Wo Gewissens- und Schuldfragen ins Spiel gebracht werden, explodiert etwas.

Zusammenfassen lässt sich die Sache der Zu-Boden-Schreier oft als eine Art totalen Freispruchs. Freispruch des Menschen von jeder Art von Schuld. Sie wird nicht nur abgelehnt, sondern schlicht geleugnet. Der fortschrittliche und emanzipierte Mensch ist sich dann auch nicht zu schade, von der Gesellschaft, dem Umfeld, Schicksal, Umständen und Gerechtigkeit zu schwafeln, wo in Wahrheit nur eines richtig ist: Ich bin schuld. Ich allein.

Widersprüche wie jener, dass Kindern, denen mit roher Gewalt und aus egoistischen Gründen die Chance auf die natürlichste Entwicklung mit Vater und Mutter genommen wird, Gewalt als grundsätzlich schlecht verboten wird – auch dann, wenn es darum geht, sich zu wehren – können da schon mal unter den Tisch fallen. Davon dass sie alternativlos und chancengleich auf die Bewältigung des Lebens vorbereitet werden, indem man sie via behördliche Kompetenzvermittlung auf gar nichts vorbereitet und damit jeder willkürlichen potentiellen Gewalt preisgibt während man sie ansonsten der staatlichen und totalen Durchdiagnostizierung – genannt Förderung – überlässt, ganz zu schweigen. Hauptsache, die Schuldfrage ist auch hier von Anfang an geklärt: Nicht die Eltern versagen, der Staat tut es. Und wenn nicht er, dann die Gesellschaft.

Ähnlich Widersprüchliches im Fall des Arztes, der Gewissensfreiheit einfordert und sich weigert, Abtreibungen vorzunehmen: Politik, Arbeitgeber, Patienten und Kollegen ächten die Haltung als überholt, menschenrechtswidrig und diskriminierend und begründen die Aufforderung zur sofortigen Kündigung, beziehungsweise das behördlich abgesegnete Mobbing damit, dass es unfair sei, sie mit der „belastenden Situation“ alleine zu lassen, anstatt sein Teil dessen, was nicht bekannt und keinem angelastet werden darf – Schuld – zu tragen. Widerspruch? Fehlanzeige. Dass an grotesker Scheinheiligkeit kaum zu überbieten ist, wenn Beamte und Leute, die von dem leben, was andere sich Stunde um Stunde verdienen, von sich selbst als Dienstleistern, Klienten und Kunden sprechen, braucht kaum erwähnt zu werden.

Der Beispiele gibt es Legion. Das gesamte Leben eines Menschen darf heute ohne rot zu werden mit diesem Opfer-Fokus durchdekliniert werden. Und es wird durchdekliniert. Genannt wird es „Befreiung“. Das grosse Missverständnis, die politisch gewollte und gesellschaftlich zur Wahrheit erhobene Lüge: „Du bist schuld!“ ist das finstere inquisitorisch Böse schlechthin. Schuld ist nur dann politisch korrekt, wenn sie einem anonymen Kollektiv – der Gesellschaft, dem Staat – zugeordnet und das Individuum in jedem Fall entlastet werden kann.

Falsch! „Du bist schuld“ ist einer der wunderbarsten Sätze, die es im Leben eines Menschen geben kann. Schuld sein heisst Verantwortung haben. Verantwortung tragen, heisst gehandelt haben. Handeln heisst entschieden haben. Entscheiden dürfen heisst frei sein. Kurz: Ohne Schuld, keine Freiheit.

Ob man es nun innere Stimme, Gotteswissen, höheres Wissen, Instinkt, Stoppschild oder natürliches Prinzip nennt: Das Gewissen ist unser Gradmesser für Schuld. Und damit für persönliche Freiheit. Jeder, der uns einzureden versucht, das Gewissen sei ein volatiles und einzig dem Materiellen unterworfenes Konstrukt, der will in Wahrheit nur eines: Form- und lenkbare Menschenmassen, die ihre Gewissenskonflikte zum Preis der Gewissensfreiheit an eine höhere Instanz abgeben. Sklaven.

Die Tatsache, dass wir heute ein weiteres Mal soweit sind, dass nicht wenige im Namen einer verunstalteten Gerechtigkeit und einer perversen Kultur des Korrekten bereit sind, diese Freiheit des Gewissens per Gesetz zu beschränken – beschränkte Freiheit, welch ein Hohn! – zum „Wohl der Gesellschaft“ als Ganzes, gegen Diskriminierung, für den Frieden oder wahlweise eine dekretierte Solidarität, zieht wie ein kalter Luftzug durchs Land. Denn: Die Grenze, zwischen jenen, die Freiheit via Verbot, Frieden via Gewalt, Gerechtigkeit via Zwang und Solidarität per Diktat fordern und denen, die solches ablehnen, ist längst nicht mehr bloss eine zwischen Meinungen und Worten. Sie ist real und wird täglich realer. Es ist eine Grenze zwischen wirklichen Welten: Der Welt freier Menschen, die das grenzenlose Beschenktsein mit Verantwortung annehmen und leben und der Welt ferngesteuerter Wesen, die jede  Instinktsicherheit des Menschseins verloren haben und längst Haustiere der niedrigsten Gattung sind.

Mehr als alles Beileidigen, Beschimpfen und Bedrohen ist es dieses „feine Wispern von Rattenkrallen“ (Faulkner), das einen frösteln lässt. Der Trost: Das Gewissen überlebt. Uns alle und immer.

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