Menschheitsgeschichte
Ulli Lust schreibt ihr Buch aus weiblicher Perspektive. Sie verirrt sich dabei aber nicht in wissenschaftlich überholten Matriarchatstheorien, sondern schafft eine feministische Deutung der Menschheitsgeschichte auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie erzählt und bebildert sachlich, aber gleichzeitig mit Empathie und Witz. Durch ihre warmherzige Erzählweise und die künstlerische Gestaltung gelingt es der Autorin, eine spürbare Nähe zu den Menschen in der Vorgeschichte herzustellen. Sie bricht alte Narrative auf und erzeugt neue Räume für Debatten, auf die Interessierte und auch Archäolog*innen in Zukunft aufbauen können.
Zwar müssen einige Interpretationen zur Bedeutung der Frauenrolle im Paläolithikum und der Binaritäten kritisch hinterfragt werden, an der einen oder anderen Stelle fehlt eine kritische Einordnung der ethnologischen Beispiele und ein Bezug zu archäologischen Quellen, dennoch zeichnet die Autorin ein weitaus reflektierteres Bild vom Leben in der Vorgeschichte, als so manche Archäolog*innen.
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Als Archäolog*innen und Kollektiv, das sich viel mit Geschlechterforschung in der Archäologie beschäftigt, wurden wir gebeten, eine Rezension aus fachlicher Sicht zu schreiben, um den Zugang zum Thema auch für fachlich anders Verortete zu erleichtern.
Quelle:
https://www.gender-blog.de/beitrag/frau-als-mensch-lust
Das Ende der Scham:
„Die Frau als Mensch“
von Ulli Lust
(12. August 2025 Kollektiv Anarchäologie)
"Das Ende der Scham"
Eine leuchtend rote Vulva markiert den Eingang zu einer paläolithischen Höhle und eröffnet den Blick in die Welt der Steinzeit aus weiblicher Perspektive. Ulli Lust nimmt in ihrem neuen Sachcomic Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte die Anfänge der Menschheitsgeschichte unter die Lupe. Sie sucht nach Antworten auf die großen Fragen rund um die Menschwerdung, die Rolle der Frauen in der Vorgeschichte und die gesellschaftlichen Hierarchien. Dafür nutzt sie einen großen Schatz an archäologischen Quellen aus der frühen Steinzeit sowie ethnologischen Beispielen aus der ganzen Welt. Die Frau steht im Zentrum ihrer Geschichte, womit der patriarchalen Forschungstradition etwas entgegengesetzt wird.
"Wann kam die Scham?"
Nach einem kurzen autobiografischen Einstieg stellt Ulli Lust sich die Frage, warum weibliche Körper seit der Antike oft bedeckt oder schamhaft dargestellt werden. Denn paläolithische Figurinen zeigen nackte Frauen in selbstbewussten Posen. Was bedeutet dies für gesellschaftliche Rollen und Normen und das Frauenbild der Vorgeschichte?
Ein Großteil der paläolithischen Figurinen, die eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können, sind tatsächlich weiblich. Aber die geschlechtliche Zuordnung von menschlichen Darstellungen in der Altsteinzeit ist komplex. Die Anzahl der Darstellungen, die männlich sind, keinem Geschlecht zugeordnet werden können oder mehrgeschlechtlich interpretiert werden, ist höher als meist angenommen. Gleichzeitig werden sie häufig vernachlässigt und finden bei Interpretationen über die weiblichen Darstellungen oft keine Beachtung (Hahn 2025; Anarchäologie 2022). Wenn man sich also die Frage stellt, wann und wie es passieren konnte, dass weibliche Körper mit Scham behaftet wurden, dann sollten auch die geschlechtslosen und mehrgeschlechtlichen Darstellungen berücksichtigt werden. Denn intergeschlechtliche oder geschlechtslose Körper werden auch heutzutage oft unsichtbar gemacht.
"Von Menschen und anderen Primaten"
Um sich den Hauptfragen zu nähern, beginnt die Autorin am Anfang – noch vor den ersten Menschen. Sie betrachtet die unterschiedlichen Sozialstrukturen unserer nächsten Verwandten – Gibbons, Schimpansen und Bonobos. Dabei zeigt sie, dass wir Menschen irgendwo zwischen den eher patriarchal organisierten Schimpansen und den friedliebenden Bonobos stehen, die sich, um Konflikte zu lösen, gegenseitig sexuell befriedigen.
Ulli Lust räumt mit dem Klischee der ersten Menschen als gewalttätige und egoistische Wilde auf. Vielmehr liege die Grundlage des menschlichen Seins in sozialen Bindungen, Empathie und Kooperation. Eigenschaften, die unerlässlich sind, um Menschenkinder großzuziehen und so das Überleben der Gruppe zu sichern. Ulli Lust bietet damit einen Gegenentwurf zu den sozialdarwinistischen Mythen, die leider aktuell wieder mehr Anhänger*innen gewinnen.
"Von Menschen und anderen Primaten"
Um sich den Hauptfragen zu nähern, beginnt die Autorin am Anfang – noch vor den ersten Menschen. Sie betrachtet die unterschiedlichen Sozialstrukturen unserer nächsten Verwandten – Gibbons, Schimpansen und Bonobos. Dabei zeigt sie, dass wir Menschen irgendwo zwischen den eher patriarchal organisierten Schimpansen und den friedliebenden Bonobos stehen, die sich, um Konflikte zu lösen, gegenseitig sexuell befriedigen.
Ulli Lust räumt mit dem Klischee der ersten Menschen als gewalttätige und egoistische Wilde auf. Vielmehr liege die Grundlage des menschlichen Seins in sozialen Bindungen, Empathie und Kooperation. Eigenschaften, die unerlässlich sind, um Menschenkinder großzuziehen und so das Überleben der Gruppe zu sichern. Ulli Lust bietet damit einen Gegenentwurf zu den sozialdarwinistischen Mythen, die leider aktuell wieder mehr Anhänger*innen gewinnen.
"Erfolgreichste Wirtschaftsform der Welt"
Wenn es um das Leben der ersten Menschen geht, geht es automatisch auch um deren Subsistenzwirtschaft – das Jagen und Sammeln. Die Autorin beschreibt hierfür das Leben heutiger Wildbeutergruppen und zeigt auch die aktuelle politische Lage am Beispiel der Khoisan, die systematisch unterdrückt und verdrängt werden. Diese werden im Buch, aufgrund ihres Erbguts und der nicht-sesshaften Lebensweise, als direkte Nachfahren der ersten Menschen gesehen. Heutige Wildbeutergesellschaften erlauben uns Einblicke in das Leben der Steinzeit und bieten spannende Ideen und Anregungen für die Interpretation vorgeschichtlicher Gesellschaften. Allerdings darf dies nie eins zu eins auf die Vergangenheit übertragen werden. Eine kritische Einordnung der ethnologischen Vergleiche bringt Ulli Lust selbst an, denn „Beispiele aus der Ethnologie sind naturgemäß jüngeren Datums. Sie können nicht einfach auf die Gesellschaften der Eiszeit übertragen werden. Sie sollen Denkanstöße liefern” (S. 213).
Hervorzuheben sind auch die Darstellungen von Frauen bei der Jagd. Das Klischee, dass nur Männer gejagt haben, ist zwar schon lange veraltet, es bleibt aber trotzdem wichtig, dieses Thema anzusprechen. Denn damit geht auch die Vorstellung einher, dass Frauen Männern von Natur aus körperlich unterlegen seien und daher nicht für die Jagd geeignet wären. Diesem falschen Narrativ setzt Ulli Lust neben archäologischen Befunden auch ethnologische Beispiele entgegen, in denen Frauen entweder besondere Rollen bei der Jagd einnehmen oder mit ihren männlichen Jagdpartnern gleichberechtigt sind. So lässt sich auch verschmerzen, dass wenig auf andere Methoden der Nahrungsbeschaffung eingegangen wird, die je nach Region und Zeit variieren können und häufig zentraler Bestandteil der Subsistenz sind.
"Der weibliche Schamanismus – älter als der männliche?"
Neben einem Kapitel zur Kunst der Eiszeit und der Bedeutung von rotem Ocker, u. a. im Zusammenhang mit paläolithischen Bestattungen, wird der Idee der weiblichen Schamanin als zentrales Mitglied der Gesellschaft viel Raum gegeben. Es gäbe sogar Indizien, die zeigten, „[der] weibliche Schamanismus könnte durchaus älter sein, als der männliche“ (S. 177). Allerdings sind typisch weibliche Zuschreibungen wie Natürlichkeit und Naturverbundenheit sowie weiblicher Schamanismus, wie sie zum Teil im Buch dargestellt werden, auch Stereotype unserer Zeit. In der Archäologie werden dadurch oft herausragende weibliche Bestattungen als Schamaninnen interpretiert, während männliche Äquivalente meist mit politischer oder allumfassender Macht assoziiert werden. Das Bild der Schamanin stammt aus einer Zeit, in der man sich keine andere herausragende Position für eine Frau in der Gesellschaft vorstellen konnte – schon gar keine politische. Aus archäologischer Sicht ist die Frage, wer zuerst Schamanismus betrieb, aktuell nicht klar zu beantworten.
"Das biologische Geschlecht als Spektrum"
Im Kontext des Schamanismus erwähnt die Autorin außerdem eine Bestattung, welche bei der biologischen Geschlechtsbestimmung anhand der Knochen weder als eindeutig männlich noch weiblich zugeordnet werden konnte. Daher wird sie von Ulli Lust als nichtbinär interpretiert und mit Schamanismus in Verbindung gebracht (S. 183). Es kommt aber erstens relativ häufig vor, dass menschliche Skelette männliche und weibliche Attribute aufweisen (die Autorin führt selbst einige Beispiele von weiblichen Bestattungen an, die aufgrund einer kräftigen Statur lange als männlich interpretiert wurden). Und zweitens wird dabei übergangen, dass das biologische Geschlecht der bestatteten Person eindeutig männlich ist, denn DNA-Analysen der Knochen erbrachten dieses Ergebnis (Mittnik et al. 2016).
Tatsächlich muss an dieser Stelle zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht unterschieden werden. Der Knochenbau allein kann wenig über Gender (also das soziale Geschlecht) verraten, und Unsicherheiten bei der Geschlechtszuordnung sind nicht gleichbedeutend mit Nichtbinarität. Es zeigt sich dadurch vielmehr, dass auch das biologische Geschlecht als ein Spektrum zu begreifen ist. Generell ist Vorsicht geboten, nichtbinären Personen eine gesonderte kultische Rolle zuzuschreiben. Damit wird zwar anerkannt, dass die Vorstellung von Geschlecht in der Vorgeschichte nicht unbedingt binär war, allerdings impliziert es auch eine „Abweichung von der Norm“ – und wir können die Normen der Vorgeschichte nur erahnen.
"Eine feministische Deutung der Menschheitsgeschichte"
Ulli Lust schreibt ihr Buch aus weiblicher Perspektive. Sie verirrt sich dabei aber nicht in wissenschaftlich überholten Matriarchatstheorien, sondern schafft eine feministische Deutung der Menschheitsgeschichte auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie erzählt und bebildert sachlich, aber gleichzeitig mit Empathie und Witz. Durch ihre warmherzige Erzählweise und die künstlerische Gestaltung gelingt es der Autorin, eine spürbare Nähe zu den Menschen in der Vorgeschichte herzustellen. Sie bricht alte Narrative auf und erzeugt neue Räume für Debatten, auf die Interessierte und auch Archäolog*innen in Zukunft aufbauen können.
Zwar müssen einige Interpretationen zur Bedeutung der Frauenrolle im Paläolithikum und der Binaritäten kritisch hinterfragt werden, an der einen oder anderen Stelle fehlt eine kritische Einordnung der ethnologischen Beispiele und ein Bezug zu archäologischen Quellen, dennoch zeichnet die Autorin ein weitaus reflektierteres Bild vom Leben in der Vorgeschichte, als so manche Archäolog*innen.
Als Archäolog*innen und Kollektiv, das sich viel mit Geschlechterforschung in der Archäologie beschäftigt, wurden wir gebeten, eine Rezension aus fachlicher Sicht zu schreiben, um den Zugang zum Thema auch für fachlich anders Verortete zu erleichtern.
„Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“ von Ulli Lust ist im Februar 2025 bei Reprodukt erschienen und kostet 29 Euro.
Literatur
Anarchäologie (2022): Mehrgeschlechtliche Darstellungen im Paläolithikum (Teil II), in: blog Anarchäologie, 18.04.2022, www.anarchaeologie.de/2022/04/25/mehrgeschlechtliche-darstellungen-im-palaeolithikum-teil-ii/
Hahn, Marieluise (2025): Darstellungen von männlichen Geschlechtsmerkmalen in der altsteinzeitlichen Kunst, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 24.06.2025. https://doi.org/10.17185/gender/20250624
Mittnik, Alissa; Wang, Chuan-Chao; Svoboda, Jiří & Krause, Johannes (2016): A Molecular Approach to the Sexing of the Triple Burial at the Upper Paleolithic Site of Dolní Věstonice, PLoS ONE 11(10): e0163019. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0163019
Quelle:
https://www.gender-blog.de/beitrag/frau-als-mensch-lust
15.09.2025