Zum 70jährigen Jahrestag des Neutralitätsgesetzes gab es in den Medien einen massiven Überhang von neutralitätskritischen Artikeln und Kommentaren. Meines Erachtens ist sie hingegen ein Erfolgsmodell, das besser abgesichert werden sollte.
Die 1955 in Kraft getretene österreichische Neutralität ist eine bewaffnete Neutralität nach schweizerischem Vorbild. Mit der in der Verfassung verankerten Neutralität hat sich Österreich verpflichtet, nicht an Kriegen im Ausland teilzunehmen und auch keine teilnehmenden Kriegsparteien zu unterstützen. Das Haager Abkommen von 1907 sieht auch einen besonderen Schutz für neutrale Staaten vor: ein neutraler Staat darf nicht in bewaffnete Konflikte hineingezogen oder angegriffen werden, solange er seine Neutralität wahrt.
Wie hat nun das Konzept Neutralität in der Vergangenheit funktioniert? Die Schweiz ist seit 1815 neutral und wurde seitdem nie militärisch angegriffen. Belgien war von 1830 bis 1919 neutral, trotzdem hat Deutschland im 1. Weltkrieg Teile Belgiens besetzt. In der Folge ging Belgien ein Militärbündnis mit Frankreich ein und im 2. Weltkrieg hat Deutschland Belgien neuerlich besetzt. D.h. weder die Neutralität, noch Militärbündnisse bieten absolute Sicherheit.
Staaten werden angegriffen, wenn sie sich in ausländische Konflikte einmischen oder in einem größeren Konflikt mit dem angreifenden Staat stehen, diese Angriffsgründe entfallen infolge der Neutralität. Staaten werden aber auch angegriffen, wenn sie Ziel eines Eroberungsfeldzuges sind. Wenn Deutschland im Zweiten Weltkrieg als primäres Kriegsziel die Eroberung der Schweiz definiert hätte, dann hätte selbst die gut gerüstete Schweiz nur eine beschränkte Zeit lang der deutschen Übermacht standhalten können. Deutschland hatte aber primär andere Ziele, die Schweiz wäre für Deutschland nur ein sekundäres Ziel gewesen, z.B. hätte Deutschland die Schweiz sowie Belgien für einen Vorstoß in Richtung Frankreich nutzen können. Die Schweiz war aber besser gerüstet als Belgien und hatte starke Verteidigungsanlagen in den Alpen. Die Schweiz hatte Deutschland auch klar gemacht, dass man im Falle eines Angriffs den Gotthartpass sprengen würde, womit ein wichtiger Transportweg zum verbündeten Italien verloren gehen würde. Die Deutschen sind wohl zum Schluss gekommen, dass die Kosten und Risiken eines Angriffs auf die Schweiz deutlich höher als der Nutzen einer Besetzung gewesen wären.
Die gute Nachricht: Österreich ist heute ziemlich weit weg vom Schuss, denn Österreich ist von der Schweiz und NATO-Staaten umgeben. Während des kalten Krieges hingegen lag Österreich unmittelbar an der Front zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Im Falle einer Konfrontation zwischen den beiden Militärbündnissen hätte die Gefahr bestanden, dass Österreich so wie Belgien im Ersten und Zweiten Weltkrieg genutzt worden wäre, um einen Angriff auf den Hauptgegner auszuführen. Das österreichische Bundesheer hat in dieser Zeit die Strategie der Schweiz im Zweiten Weltkrieg kopiert und hat versucht, durch geeignete Verteidigungsanlagen den Preis für einen Vorstoß durch Österreich in die Höhe zu schrauben. Wir haben zum Glück nie erfahren, ob es funktioniert hätte. Getestet wurde die Österreichs bewaffnete Neutralität hingegen während des slowenischen Unabhängigkeitskrieges (1991). Im Zuge des Krieges kämpften slowenische und jugoslawische Streitkräfte auch nahe der österreichischen Grenze. Es bestand die Gefahr, dass die jugoslawische Armee Teile Kärntens besetzen würde, um die slowenischen Streitkräfte einzukesseln. Doch Österreich hat die Zähne gezeigt und seine Grenze mit massiven Kräften des österreichischen Bundesheeres gesichert, was wahrscheinlich wesentlich dazu beigetragen hat, dass Jugoslawien keinen Vorstoß auf österreichisches Gebiet gewagt hat.
Mit dem EU-Beitritt (1995) ist die Lage komplizierter geworden. Einerseits ist in der österreichischen Verfassung weiterhin die Neutralität verankert, aber andererseits ist EU mit dem 2009 in Kraft getretenen Lissabon-Vertrag der EU völkerrechtlich zu einem Militärbündnis geworden, da dieser Vertrag eine militärisch Beistandspflicht analog zu jener der NATO und eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik vorsieht. Die österreichische Regierung hätte diese Aushebelung der Neutralität still und leise abgenickt, im ebenfalls neutralen Irland hingegen war der Widerstand groß, deshalb hat man in den Lissabon-Vertrag die sogenannte irische Klausel eingebaut, die vorsieht, dass gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) den besonderen Charakter bestimmter Mitgliedstaaten nicht berühren darf. Diese Klausel kann so interpretiert werden, dass im Ernstfall die neutralen EU-Mitglieder Österreich und Irland von der militärischen Beistandspflicht ausgenommen wären. In der Praxis leisten Österreich und Irland der Ukraine zwar keine direkte militärische Hilfe, sie nehmen aber an den Russland-Sanktionen der EU teil und sie finanzieren über den Umweg der sogenannten Friedensfazilität der EU (ein Fonds zur Finanzierung militärischer Aktivitäten) sehr wohl die Kriegsanstrengungen der Ukraine.
Im Analysepapier „Risikobild 2032“ weißt das Bundesheer darauf hin, dass ein Widerspruch zwischen den Verpflichtungen gegenüber der EU und der Neutralität besteht und fordert die Regierung zu einer politischen Klärung auf - ein Bissl neutral sein, ist eben in etwa so realistisch wie in Bissl schwanger sein. Das Bundesheer nennt es Neutralitätsrisiko, ich nenne es EU-Risiko: durch die Teilnahme an der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik der EU, steigt die Gefahr in internationale Konflikte hineingezogen zu werden.
Ich will keine Panik verbreiten, Russland hat es in drei Jahren Krieg lediglich geschafft, circa 20 Prozent der Ukraine zu erobern, es ist sehr unwahrscheinlich, dass Russland in der Lage wäre die Ukraine und NATO-Staaten zu erobern, um bis nach Österreich vorzudringen. Es gibt auch gar keine Hinweise darauf, dass Russland überhaupt Interesse hätte in einen Konflikt mit der NATO eintreten, der Russland existenziell bedrohen könnte. Auch ist es fraglich, ob Russland eine Motivation hätte NATO-Staaten anzugreifen - man muss darauf hinweisen, dass die Wurzel des Ukraine-Konflikts ein ethnischer Konflikt in der Ostukraine ist, deren Bevölkerung zum Teil russischen ist. Die Ostukraine ist eine Art und Nordirland in groß.
Die Teilnahme an den Wirtschaftssanktion der EU hat Österreich jedenfalls massiv geschadet und eine Teilnahme am NATO-Mittel- und Langstrecken-Abwehrsystem SkyShield könnte Österreich zu einem Angriffsziel machen.
Die Neutralität wirkt also in der Form, dass sie die Wahrscheinlichkeit senkt, dass Österreich überhaupt in einen Konflikt hingezogen wird und mit einer konsequenten Neutralitätspolitik könnten wir uns die steigenden Kosten der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik der EU ersparen.
Wie könnte man nun den Widerspruch zwischen EU-Mitgliedschaft und Neutralität auflösen? Eine Möglichkeit wäre der EU-Austritt (Öxit), eine andere wäre ein sogenannter Optout aus der Sicherheits- und Außenpolitik der EU. „Optout“ ist ein EU-chinesischer Fachausdruck dafür, dass ein Mitgliedstaaten nur hinsichtlich eines bestimmten Politikbereichs aus der EU-Politik ausscheidet, d.h. in diesem Fall wäre Österreich weder gezwungen, an der Sicherheits- und Außenpolitik teilzunehmen, noch diese zu finanzieren, aber es könnte diesbezüglich auch nicht mehr mitreden und die anderen Mitgliedstaaten folglich auch nicht blockieren.