Gebt den deutschen Terroropfern ein Gesicht!

Nach dem Terrorangriff von Berlin bleiben die deutschen Todesopfer anonym. Dabei wäre eine öffentliche, persönliche Würdigung für die Verarbeitung des Ereignisses und den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft wichtig. Bei den Getöteten aus dem Ausland ist das anders. Warum?

Von Michael den Hoet [historix108]

Tausende Lichter und Blumen füllen die Fläche auf dem Breitscheidplatz, auf dem am Abend des 19. Dezember ein Terrorist aus Tunesien mit einem entführten LKW in den Weihnachtsmarkt hineinraste und 12 Menschen tötete. Unter einer polnischen Flagge hat jemand ein weiß-rotes Schild aufgestellt mit schwarzer Schleife und der Aufschrift „Für den erschossenen polnischen LKW-Fahrer.“ Darunter eine Notiz: „Lukasz Urban. Ein Held!!“ Schräg daneben steckt eine kleine Italien-Fahne in einer leeren Flasche. „Für Fabrizia“, steht darauf. Etwas weiter hinten die Flagge Israels und weitere Fähnchen der Länder, aus denen die ausländischen Opfer des Attentats kamen. Eine Deutschland-Flagge aber sucht man vergeblich – obwohl sieben der Getöteten Deutsche waren.

Über Lukasz Urban, den 37-jährigen Fahrer aus der Nähe von Szczecin (Stettin), hatte es zunächst geheißen, dass er während der Tat der dem radikalislamistischen Mörder seines enführten Lastwagens ins Lenkrad gegriffen und dadurch wahrscheinlich Menschenleben gerettet hätte. Inzwischen gilt diese Version des Tatablaufs nicht mehr als sicher. In mehreren Aufrufen wurden Spenden zugunsten seiner Witwe und seines Sohnes gesammelt, unter anderem von der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung.

Israelische Stellen gaben den Namen der 60 Jahre alten Daliya Eliakim bekannt, die gerade einen Glühwein trank, als der schwarze LKW sie totfuhr. Ihr Mann Rami überlebte schwer verletzt. Die ‚Berliner Morgenpost‘ berichtete über ihr Schicksal.

Die 31-jhrige Fabrizia Di Lorenzo aus Sulmona in den Abruzzen war 2013 nach Berlin gezogen und arbeitete für ein Logistikunternehmen. Gelegentlich schrieb sie für das italienischsprachige ‚Berlino Magazine‘. Als der Sarg mit ihrem Leichnam mit einem Militärflugzeug ihres Landes auf dem Flughafen Ciampino bei Rom landete, waren der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella und Verteidigungsministerin Roberta Pinotti zugegen. Ebenfalls für eine Logistikfirma tätig war die Tschechin Nada Cizmarova (+ 34), die in der deutschen Hauptstadt lebte und einen 5jährigen Sohn hinterlässt. Zudem starb ein Mann aus der Ukraine.

Doch was erfahren wir über die Deutschen, die auf dem Breitscheidplatz durch den Terrorakt starben? Das Innenministeriums in Potsdam verlautete, dass ein 32 Jahre alter Mann aus Brandenburg an der Havel und eine 53-jährige Frau aus dem Landkreis Dahme-Spreewald unter den Toten sind. Ansonsten verkündete das Bundeskriminalamt in Wiesbaden: „Abgesehen von den Nationalitäten will das BKA keine genaueren Angaben zu den Personen bekanntgeben.“

Merkwürdig: Während in anderen Ländern die Gesichter der Opfer gezeigt, ihre Namen genannt und über ihr Leben berichtet wird – um ihr Andenken nach dem zu frühen Tod lebendig zu halten – werden deutsche Terroropfer grundsätzlich anonymisiert. Ihre Identität bleibt im Dunkeln. Nur Familienangehörige, Freunde und Arbeitskollegen wissen, welche Lücke sie in ihrer Umgebung und in der Gesellschaft hinterlassen. Warum?

Vergessene deutsche Terroropfer

Istanbul, 12. Januar 2016: Bei einem Selbstmordattentat auf eine Touristengruppe sterben elf Deutsche. Das Verbrechen war Top-Thema in den Nachrichten. Doch wer diese Menschen waren, erfuhren wir nicht. Als wenige Tage später die Verstorbenen nach Deutschland geflogen wurden gab es bei ihrer Ankunft kein öffentliches Zeremoniell unter Beisein des Bundespräsidenten von mit deutscher Flagge umwickelten Särgen, keinen Staatsakt, keine Berichte in den Medien über die Lücken, die sie in ihrer Umgebung und in der Gesellschaft hinterlassen hätten. Entsprechend schnell verschwand diese Terrorattacke aus dem Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit.

Dies beklagte auch ein Bekannter auf Facebook. Als Kontrast dazu postete ich Bilder vom nationalen Trauertag in den Niederlanden nach dem MH17-Unglück, bei dem fast 200 Niederländer ums Leben gekommen waren: Millionen Menschen säumten damals die Straßen, als ein Konvoi von würdig geschmückten Leichenwagen 40 Särge niederländischer Opfer vom Militärflugplatz Eindhoven in die Gerichtsmedizin nach Hilversum brachte.

Kurz darauf meldete sich ein Angehöriger eines der Terroropfer von Istanbul: Die Diskussion täte ihm weh. Er schrieb mir, dass es der ausdrückliche Wunsch der Angehörigen war, dass die Ankunft der Särge in Deutschland einen stillen, pivaten Rahmen haben sollte – ohne Beteiligung neugieriger Medien. Die Deutsche Botschaft hätte geholfen, organisiert und die Überführung der Verstorbenen bezahlt. Diese Sichtweise ist zu respektieren. Man soll nichts und niemanden ungewollt zum Symbol erheben. Doch der kulturelle Unterschied fällt auf. Und eine Nebenwirkung der Anonymisierung ist eben auch: öffentliche Verdrängung.

„Deutsche Opfer fühlen sich allein gelassen“, berichtete das ARD-Politmagazin ‚Report‘ einige Monate nach dem Attentat. Hinterbliebene und Verletzte kämpften mit Bürokratie und Einsamkeit. Vor allem aber gab es keine Antworten auf die Fragen: Richtete sich der Terrorakt gezielt gegen Deutsche? Wer waren die Hintermänner? Die Bundesregierung übt bis heute aus Rücksicht auf die Türkei kaum Druck aus, um die Tat komplett aufzuklären. Von der Öffentlichkeit ist kaum Hilfe zu erwarten: Die Opfer sind bereits zu sehr in Vergessenheit geraten. Die politischen Unruhen der letzten Monate in der Türkei lassen vermuten, dass die Angehörigen mit den unbeantworteten Fragen werden leben müssen.

Mitgefühl – bestes Mittel gegen Angst und Abstumpfung

Frankreich macht es anders. Nach den radikalislamistischen Anschlägen gegen die Redaktion de Satiremagazns ‚Charlie Hebdo‘ und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 sowie der Terrornacht vom 13. November 2015 gab es Kundgebungen im ganzen Land. Millionen Bürger nahmen teil – und Anteil. Es war ein kraftvolles, öffentliches Bekenntnis der Zivilgesellschaft: Wir lassen uns nicht vom Terrorismus beugen! Wie man auf subtile, doch würdige Weise das Andenken an die zu früh Verstorbenen hochhält zeigt das Twitter-Projekt ‚En Mémoire‘ , das jedem der Opfer einen Tweet mit Bild widmet.

Und wie reagiert Deutschland? Der schnelle Übergang zur Tagesordnung irritiert. Richard Herzinger charakterisiert es in einem Kommentar in der ‚Welt‘ vom 24.12. wie folgt:

„Es ist schwer zu sagen, wie viel an dieser relativen Gelassenheit aus staatsbürgerlicher Abgeklärtheit und ziviler Aufgeklärtheit resultiert und wie viel davon Anzeichen beginnender Gewöhnung an den Schrecken, wenn nicht von schleichender Resignation ist.Denn eher leise Bekundungen der Anteilnahme und des Zusammenhalts der Bürger gibt es in Berlin und anderswo in Deutschland viele, nicht jedoch massenhafte Demonstrationen der Empörung, die den Terroristen ein trotziges Bekenntnis zur Freiheit und Menschlichkeit entgegenhalten, wie das etwa bei den Terrorattacken in Frankreich der Fall war. Über der durchaus bewunderungswürdig unaufgeregten Haltung der Bürger schwebt ein Hauch von Fatalismus.“

Schwere Verbrechen an Menschen, die namen- und gesichtslos bleiben, lösen Wut und Ohnmacht aus. Bilder der Opfer und Schilderungen ihrer Leben hingegen lassen uns mit trauern und wecken eine der besten Eigenschaften im Menschen: Mitgefühl.

Mitgefühl – nicht nur buddhistische Meister, auch westlich-moderne Psychologen empfehlen es als ein sehr gutes Mittel für den Umgang mit Angst, gegen Abstumpfung, Zorn und Verzagtheit. Mitgefühl – der empathische Wunsch nach Überwindung von Leid – ist die Kraft, die uns handeln lässt, wo Elend und Ungerechtigkeit wüten. Sie ermöglicht uns andere zu verstehen und ist zudem eine Voraussetzung um Verzeihen und Schwieriges im Leben hinter sich lassen zu können.

Die Toten mahnen zu Konsequenzen – was nun?

Unser aller Mitgefühl: Das ist auch, was die Opfer des Terroranschlags von Berlin sowie ihre Angehörigen jetzt und in Zukunft verdienen. Jeder der Getöteten hinterlässt ein Vermächtnis, das andere über den Tod hinaus inspirieren kann! Davon darf und sollte die Öffentlichkeit erfahren – ohne dass Berichte davon in Voyeurismus ausarten müssten. Soll ihr zu früher Tod nicht umsonst gewesen sein, so schulden ihnen unsere Staatsgewalten – Sicherheitsbehörden, Justiz und Politik – eine schonungslose Aufklärung der Terrortat, eine Bestrafung der Unterstützer des Attentäters und gegebenenfalls schmerzhafte politische Konsequenzen bei Behörden und Bundesregierung. Wird dies nur halbherzig verfolgt, dürfte indes der nächste Terroranschlag nur eine Frage der Zeit sein.

Doch ob der politische Wille zu wirksamen Konsequenzen vorhanden ist: Das muss leider bezweifelt werden. Es werden immer mehr peinliche Details aus der Kriminal- und Terrorkarriere des tunesischen Attentäters öffentlich (ich nenne bewusst seinen Namen nicht): Er war den Sicherheitbehörden bekannt, hätte längst abgeschoben werden sollen und war zeitweise wegen Terrorwarnungen observiert worden. Erklärungen, wonach man ihn nicht lückenlos hätte überwachen können, weil es ja noch andere „Gefährder“ gebe, um die man sich kümmern müsse, wecken nicht gerade Vertrauen. Nach wie vor wird das sehr offensichtliche Sicherheitsversagen der Regierung Merkel in den Monaten nach dem „Willkommenserlass“ vom 4. September 2015 kaum thematisiert: In den Strom hunderttausender Schutz Suchender mischte sich eine unbekannte Zahl an Kriminellen, Syrien-Kriegsverbrechern und potenziellen Terroristen, die wegen der völlig offenen Grenzen und des Registrierungschaos‘ bei der Einreise nach Deutschland nicht herausgefiltert wurden. Die Folgen für die Sicherheit bekommt die eigene Bevölkerung zu spüren. Wer übernimmt die politische Verantwortung dafür?

Wie die Nachrichtenagentur afp mitteilt, wird es im Deutschen Bundestag keine offizielle Gedenkveranstaltung für die Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche geben. Das Parlament befindet sich zurzeit in der Winterpause.

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