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Wir kennen das: Etwas passiert. Etwas passiert immer. Oder jemand sagt etwas. Oder tut etwas. Oder unterlässt etwas. Egal, Hauptsache, da draußen findet irgendein Phänomen statt, das über unsere Reizschwelle driftet. Und schon macht sich ein Gefühl breit. Mit Pauken und Trompeten.

Gefühle sind immer am Anfang. So sind wir eingerichtet, das hat seinen Sinn. Das hat sich schon in uralten Zeiten bewährt, als die Welt voller richtiger Gefahren war. Als es wichtig war, blitzschnell zu reagieren und eine Aktion auszulösen, die als Reiz-Reaktions-Antwort auf die Bedrohung sozusagen einprogrammiert war. Im Genom. Dort sind komplexe Muster abgelegt, die beim Überleben helfen.

Der Mungo und die Kobra … es ist ein blitzschneller Tanz, wenn die aufeinandertreffen. Da denkt niemand nach, was nun wohl als nächstes zu tun wäre. Das läuft, und wenn es nach der evolutionären Tradition verläuft, siegt der Mungo. Oder der Frosch am sonnigen Rand des Tümpels. Bewegt sich etwas Großes im Blickfeld: Hau ab! Bewegt sich etwas Kleines im Gesichtsfeld: Fang’s und friss!

Der Evolutionsbiologe Wolfgang Wieser stellt diesen ins Genom geschriebenen Programmen das Gehirn gegenüber, das gegenüber den Tausenden von Generationen, in denen das Genom sich strukturiert hat, vergleichsweise blutjung ist. Und weil es in der Lage ist, im Austausch mit seiner Umwelt etwas Anderes hervorzubringen als die Reiz-Reaktions-Schemata des Genoms, hat sich der homo sapiens zum Neandertaler weiterentwickelt und der zum heutigen Menschen des Jahres 2016. Größtenteils.

Der größere Teil der Hervorbringungen des Gehirns, so Wieser, ist autonome Leistung, für die es im Genom keine Anweisungen gibt. Wieser spricht von komplexen Wechselwirkungen und evolvierenden Regelkreisen, und wenn wir die Neurobiologin Tanja Singer dazu nehmen, die von transpersonal angelegten Strukturen im Gehirn spricht und darauf hinweist, dass die scheinbar autonome Aktivität unserer neuronalen Systeme eher mit Hilfe von sozialen Wechselwirkungen zu beschreiben wäre, als komplex interagierendes System in Systemen, dann sind wir dort, wo Fred Sinowatz strandete: „Es ist alles sehr kompliziert!“

Etwas passiert, und blitzschnell reagieren wir. Auf der Couch, vor dem Fernseher. Oder am Schreibtisch, am Computer. Das, was geschieht, passiert irgendwo, tangiert unsere Situation im Hier & Jetzt nicht im Geringsten. Wir hätten das Privileg der Unbetroffenen, in aller Ruhe und Gelassenheit damit umzugehen, Genom und Gehirn produktiv zu verschalten. Vielleicht tun wir das dann ja auch, später, sofern wir es gelernt haben, das zu tun. Aber zuerst einmal ist die schnelle Reaktion da, die eingeprägte. Wir reagieren nach den Mustern, die wir für solche Situationen gelernt und abgespeichert haben – je einfacher das Muster, desto schneller verfügbar. Mit dem nicht zu unterschätzenden Bonus, dass wir uns damit auf der sicheren Seite wähnen.

Ein paar solcher Muster rasch durch die Synapsen gejagt, und schon haben wir uns eine Meinung gebildet. Dagegen ist nichts zu sagen, überhaupt nichts. So reagiert der Mensch auf Input. Zuerst einmal. Diese rasch ausgebildete Meinung legt den Boden dafür, wie wir weiter verfahren. Und sie bildet das Gefühlskorsett aus, mit dem wir unsere Haltung gegenüber dem Wahrgenommenen begleiten.

Schnelle Gefühle und vertraute Muster sind – vor allem vor dem Fernseher und am PC – bewährte Mittel, um verunsicherndem Input entgegenzutreten. Man kommt damit rasch zu vertrauten Weltbildern und kann sich das Soletti wieder schmecken lassen. Und weil wir – siehe oben – unsere Gehirne gern auch sozial verankert wissen, behalten wir unsere schnellen Gefühle und vertrauten Muster nicht bei uns, sondern kommunizieren darüber. Gemeinsam zelebrierte Empörung ist doppelt so schön.

Auch das ist sehr in Ordnung – Menschen, die das nicht tun, die zur Verdrängung tendieren, die ihr Inneres verschweigen, laufen Gefahr, psychisch zu erkranken. Es muss raus …

Es kommt zu Prozessen, die ich, recht oberflächlich, hier einmal als sekundäre Verarbeitung beunruhigender Information bezeichnen möchte. Und manche Aspekte davon lassen sich auch als Meinungsbildung beschreiben. Es beginnt die kritische Prüfung der verfügbaren Sachverhalte. Welche Quellen berichten? Was mag es an ergänzender Information geben? Welche Interessen mögen mit der jeweiligen Information verbunden sein? In welcher Weise filtern und strukturieren meine eigenen Denkmuster die eintreffende Information? Was möchte ich gern für zutreffend halten, was lieber nicht?

Wenn solche Prozesse im Austausch mit anderen, nachdenklichen, kritischen Menschen stattfinden, können sie erheblichen Gewinn an angemessener, klug differenzierter Sicht auf die Dinge bringen. Dann kann ich, zum Beispiel, unterscheiden zwischen der Situation eines Menschen, der im Wohnzimmer eines wohlbestallten mitteleuropäischen Landes über die Situation von Flüchtlingen befindet, und der Situation eines Menschen, der sich in einem überfüllten Schlauchboot auf dem Mittelmeer an seine Hoffnungen klammert. Wie die Welt ist, wie ich sie sehe, hängt sehr davon ab, wie ich gerade in der Welt bin. Und ich kann für dort, wo ich bin, die Verantwortung übernehmen, wie ich hier bin.

Oder ich kann sie abschieben. Die Widerstände beginnen dort, wo ich spüre, verunsichernd spüre, dass eine kritische Informationsverarbeitung meine primären Verarbeitungsmuster in Frage stellen könnte, meine Vor-Urteile, meine klar konturierten Bilder von der Welt, meine Vor-Stellungen von richtig und falsch. Wenn die Widerstände gewinnen, wird Austausch, der zu Erkenntnisgewinn führt, nicht länger möglich. Es werden nur noch Dialogelemente zugelassen, die als Bestätigung wahrgenommen werden. Es bildet sich die Echokammer der Gleichgesinnten heraus, die in der Innenwirkung nichts Neues hervorzubringen vermag – und dieses Manko als Vorteil willkommen heißt, weil ohnedies das Neue als Bedrohung, als Verunsicherung erfahren wird. Umso gewichtiger werden die Muster und Symbole des Alten und Uralten.

Umgeben sind solche Echokammern von FeindInnen – dumm genug, das Wahre, Schöne und Gute nicht zu erkennen, hinterhältig genug, um diese Isolationskammern der Inzucht mit unlauteren Mitteln wie Meinungspluralität, Informationsvielfalt, kritischen Argumenten oder gar Wahlsiegen zu konfrontieren. Dagegen wehrt sich der Insasse der Echokammer mit den hinlänglich bekannten Mitteln.

Der kritisch prüfende, um eine halbwegs realitätskompatible Meinung bemühte Beobachter erlebt oft genug, dass der erste Gefühlsimpuls, die erste Einstellung durch das Einbeziehen weiterer Aspekte modifiziert, bisweilen auch glatt konterkariert wird … irren ist menschlich. Unklare, vorläufige Informationen sind dabei der Normalfall. Und öfter als ihm lieb ist muss er eingestehen, dass er zurzeit nicht wirklich etwas sagen kann zu einem Geschehen, über das er zu wenig weiß. Da bleiben dann nur die Primärreflexe, und es ist gut, die als solche wahrzunehmen. Sie zuzulassen, aber nicht auf ein Bier einzuladen.

So gratuliere ich allen, die bereits Minuten nach dem Attentat von Nizza mit großer Sicherheit behaupten konnten, dass der IS wieder einmal die westliche Welt mit seinem Terror getroffen und der Islam insgesamt seinem Ziel der Weltherrschaft nähergekommen sei. Ich beneide die Kommentatoren von Weltpresse und Bloggersphären um ihren spontanen Durchblick, was in der Türkei gelaufen ist, gerade abgeht und was daraus werden wird. Ich bewundere die markanten, holzschnittartigen Analysen der KennerInnen der Nation, die’s auf den Punkt bringen: Schwarz oder weiß. Linksgrün oder blau. Daham oder Islam.

Und ich trauere um Manfred Deix, der das alles so schön aufgezeichnet hat.

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